Kapitel 3

Das Holz und das Wort

Kote blätterte gedankenverloren in einem Buch und bemühte sich, die Stille in dem leeren Wirtshaus nicht zu beachten, als die Tür aufging und Graham rückwärts in den Schankraum kam.

»Bin gerade damit fertig geworden.« Graham ging übertrieben vorsichtig zwischen den Tischen hindurch. »Ich wollte es eigentlich gestern Abend schon vorbeibringen, aber dann dachte ich mir: Noch eine letzte Schicht Öl einreiben und trocknen lassen. Kann nicht behaupten, dass ich’s bereue. Meiner Treu! Es ist so schön wie nur irgendetwas, das diese Hände je erschaffen haben.«

Zwischen den Augenbrauen des Wirts bildete sich eine Falte. Als er das flache, in ein Tuch eingeschlagene Paket in Grahams Händen sah, hellte sich sein Miene wieder auf. »Ah! Die Wandhalterung!« Kote lächelte müde. »Entschuldige bitte, Graham. Es ist schon so lange her. Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht.«

Graham blickte ihn ein wenig befremdet an. »Vier Monate ist doch nicht lange, wenn man bedenkt, dass das Holz ganz aus Aryen geliefert wurde und die Straßen so unsicher sind.«

»Vier Monate«, echote Kote. Er sah, dass Graham ihn beobachtete, und fügte schnell hinzu: »Das kann einem vorkommen wie ein ganzes Leben, wenn man auf etwas wartet.« Er versuchte ein beruhigendes Lächeln aufzusetzen, aber es wirkte eher matt.

Ja, Kote machte überhaupt einen recht matten Eindruck. Nicht direkt ungesund, aber angeschlagen. Wie eine Pflanze, die man in den falschen Boden umgesetzt hatte und die nun, da ihr etwas Entscheidendes fehlte, zu welken begann.

Graham bemerkte die Veränderung. Die Gebärden des Wirts waren nicht mehr so überschwenglich. Seine Stimme klang nicht mehr so tief. Selbst seine Augen waren nicht mehr so strahlend wie noch vor einem Monat. Ihre Farbe wirkte matter. Sie erinnerten nicht mehr an Meeresgischt und grünes Gras, eher an Seetang oder grüne Flaschenböden. Und sein Haar, das früher flammend rot gewesen war, war nun nur noch – rot. Ganz gewöhnliches rotes Haar.

Kote lüpfte das Tuch und sah hinein. Das Holz war dunkelkohlengrau mit schwarzer Maserung und so schwer wie Eisenblech. Über einem eingravierten Wort waren drei dunkle Haken angebracht.

»Torheit«, las Graham. »Seltsamer Name für ein Schwert.«

Kote nickte mit bewusst ausdrucksloser Miene. »Was bin ich dir schuldig?«, fragte er.

Graham überlegte einen Moment lang. »Nach dem, was du mir für das Holz schon bezahlt hast …« Eine gewisse Gerissenheit leuchtete in seinem Blick auf. »So um die eins drei.«

Kote gab ihm zwei Talente. »Stimmt so. Das ist schwierig zu verarbeitendes Holz.«

»Allerdings«, sagte Graham mit einiger Genugtuung. »Als hätte man Stein unter der Säge. Und dann wollte es sich erst auf Biegen und Brechen nicht schwärzen lassen.«

»Das ist mir schon aufgefallen«, sagte Kote, eine Spur neugierig, und fuhr mit einem Finger über die dunklen Rillen der Lettern im Holz. »Wie hast du das hinbekommen?«

»Nun ja«, sagte Graham ein wenig selbstgefällig. »Nachdem ich einen halben Tag darauf vergeudet hatte, bin ich rüber zur Schmiede damit. Da haben der Junge und ich es dann geschafft, es mit einem heißen Eisen einzubrennen. Wir haben über zwei Stunden gebraucht, bis es schwarz war. Nicht das kleinste Rauchfähnchen, aber es hat nach altem Leder gerochen und nach Klee. So ein verdammtes Ding. Was ist das denn für Holz, das überhaupt nicht brennt?«

Graham wartete eine ganze Weile, aber der Wirt ließ nicht erkennen, dass er die Frage gehört hatte. »Wo soll ich es denn nun hinhängen?«

Kote raffte sich dazu auf, sich im Raum umzusehen. »Das kannst du mir überlassen. Ich habe mir noch nicht überlegt, wohin es soll.«

Graham ließ eine Handvoll Eisennägel da und wünschte dem Wirt noch einen schönen Tag. Kote blieb am Tresen stehen, fuhr mit den Händen gedankenverloren über das Holz und das Wort. Bald kam Bast aus der Küche und schaute seinem Lehrer über die Schulter.

