Kapitel 22

Eine Zeit für Dämonen

Ich lernte vieles in jenen ersten Monaten in Tarbean.

Ich lernte, welche Wirtshäuser und Restaurants das beste Essen fortwarfen, und wie verdorben Essen sein muss, damit man krank davon wird.

Ich lernte, dass der ummauerte Gebäudekomplex in Hafennähe der Tempel Tehlus war. Die Tehlaner teilten manchmal Brot aus und ließen uns Gebete sprechen, ehe wir uns einen Laib nehmen durften. Mir machte das nichts aus. Es war einfacher als zu betteln. Manchmal versuchten die graugewandeten Priester mich in die Kirche zu locken, damit ich dort meine Gebete sprach, aber ich hatte gewisse Gerüchte gehört und lief fort, wenn sie mich dazu einluden, ob ich mein Brot nun schon bekommen hatte oder nicht.

Ich lernte mich zu verstecken. Ich hatte ein geheimes Versteck über einer alten Gerberei, wo sich drei Dächer trafen, die Schutz vor Wind und Regen boten. Bens Buch versteckte ich, in Segeltuch eingeschlagen, unter den Dachsparren. Ich nahm es nur selten zur Hand, wie eine Reliquie. Es war der letzte Gegenstand, der mich mit meiner Vergangenheit verband, und ich hütete es wie meinen Augapfel.

Ich lernte, dass Tarbean riesengroß ist. Um das zu verstehen, muss man es selbst gesehen haben. Es ist wie mit dem Ozean. Ich könnte euch von den Wogen und dem Wasser berichten, aber eine Ahnung von seinen Ausmaßen bekommt ihr erst, wenn ihr einmal selbst an seinem Ufer steht. Man versteht den Ozean erst, wenn man mittendrin schwimmt, rings von Wasser umgeben, das sich bis in unermessliche Weiten erstreckt. Erst dann erkennt man, wie klein und machtlos man ist.

Tarbeans ungeheure Größe ist auch dem Umstand geschuldet, dass es aus tausend Teilen besteht, die jeweils einen eigenen Charakter haben. Downings, Drover Court, Wash, Middletown, Tallows, Tunning, Dockside, Tarway, Seamling Lane … Auch wenn man sein ganzes Leben in Tarbean verbrachte, war nicht gesagt, dass man alle Stadtteile kannte.

Aber praktisch gesehen bestand Tarbean aus zwei Teilen: Waterside und Hillside. In Waterside sind die Leute arm. Sie sind Bettler, Diebe und Huren. In Hillside sind die Leute reich. Sie sind Anwälte, Politiker und Kurtisanen.

Ich war zwei Monate in Tarbean, als mir zum ersten Mal in den Sinn kam, es mit dem Betteln in Hillside zu versuchen. Der Winter hatte die Stadt fest im Griff, und wegen der Wintersonnwendfeierlichkeiten waren die Straßen noch gefährlicher als ohnehin schon.

Das war für mich ein Schock. Mein ganzes junges Leben hindurch hatte unsere Truppe jedes Jahr für irgendeine Stadt das Fest der Wintersonnwende, das Julfest ausgerichtet. Mit Dämonenmasken verkleidet, versetzten wir die Leute sieben Tage lang zum allgemeinen Ergötzen in Angst und Schrecken. Mein Vater spielte den Encanis so überzeugend, dass man hätte meinen können, wir hätten ihn heraufbeschworen. Doch vor allem konnte er gleichzeitig Furcht einflößend und vorsichtig sein. Niemand kam je zu Schaden, wenn unsere Truppe das Fest ausrichtete.

In Tarbean aber sah das anders aus. Oh, der äußere Ablauf war der gleiche. Auch hier schlichen Männer mit grellbunten Dämonenmasken durch die Stadt und trieben Schabernack. Auch hier ging Encanis um, in der traditionellen schwarzen Maske. Und zweifellos – auch wenn ich ihn noch nicht gesehen hatte – schlich auch der silbern maskierte Tehlu durch die besseren Viertel der Stadt und spielte seine Rolle. Die äußeren Umstände glichen sich also.

Doch dann fingen die Unterschiede an. Zum einen war Tarbean zu groß, als dass eine Truppe allein dort genug Dämonen hätte aufbieten können. Hundert Truppen hätten nicht ausgereicht. Und daher wählten die Kirchen, statt Fachpersonal zu engagieren, wie es vernünftig gewesen wäre, den einträglicheren Weg, selbst Dämonenmasken zum Kauf anzubieten.

Und so wurden am ersten Tag des High Mourning zehntausend Dämonen auf die Stadt losgelassen. Zehntausend Amateur-Dämonen, mit der Erlaubnis, jeden Unfug zu treiben, der ihnen nur in den Sinn kam.

Das mag als ideale Situation für einen jungen Dieb erscheinen, doch das Gegenteil war der Fall. Denn während sich die Mehrheit der Dämonen anständig verhielt, das Weite suchte, wenn sie Tehlus Namen hörte, und den eigenen Teufeleien gewisse Grenzen setzte, taten einige das Gegenteil. In den ersten Tagen des High Mourning lebte man gefährlich, und die meiste Zeit verbrachte ich damit, Gefahren aus dem Weg zu gehen.

Doch als der Mittwinter näher rückte, entspannte sich die Lage. Die Zahl der Dämonen nahm beständig ab, da die Leute ihre Masken verloren hatten oder des Spiels überdrüssig wurden. Auch schaltete Tehlu sicherlich viele von ihnen aus, doch Silbermaske hin oder her – er war ganz auf sich allein gestellt. Er konnte sich in nur sieben Tagen nicht um ganz Tarbean kümmern.

Ich wählte den letzten Tag des High Mourning für meinen Ausflug nach Hillside. An Mittwinter herrschte stets gute Laune, und gute Laune verhieß ertragreiches Betteln. Zudem hatten sich die Reihen der Dämonen merklich gelichtet, und es war wieder einigermaßen ungefährlich, auf die Straße hinauszugehen.

Ich brach am frühen Nachmittag auf, hungrig, weil ich kein Brot zum Stehlen fand. Ich war aufgeregt, das weiß ich noch. Vielleicht erinnerte sich etwas in mir daran, wie die Wintersonnwendzeit mit meiner Familie immer gewesen war: warme Mahlzeiten und anschließend ein warmes Bett. Vielleicht ließ ich mich auch vom Duft der Tannenzweighaufen anstecken, die man zu Tehlus Ehren in Brand gesteckt hatte.

An diesem Tag erfuhr ich zweierlei. Ich erfuhr, warum die Bettler in Waterside blieben. Und ich erfuhr, dass – was auch immer einem die Kirche zu diesem Thema erzählen mag – die Zeit der Wintersonnwende durchaus eine Zeit für Dämonen ist.

Ich trat aus einer Gasse und war augenblicklich erstaunt, wie gänzlich anders die Atmosphäre in diesem Teil der Stadt war als in jenem, aus dem ich kam.

In Waterside beschwatzten die Händler ihre potentielle Kundschaft in der Hoffnung, sie in ihre Läden locken zu können. Schlug das fehl, so scheuten sie nicht davor zurück, die Leute zu verwünschen oder gar zu schikanieren.

Hier hingegen rangen die Ladenbesitzer nervös die Hände, verneigten sich, machten Kratzfüße und waren stets die Höflichkeit in Person. Niemand wurde hier laut oder ausfallend. Nach der brutalen Realität in Waterside kam ich mir vor, als hätte es mich auf einen Ball verschlagen. Jedermann trug Kleidung, die ordentlich und neu war. Alle waren frisch gewaschen und schienen an einem ausgeklügelten Gesellschaftstanz teilzunehmen.