Sie schwiegen lange, wie in stiller Ehrerbietung vor den Toten.

Schließlich ergriff Bast das Wort. »Darf ich dir eine Frage stellen, Reshi?«

Kote lächelte gütig. »Aber immer doch, Bast.«

»Eine schwierige Frage?«

»Das sind gemeinhin die einzigen, die es wert sind, dass man sich mit ihnen befasst.«

Sie sahen noch einen Moment lang schweigend den Gegenstand auf dem Tresen an, als versuchten sie es sich einzuprägen. Torheit.

Bast rang offenbar nach Worten. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder mit frustrierter Miene.

»Heraus damit«, sagte Kote schließlich.

»Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte Bast mit einer merkwürdigen Mischung aus Verwirrung und Besorgnis.

Kote ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ich neige dazu, viel zu viel zu denken, Bast. Meine größten Erfolge verdanke ich Entscheidungen, die ich traf, als ich mal aufhörte zu denken und einfach tat, was mir gefühlsmäßig als das Richtige erschien. Selbst wenn es für das, was ich tat, keine gute Rechtfertigung gab.« Er lächelte wehmütig. »Selbst wenn es sehr gute Gründe gab, das, was ich tat, nicht zu tun.«

Bast fuhr sich mit der Hand über die Wange. »Du möchtest es also möglichst vermeiden, die Motive deines Handels zu ergründen?«

Kote zögerte. »So könnte man es sagen«, gestand er.

»Ich könnte es so sagen, Reshi«, sagte Bast. »Du würdest wieder nur alles unnötig komplizieren.«

Kote zuckte die Achseln und sah wieder zu der Wandhalterung hinüber. »Jetzt muss ich nur noch einen guten Platz dafür finden.«

»Hier im Saal?« Bast blickte entsetzt.

Kote grinste verschmitzt, und eine gewisse Vitalität strömte in sein Gesicht zurück. »Selbstverständlich«, sagte er und schien Basts Reaktion zu genießen. Er sah sich an den Wänden um und schürzte die Lippen. »Wo hast du es denn überhaupt hingetan?«

»In mein Zimmer«, gestand Bast. »Unter mein Bett.«

Kote nickte und sah sich weiter an den Wänden um. »Dann hol es mal her.« Er machte eine fortscheuchende Handbewegung, und Bast eilte unfrohen Blicks davon.

Den Tresen schmückten funkelnde Flaschen, und Kote stand auf dem nun leergeräumten Büfett zwischen den beiden mächtigen Eichenfässern, als Bast wieder hereinkam, mit einer Hand eine schwarze Schwertscheide schlenkernd.

Kote, der die Wandhalterung über einem der Fässer ausrichtete, hielt inne und rief bestürzt: »Vorsicht, Bast! Du trägst da eine Dame! Das ist nicht irgendeine Magd, die du beim Tanz herumwirbeln kannst!«

Bast blieb stehen und nahm das Schwert pflichtbewusst in beide Hände, ehe er weiter zum Tresen ging.

Kote schlug zwei Nägel in die Wand, bog etwas Draht zurecht und hängte die Wandhalterung auf. »Reichst du es mir bitte hoch?«, bat er mit seltsamem Stocken in der Stimme.

Bast hob es mit beiden Händen zu ihm hoch und wirkte dabei für einen Moment wie ein Knappe, der einem Ritter in glänzender Rüstung ein Schwert überreicht. Aber hier war kein Ritter, hier war nur ein Gastwirt, nur ein Mann, der eine Schürze trug und sich Kote nannte. Er nahm das Schwert und stand dann damit aufrecht auf dem Büfett hinter dem Tresen.

Er zog das Schwert langsam aus der Scheide. Im Herbstlicht des Schankraums glänzte es matt grauweiß. Es sah aus wie neu. Es hatte weder Kerben noch Roststellen. Und auch keine hellen Schrammen zogen sich an seiner mattgrauen Klinge entlang. Doch obschon es unbeschädigt war, war es alt. Und obwohl es offensichtlich ein Schwert war, hatte es doch keine vertraute Gestalt. Zumindest wäre es in diesem Dorf niemandem vertraut vorgekommen. Es sah aus, als hätte ein Alchemist ein Dutzend Schwerter destilliert, und als der Tiegel dann abgekühlt war, lag das auf seinem Grund: ein Schwert in seiner reinsten Form. Es war schlank und geschmeidig. Es war so tödlich wie ein scharfer Stein in einem reißenden Strom.