Doch auch hier gab es dunkle Seiten. Als ich die Straße hinabsah, entdeckte ich zwei Männer, die in der Gasse gegenüber auf der Lauer lagen. Ihre Masken waren recht gut, blutrot und grimmig. Die eine hatte ein weit aufgerissenes Maul, und die andere war eine Fratze mit spitzen weißen Zähnen. Beide trugen sie den traditionellen schwarzen Kapuzenumhang, was ich zu schätzen wusste. In Waterside gab es kaum Dämonen, die sich um ein anständiges Kostüm scherten.

Die beiden Dämonen huschten hervor und folgten einem fein gekleideten Pärchen, das Arm in Arm die Straße hinabschlenderte. Sie pirschten sich heran, und dann entriss einer dem Mann den Hut und warf ihn auf eine Schneewehe. Der andere packte die Frau und hob sie empor. Sie kreischte, und der Mann rang derweil mit dem anderen Dämon um seinen Spazierstock, von der ganzen Situation offensichtlich aus dem Konzept gebracht.

Glücklicherweise wahrte seine Frau die Fassung. »Tehus! Tehus!«, rief sie. »Tehus antausa eha!«

Als sie Tehlus Namen hörten, duckten sich die beiden rot maskierten Gestalten ängstlich und liefen davon.

Allgemeiner Jubel. Ein Ladeninhaber half dem Mann, seines Huts wieder habhaft zu werden. Ich war erstaunt, wie zivilisiert das alles ablief. Offenbar waren in diesem Teil der Stadt sogar die Dämonen höflich.

Von dem soeben Gesehenen ermutigt, musterte ich die Passanten. Ich trat an eine junge Frau heran. Sie trug ein taubenblaues Kleid und einen weißen Pelzumhang. Langes, goldfarbenes Haar lockte sich kunstvoll rings um ihr Gesicht.

Als ich vortrat, sah sie zu mir hinab und blieb stehen. Ich hörte bestürztes Einatmen, und sie hielt sich eine Hand vor den Mund. »Ein bisschen Kleingeld, Ma’am?« Ich streckte die Hand aus und ließ sie ein wenig zittern. Auch meine Stimme bebte. »Bitte.« Ich gab mir alle Mühe, genauso klein und verzweifelt auszusehen, wie ich mich fühlte. Auf der dünnen Schneedecke trat ich von einem Fuß auf den anderen.

»Du armer Kleiner«, seufzte sie so leise, dass ich es kaum verstand. Sie nestelte an ihrer Handtasche herum, entweder nicht fähig oder nicht willens, den Blick von mir zu lösen. Dann holte sie etwas daraus hervor. Als sie meine Finger darum schloss, spürte ich das kühle, beruhigende Gewicht einer Münze.

»Vielen Dank, Ma’am«, sagte ich ganz automatisch. Ich blickte kurz hin und sah etwas Silbernes zwischen meinen Fingern glänzen. Ich öffnete die Hand und sah einen Silberpenny. Einen ganzen Silberpenny.

Ich starrte die Münze mit offenem Mund an. Ein Silberpenny war zehn Kupfer- oder fünfzig Eisenpennys wert. Dafür konnte man sich einen halben Monat lang allabendlich den Bauch vollschlagen. Für einen Eisenpenny durfte ich im Red Eye eine Nacht lang auf dem Fußboden schlafen, für zwei am Kamin. Und noch dazu konnte ich mir für mein Versteck auf den Dächern eine Decke kaufen, die mich den ganzen Winter warm halten würde.

Ich blickte zu der Frau empor, die mich immer noch mit mitleidsvollem Blick betrachtete. Sie konnte nicht wissen, was das für mich bedeutete. »Vielen, vielen Dank.« Mir versagte die Stimme. Und mir fiel eine Redensart ein, die wir bei der Truppe immer gebraucht hatten. »Tehlus Segen auf all Euren Wegen.«

Sie schenkte mir ein Lächeln und hätte jetzt wohl etwas gesagt, doch ich spürte ein merkwürdiges Gefühl im Nacken. Jemand beobachtete mich. Wenn man auf der Straße lebt, entwickelt man entweder einen siebten Sinn für gewisse Dinge, oder man nimmt ein schnelles und klägliches Ende.

Ich blickte mich um und sah einen Ladenbesitzer, der mit einem Wachmann sprach und dabei in meine Richtung deutete. Der Wachmann war von anderem Schrot und Korn als die in Waterside. Er war glatt rasiert und hielt sich aufrecht. Er trug einen schwarzen Lederwams und hielt einen armlangen Schlagstock in der Hand. Ich erhaschte ein paar Fetzen von dem, was der Händler sagte.

»… Kundschaft. Wer kauft denn noch Schokolade, wenn …« Er zeigte wieder in meine Richtung und sagte etwas, das ich nicht verstand. »… bezahlt euch denn schließlich? Ja, genau. Vielleicht sollte ich noch erwähnen …«

Der Wachmann drehte sich zu mir um. Er sah mir in die Augen. Ich machte kehrt und rannte davon.

Ich lief in die erstbeste Gasse. Mit meinen dünnen Schuhen rutschte ich immer wieder auf der feinen Schneeschicht aus. Als ich in eine zweite Gasse abbog, hörte ich hinter mir das Stampfen schwerer Stiefel.

Der Atem brannte mir in der Brust, und hektisch sah ich mich nach einem Versteck um. Doch ich kannte mich in diesem Teil der Stadt nicht aus. Hier türmten sich keine Abfallhaufen, in denen man sich hätte verbergen können, und hier standen auch keine ausgebrannten Ruinen, in die man hätte einsteigen können. Ich spürte eiskalte Kiesel durch eine meiner Schuhsohlen schneiden. Es tat höllisch weh, aber ich zwang mich weiterzulaufen.

Bei der dritten Abzweigung erwischte ich eine Sackgasse. Ich war schon halb eine Mauer hinaufgeklettert, als sich eine Hand um mein Fußgelenk schloss und mich zu Boden riss.

Ich schlug mit dem Kopf aufs Pflaster, und dann riss mich der Wachmann an den Haaren und einem Fußgelenk wieder hoch. »Ein kleiner Schlauberger, was?«, keuchte er, sein Atem warm auf meinem Gesicht. Er roch nach Leder und Schweiß. »Du bist doch wohl alt genug, um zu wissen, dass man nicht weglaufen sollte.« Er schüttelte mich wütend und zerrte mich an den Haaren. Ich schrie, und die Gasse schwankte.

Er knallte mich an die Mauer. »Und du müsstest eigentlich auch wissen, dass du nicht nach Hillside kommen solltest.« Er schüttelte mich. »Bist du blöde, Junge?«

»Nein«, sagte ich wie benommen und tastete mit der freien Hand an der Mauer entlang. »Nein.«

Meine Antwort machte ihn fuchsteufelswild. »Nein?«, brüllte er. »Du hast mich in Schwierigkeiten gebracht, Junge. Deinetwegen kriege ich vielleicht Ärger. Wenn du nicht blöde bist, muss dir mal einer dringend eine Lektion erteilen.« Er wirbelte mich herum und schleuderte mich zu Boden. Ich schlitterte durch den Schneematsch und stieß mir den Musikantenknochen, und mein ganzer Arm war wie gelähmt. Die Hand, die einen Monat Essen, warme Decken und trockene Schuhe umklammert hielt, öffnete sich. Etwas Wertvolles entglitt ihr und landete ohne zu klirren auf dem Boden.

Ich nahm das kaum wahr. Etwas sauste durch die Luft, und dann traf mich der Schlagstock am Bein. Der Wachmann fauchte mich an: »Komm nie wieder nach Hillside, verstanden?« Der Schlagstock traf mich erneut, diesmal quer über die Schulterblätter. »Alles jenseits der Fallow Street ist für euch kleine Hurensöhne Sperrgebiet. Verstanden?« Er schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht, mein Kopf knallte auf das schneebedeckte Pflaster, und ich schmeckte Blut.