Kote hielt es einen Moment lang. Seine Hand zitterte nicht.

Dann legte er das Schwert auf die Wandhalterung. Das grauweiße Metall zeichnete sich hell vor dem dunklen Roah-Holz ab. Der Griff war zwar noch zu erkennen, doch war er so dunkel, dass er sich kaum von dem Holz abhob. Das Wort darunter, schwarz auf dunkelgrau, schien zu tadeln: Torheit.

Kote stieg herab, und einen Moment lang standen Bast und er Seite an Seite und sahen schweigend hinauf.

Bast brach das Schweigen. »Es ist wirklich eindrucksvoll«, sagte er, als bedauere er diese offenkundige Tatsache. »Aber …« Er verstummte, suchte nach den passenden Worten. Er schauderte.

Kote klopfte ihm seltsam vergnügt auf den Rücken. »Mach dir mal meinetwegen keine Sorgen.« Er wirkte jetzt lebhafter, so als hätte ihm diese Tat Kraft gegeben. »Mir gefällt’s«, sagte er mit einem Mal überzeugt und hängte die schwarze Scheide an einen Haken der Halterung.

Nun gab es viel zu tun. Flaschen mussten poliert und zurück an ihren Platz gestellt werden. Das Mittagessen wollte zubereitet werden. Dann war der Abwasch an der Reihe. Eine Zeitlang ging es heiter zu, auf eine angenehme, geschäftige Art und Weise. Die beiden plauderten bei der Arbeit über Kleinigkeiten. Zwar gingen sie viel hin und her, aber es war offensichtlich, dass es ihnen widerstrebte, das fertig zu stellen, was sie schon beinahe erledigt hatten, so als fürchteten sie den Augenblick, wenn die Arbeit getan und der Raum wieder von Stille erfüllt war.

Etwas Erstaunliches geschah. Die Tür ging auf, und Lärm strömte ins Wirtshaus. Leute eilten herein, redeten und luden Gepäck ab. Sie suchten sich Tische aus und warfen die Mäntel über Stuhllehnen. Ein Mann in einem Kettenhemd schnallte sein Schwert ab und stellte es an eine Wand. Zwei oder drei Männer trugen Dolche am Gürtel. Vier oder fünf andere bestellten lautstark etwas zu trinken.

Kote und Bast sahen dem ganzen Treiben einen Moment lang zu und machten sich dann an die Arbeit. Kote schenkte lächelnd Getränke aus. Bast eilte nach draußen, um nachzusehen, ob Pferde in den Stall gebracht werden mussten.

Zehn Minuten später war das Wirtshaus buchstäblich nicht mehr wiederzuerkennen. Münzen klimperten über den Tresen. Käse- und Obstplatten wurden aufgetragen, und in der Küche hing nun ein großer Kupferkessel über dem Herd und wurde zum Köcheln gebracht. Männer verschoben Tische und Stühle, damit die fast ein Dutzend Personen umfassende Gruppe besser beisammensitzen konnte.

Kote hatte sie schon registriert, als sie hereinkamen. Zwei Männer und zwei Frauen, Fuhrleute, wettergegerbt und froh, mal einen Abend aus dem Wind herauszukommen. Drei grimmig dreinblickende Wachen, die nach Eisen rochen. Ein schmerbäuchiger Kessler, dessen munteres Lächeln seine wenigen verbliebenen Zähne entblößte. Zwei junge Männer, einer rotblond, der andere dunkelhaarig, gut gekleidet und höflich: Reisende, die so vernünftig waren, sich zum eigenen Schutz unterwegs einer größeren Gruppe anzuschließen.

Der Bezug der Gasträume dauerte ein, zwei Stunden. Es wurde um Zimmerpreise gefeilscht. Über die Frage, wer mit wem das Bett teilen sollte, wurde freundschaftlich gestritten. Aus den Wagen und Satteltaschen brachte man das Nötigste herein. Bäder wurden bestellt und Wasser erhitzt. Die Pferde wurden mit Heu versorgt, und Kote füllte sämtliche Öllampen auf.

Der Kessler eilte hinaus, um das letzte Tageslicht zu nutzen. Er zog mit seinem zweirädrigen Maultierkarren durch den Ort. Kinder umringten ihn, bettelten um Süßigkeiten, Geschichten und Kleingeld.

Als klar wurde, dass bei ihm nichts dergleichen zu holen war, verloren die meisten das Interesse. Sie bildeten rings um einen Jungen einen Kreis und begannen zum Rhythmus eines Kinderliedes zu klatschen, das schon uralt gewesen war, als ihre Großeltern es in ihrem Alter gesungen hatten:

Nimmt das Feuer Blauton an,

Oh, was dann? Oh, was dann?

Aus dem Haus. Schnell hinaus.

Lachend versuchte der Junge aus dem Kreis auszubrechen, und die anderen Kinder schubsten ihn zurück.

»Der Kessler!«, erklang die Stimme des alten Mannes glockengleich. »Kesselflicker, Scherenschleifer, Wünschelrutengänger. Flaschenkorken, Mutterlaub. Allerfeinste Seidentücher, Schreibpapiere, Süßigkeiten.«

Damit zog er die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich. Sie strömten zu ihm zurück und bildeten eine kleine Formation, während er die Straße hinabging und sang: »Gürtelleder, Schwarzer Pfeffer, feine Spitze, bunte Federn. Der Kessler ist heut’ im Ort und morgen wieder fort. Er wirket noch im Abendlicht. Kommt, ihr Frauen, kommt, ihr Töchter, Tücher hat’s und Rosenwasser.« Bald darauf ließ er sich vor dem Wirtshaus nieder, baute seinen Schleifstein auf und begann ein Messer zu schärfen.

Während sich die Erwachsenen um den alten Mann scharten, widmeten sich die Kinder wieder ihren Spielen. Das Mädchen, das sich nun in dem Kreis befand, hielt sich mit einer Hand die Augen zu und versuchte die anderen Kinder zu fangen, die fortliefen, klatschten und sangen:

Sind die Augen schwarz und grimm,

Oh, wohin? Oh, wohin?

Fern und nah. Sie sind da.

Der Kessler bediente der Reihe nach die Leute, manchmal zwei oder drei zugleich. Er tauschte scharfe Messer gegen stumpfe und etwas Kleingeld. Er verkaufte Scheren und Nadeln, Kupfertöpfe und auch kleine Fläschchen, die die Frauen nach dem Kauf schnell wegsteckten. Er tauschte Knöpfe, Zimt und Salz. Limonen aus Tinuë, Schokolade aus Tarbean, poliertes Horn aus Aerueh …

Und die ganze Zeit über sangen die Kinder:

Ganz gesichtslos, seht ihr die?

Wie Gespenster schleichen sie.

Was treibt, was treibt sie wohl an?

Chandrian. Chandrian.

Kote schätzte, dass die Reisenden seit gut einem Monat gemeinsam unterwegs waren, lange genug, um miteinander warm zu werden, aber noch nicht so lange, dass sie wegen jeder Kleinigkeit Streit bekamen. Sie rochen nach Straßenstaub und Pferden. Er sog diesen Geruch ein, als wäre es ein Parfüm.

Am schönsten fand er die vielfältigen Geräusche. Das knarzende Leder. Das Gelächter der Männer. Das Knistern und Knacken im Feuer. Die scherzenden Frauen. Jemand stieß sogar einen Stuhl um. Zum ersten Mal seit langer Zeit herrschte im Wirtshaus keine Stille mehr. Und wenn doch, so war sie zu schwach, um bemerkt zu werden, oder zu gut verborgen.

Kote war der Dreh- und Angelpunkt des Ganzen, immer in Bewegung, wie jemand, der eine große, komplizierte Maschine bedient. Er war mit den Getränken zur Hand, fast noch ehe sie bestellt waren, er erzählte und hörte zu, und das im genau richtigen Maße. Er lachte über Scherze, schüttelte Hände, lächelte und sammelte Münzen vom Tresen, als ob er dieses Geld tatsächlich nötig gehabt hätte.

Als dann die Zeit der Lieder gekommen war und alle ihre Lieblingsweisen gesungen hatten und immer noch mehr hören wollten, dirigierte Kote sie alle vom Tresen aus und klatschte den Rhythmus dazu. Den Schein des Kaminfeuers im Haar, sang er Tinker Tanner – mit mehr Strophen, als irgendeiner je gehört hatte, aber keiner störte sich auch nur im Geringsten daran.