Ich rollte mich zusammen, und er fauchte: »Und Mill Street und Mill Market, das ist mein Revier, und dahin – kommst – du – nie – wieder.« Bei jedem Wort verpasste er mir einen Hieb mit seinem Schlagstock. »Verstanden?«

Ich lag zitternd im Schnee und hoffte, es sei nun ausgestanden. Hoffte, er würde fortgehen. »Verstanden?« Er trat mir in den Bauch, und ich spürte, wie etwas in mir riss.

Ich schrie und muss wohl irgendetwas gestammelt haben. Als ich nicht aufstand, trat er mich noch einmal und ging schließlich fort.

Ich wurde wohl ohnmächtig oder lag benommen da. Als ich wieder zu mir kam, dämmerte schon der Abend. Durchgefroren bis auf die Knochen kroch ich in dem Schneematsch und dem feuchten Abfall herum und suchte mit Fingern, die vor Kälte so taub waren, dass sie sich kaum noch bewegen ließen, nach dem Silberpenny.

Eins meiner Augen war zugeschwollen, und ich hatte den Geschmack von Blut im Mund, aber ich suchte, bis das allerletzte Tageslicht verloschen war. Ja, selbst noch als es auf der Gasse schon stockfinster war, durchsiebte ich mit den Fingern den Schnee, obwohl ich im Grunde meines Herzens wusste, dass meine Finger viel zu taub waren, um die Münze zu bemerken, selbst wenn ich auf sie gestoßen wäre.

Dann zog ich mich an der Mauer hoch und ging los. Mein verletzter Fuß machte jegliches Vorankommen schwer. Bei jedem Schritt schossen mir Schmerzen das Bein hinauf, und ich stützte mich an der Mauer ab, um den Fuß möglichst wenig zu belasten.

Ich ging nach Waterside. Die Kälte ließ meinen Fuß zu einem fühllosen Klotz erstarren, und während das einem vernünftigen Teil von mir Sorgen bereitete, war meine pragmatische Seite nur froh, dass etwas an mir nicht mehr weh tat.

Noch meilenweit von meinem Versteck entfernt, kam ich humpelnd nur langsam voran. Irgendwann muss ich hingefallen sein. Ich erinnere mich nicht daran, aber ich weiß noch, dass ich im Schnee lag und das sehr behaglich fand. Ich spürte, dass sich der Schlaf wie eine dicke Decke über mich zog.

Ich schloss die Augen. Die Stille auf den menschenleeren Straßen rings um mich her ist mir in Erinnerung. Um Angst zu verspüren, war ich zu benommen und zu erschöpft. In meinem Delirium stellte ich mir den Tod als großen Vogel mit Schwingen aus Feuer und Schatten vor. Er schwebte über mir, schaute geduldig zu, wartete auf mich …

Während ich schlief, senkte der große Vogel seine brennenden Schwingen auf mich herab. Ich phantasierte eine wohlige Wärme. Und dann hieb er seine Krallen in mich, riss mir die …

Nein, das war nur der Schmerz von den gebrochenen Rippen, als mich jemand auf den Rücken drehte.

Als ich ein Auge aufschlug, sah ich verschwommen einen Dämon über mir stehen. Verwirrt und leichtgläubig, wie ich in diesem Moment war, rüttelte mich der Anblick eines Mannes mit einer Dämonenmaske vor dem Gesicht wach, und die verführerische Wärme, die ich eben noch verspürt hatte, verschwand und ließ meinen Körper schlaff und bleiern zurück.

»Hab ich’s dir doch gesagt. Hier liegt ein Kind im Schnee!« Der Dämon half mir hoch.

Nun hellwach, sah ich, dass seine Maske schwarz war. Er war Encanis, der Herr der Dämonen. Er setzte mich auf den Füßen ab und begann den Schnee fortzuwischen, der mich bedeckte.

Mit meinem unverletzten Auge sah ich eine Gestalt mit fahlgrüner Maske in der Nähe stehen. »Komm weiter …«, sagte die Frauenstimme des anderen Dämons eindringlich.

Encanis beachtete sie nicht. »Alles in Ordnung mit dir?«

Mir fiel keine Antwort darauf ein, und so konzentrierte ich mich darauf, das Gleichgewicht zu wahren, während mir der Mann mit dem Ärmel seines dunklen Umhangs den Schnee abwischte. In der Ferne hörte ich Hornsignale.

Der andere Dämon blickte die Straße hinab. »Sie haben uns schon fast eingeholt«, zischte die Frau nervös.

Encanis strich mir mit seinen dunkel behandschuhten Fingern den Schnee aus dem Haar, hielt dann inne und blickte mir durch seine dunkle Maske ins Gesicht.

»Herrgott, Holly, jemand hat dieses Kind windelweich geprügelt. Und das an Mittwinter.«

»Wache«, gelang es mir zu krächzen. Dabei schmeckte ich wieder Blut.

»Du musst doch völlig durchgefroren sein«, sagte Encanis und begann mir die Arme und Beine warmzureiben. »Du musst mit uns kommen.«

Wieder waren da die Hornsignale, diesmal näher. Nun hörte man auch eine sich nähernde Menschenmenge.

»Sei nicht töricht«, sagte der andere Dämon. »Er ist doch gar nicht in der Verfassung, in der Stadt herumzulaufen.«

»Er ist auch nicht in der Verfassung hierzubleiben«, entgegnete Encanis in scharfem Ton. Er rieb mir weiterhin Arme und Beine. Ganz langsam kehrte Leben in meine Gliedmaßen zurück, und ich spürte eine stechende, prickelnde Hitze, die wie eine schmerzhafte Verhöhnung der wohltuenden Wärme war, die ich noch eine Minute zuvor empfunden hatte, als ich beinahe eingeschlafen wäre. Jedes Mal, wenn er eine meiner Prellungen berührte, durchfuhr mich ein stechender Schmerz, aber mein Leib war zu erschöpft, um noch zusammenzuzucken.

Der Dämon mit der grünen Maske kam zu uns und legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. »Wir müssen jetzt weiter, Gerrek! Es wird sich schon irgend jemand um ihn kümmern.« Sie versuchte ihn mit sich fortzuziehen, aber es gelang ihr nicht. »Wenn sie uns hier mit ihm finden, werden sie glauben, dass wir das waren.«

Der Mann mit der schwarzen Maske fluchte, nickte dann und tastete unter seinem Umhang herum. »Nicht wieder hinlegen«, schärfte er mir ein. »Und geh irgendwo rein. Irgendwo, wo du dich aufwärmen kannst.« Das Getöse der Menschenmenge war nun schon so nahe, dass ich aus dem Hufgetrappel und dem Knarren der Holzräder einzelne Stimmen heraushörte. Der Mann mit der schwarzen Maske streckte mir eine Hand entgegen.

Es dauerte einen Moment, bis ich scharf sah, was er da in der Hand hielt. Ein Silbertalent, dicker und schwerer als der Penny, den ich verloren hatte. So viel Geld, dass es fast über meine Begriffe ging. »Los, nimm.«

Er war eine Gestalt der Dunkelheit: Schwarzer Kapuzenumhang, schwarze Maske, schwarze Handschuhe. Encanis stand vor mir und hielt mir ein Stück Silber hin, das im Mondschein glänzte. Es erinnerte mich an eine Szene aus Daeonica, in der Tarsus seine Seele verkauft.

Ich nahm das Talent, aber meine Hand war so taub, dass ich es nicht spürte. Ich musste hinsehen, um sicherzugehen, dass meine Finger die Münze ergriffen hatten. Ich bildete mir ein, dass ich eine Wärme spürte, die in meinem Arm aufstieg, und dass ich mich stärker fühlte. Ich lächelte den maskierten Mann an.

»Nimm auch meine Handschuhe.« Er riss sie sich von den Fingern und hielt sie mir vor die Brust. Dann zerrte die Frau mit der grünen Maske meinen Wohltäter mit sich fort, ehe ich ihm auch nur mit wenigen Worten danken konnte. Ich sah den beiden nach. Mit ihren dunklen Umhängen wirkten sie vor der kohlengrauen Kulisse der mondbeschienenen Straßen Tarbeans wie huschende Schatten.

Keine Minute später sah ich den Festumzug um die Ecke biegen und auf mich zukommen. Die Stimmen Hunderter Männer und Frauen brandeten singend und rufend über mich hinweg. Ich wich zurück, mit dem Rücken eine Mauer entlang, und dann auf schwachen Beinen seitwärts, bis ich die Nische eines Hauseingangs fand.

Von dort aus sah ich den Festumzug vorüberziehen. Menschen strömten unter Rufen und Gelächter vorüber. Tehlu stand stolz auf einem von vier Schimmeln gezogenen Wagen. Seine Silbermaske leuchtete im Fackelschein. Sein weißes Gewand, an den Manschetten und am Kragen mit Fell gesäumt, war makellos rein. Graugewandete Priester gingen Glocken läutend und psalmodierend neben dem Wagen einher. Viele von ihnen trugen die schweren Eisenketten des Büßergewands. Der Klang der Stimmen, Glocken und Ketten verschmolz zu einer einzigen Musik. Aller Augen waren auf Tehlu gerichtet. Niemand sah mich in dem dunklen Hauseingang stehen.

Es dauerte fast zehn Minuten, bis sie alle vorübergezogen waren, und erst dann trat ich vorsichtig den Heimweg an. Ich kam nur langsam voran, fühlte mich aber dank der Münze in meiner Hand gestärkt. Alle zehn, fünfzehn Schritte sah ich mir das Talent an, um mich zu vergewissern, dass meine fühllose Hand es noch fest umschloss. Ich hätte gern die Handschuhe angezogen, die ich geschenkt bekommen hatte, fürchtete aber, die Münze dann versehentlich fallenzulassen und im Schnee zu verlieren.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich für den Heimweg brauchte. Das Gehen wärmte mich ein wenig, aber meine Füße waren immer noch wie betäubt. Als ich mich umblickte, sah ich, dass meine Spur in jedem zweiten Fußabdruck von Blutflecken markiert war. Das beruhigte mich auf seltsame Weise. Immer noch lieber ein Fuß, der blutet, als einer, der steifgefroren ist.

Ich hielt beim ersten Wirtshaus, das ich kannte, dem Lachenden Mann. Dort spielte Musik, es wurde gesungen und gefeiert. Ich mied den Haupteingang und ging hinten herum. Zwei Mädchen schwatzten an der Küchentür, wo sie sich vor ihrer Arbeit drückten.

Ich humpelte zu ihnen, stützte mich dabei an der Mauer ab. Sie bemerkten mich erst, als ich fast schon bei ihnen war. Als die Jüngere mich sah, stockte ihr der Atem.

Ich trat noch einen Schritt näher. »Könnte eine von euch mir etwas zu essen und eine Decke bringen? Ich kann bezahlen.« Ich streckte ihnen die Hand entgegen und sah erschrocken, wie heftig sie zitterte. Sie war mit Blut befleckt, weil ich damit meine Schläfe berührt hatte. Meine Mundhöhle fühlte sich wund an. Das Sprechen bereitete mir Schmerzen. »Bitte!«

Sie sahen mich einen Moment lang verblüfft an. Dann tauschten sie einen Blick, und die Ältere schickte die Jüngere mit einer Handbewegung hinein. Das ältere Mädchen, das vielleicht sechzehn Jahre alt war, kam näher und streckte eine Hand aus.

Ich gab ihr die Münze. Sie warf einen Blick darauf, und nachdem sie mich noch einmal gemustert hatte, verschwand sie im Wirtshaus.

Durch die offenstehende Tür drang die Geräuschkulisse aus dem Schankraum zu mir: das Gemurmel der Gespräche, unterbrochen von Gelächter, Flaschengeklimper und dem Klappern der Holzkrüge.

Und im Hintergrund erklang eine Laute, fast vom übrigen Lärm übertönt, aber ich hörte es dennoch, hörte es, wie eine Mutter ihr Kind auch noch ein Dutzend Zimmer entfernt schreien hört. Die Musik beschwor Erinnerungen an Familie, Freundschaft, Zugehörigkeit herauf. Es ging mir durch und durch. Für einen Moment taten mir die Hände nicht mehr von der Kälte weh und sehnten sich vielmehr nach dem vertrauten Gefühl, dass Musik sie durchströmte.

Langsam wich ich, indem ich mich an der Mauer abstützte, so weit von der Küchentür zurück, bis die Musik nicht mehr zu mir drang. Dann ging ich noch einen Schritt weiter, und die Hände schmerzten mir wieder vor Kälte, und der Schmerz in meiner Brust rührte weiter von meinen gebrochenen Rippen her. Das waren Schmerzen, die leichter zu ertragen waren als die Erinnerung der Musik.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis die beiden Mädchen wiederkamen. Die Jüngere hielt mir eine Decke hin, in die irgendetwas eingewickelt war. Ich hielt sie mir vor die schmerzende Brust. Sie wirkte für ihre Größe unverhältnismäßig schwer, doch da meine Arme schon ein wenig unter der eigenen Last zitterten, war das schwierig zu beurteilen. Das ältere Mädchen gab mir einen kleinen Geldbeutel. Ich umklammerte ihn so fest, dass mir die verfrorenen Finger wehtaten.

Sie sah mich an. »Wenn du willst, kannst du dich ein wenig am Ofen aufwärmen.«

Das jüngere Mädchen nickte beflissen. »Nattie hat bestimmt nichts dagegen.« Sie trat einen Schritt auf mich zu und wollte mich beim Arm nehmen.

Ich riss den Arm zurück und wäre dabei fast umgekippt. »Nein!« Ich wollte schreien, doch es kam nur ein mattes Krächzen. »Fass mich nicht an.« Mir bebte die Stimme, aber ich hätte nicht sagen können, ob vor Ärger oder Angst. Ich strauchelte an der Mauer entlang fort. »Ich komme schon klar.«

Das jüngere Mädchen brach in Tränen aus.

»Ich habe einen Ort, wo ich hin kann.« Meine Stimme versagte, und ich wandte mich ab. Ich ging so schnell ich konnte davon. Ich wusste nicht, wovor ich weglief, es sei denn vor den Menschen im Allgemeinen. Das war auch so eine Lektion, die ich vielleicht allzu gut gelernt hatte: Menschen bereiteten Schmerzen. Hinter mir hörte ich gedämpfte Schluchzer. Es schien sehr lange zu dauern, bis ich bei der nächsten Ecke ankam.

Ich schaffte es bis zu meinem Versteck, wo sich die Dächer zweier Häuser unter dem Überhang eines dritten Dachs trafen. Ich weiß nicht, wie es mir gelang, hinaufzuklettern.

In der Decke befand sich eine Flasche Wein, ein frischgebackenes Brot und eine ganze gebratene Putenbrust, größer als meine beiden Fäuste. Ich wickelte mich in die Decke und schützte mich vor dem Wind, während der Schnee in Schneeregen überging. Die Ziegelsteine des Schornsteins in meinem Rücken waren wohlig warm.

Beim ersten Schluck Wein brannte mein Mund an den verletzten Stellen wie Feuer. Beim zweiten war es schon gar nicht mehr so schlimm. Das Brot war weich und die Putenbrust noch warm.

Ich erwachte um Mitternacht, als die Glocken der Stadt zu läuten begannen. Die Leute liefen johlend auf die Straßen. Die sieben Tage des High Mourning lagen hinter uns. Die Wintersonnwende war vorüber. Ein neues Jahr hatte begonnen.

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