Stunden später kniete Kote vor dem Kamin und legte Holz nach, als ihn jemand von hinten ansprach.

»Kvothe?«

Der Wirt wandte sich mit leicht verwirrtem Lächeln um. »Wie bitte?«

Es war einer der gut gekleideten Reisenden. Er schwankte ein wenig. »Ihr seid Kvothe.«

»Kote, Sir«, erwiderte der Wirt in jenem nachsichtigen Tonfall, in dem Mütter mit Kindern und Wirte mit Betrunkenen reden.

»Kvothe der Blutlose«, beharrte der Mann. »Ihr kamt mir gleich bekannt vor, aber ich bin lange nicht drauf gekommen.« Er lächelte stolz und tippte sich mit einem Finger an die Nase. »Doch als ich Euch dann singen hörte, wusste ich, dass Ihr es seid. Ich habe Euch einmal in Imre singen hören. Da habe ich Rotz und Wasser geheult. Das war das Schönste, was ich je gehört habe.«

Als er dann weitersprach, gerieten dem jungen Mann die Sätze durcheinander, aber seine Miene blieb ernst. »Ich wusste, dass Ihr es nicht sein könnt. Aber ich dachte, doch, das ist er. Obwohl … Aber wer sonst hat denn solches Haar?« Er schüttelte den Kopf und versuchte vergeblich, ihn auf diese Weise ein wenig klarer zu bekommen. »Ich habe den Platz in Imre gesehen, wo Ihr den Mann getötet habt. Bei dem Springbrunnen. Die Pflastersteine dort sind zerspungen.« Er runzelte die Stirn und setzte noch einmal an: »Zersprungen. Es heißt, niemand kann sie reparieren.«

Der Reisende verstummte. Blinzelnd um klare Sicht bemüht, war er offenkundig erstaunt, wie der Wirt darauf reagierte.

Denn der rothaarige Mann grinste. »Wollt Ihr damit sagen, dass ich wie Kvothe aussehe? Wie der Kvothe? Das fand ich ja auch schon immer. Ich habe hinten ein Bild von ihm. Mein Gehilfe zieht mich immer damit auf. Würdet Ihr ihm sagen, was Ihr gerade zu mir gesagt habt?«

Kote warf noch einen letzten Scheit ins Feuer und erhob sich. Doch als er einen Schritt vom Kamin fortging, verdrehte er sich ein Bein, fiel polternd zu Boden und riss dabei einen Stuhl um.

Etliche Reisende eilten herbei, doch der Wirt war schon wieder auf den Beinen und bat sie mit einem Wink, wieder Platz zu nehmen. »Nein, nein, es ist nichts passiert. Entschuldigung, falls ich jemanden erschreckt habe.« Trotz seines Lächelns war offenkundig, dass er sich wehgetan hatte. Sein Gesicht war schmerzhaft verzerrt, und er stützte sich auf eine Stuhllehne.

»Ich habe vor drei Jahren auf dem Weg durch den Eld einen Pfeil ins Knie bekommen. Und hin und wieder lässt es mich immer noch im Stich.« Er verzog das Gesicht und sagte wehmütig: »Das ist der Grund, warum ich das schöne Leben auf der Straße aufgegeben habe.« Er betastete vorsichtig sein verdrehtes Bein.

Einer der Söldner meldete sich zu Wort. »Da würde ich aber einen Breiumschlag draufmachen, sonst schwillt es fürchterlich an.«

Kote betastete erneut sein Knie und nickte. »Das ist ein kluger Ratschlag, Sir.« Er wandte sich wieder an den rotblonden Reisenden, der immer noch leicht schwankend beim Kamin stand. »Könntet Ihr mir einen Gefallen tun?«

Der Mann nickte stumm.

»Schließt bitte den Rauchabzug.« Kote wies auf den Kamin. »Bast, hilfst du mir bitte nach oben?«

Bast eilte herbei und legte sich Kotes Arm um die Schultern. Kote stützte sich bei jedem zweiten Schritt auf ihn, und gemeinsam gingen sie die Treppe hinauf.

»Einen Pfeil ins Knie?«, fragte Bast flüsternd. »Ist es dir wirklich so peinlich, mal hinzufallen?«

»Gott sei Dank bist du genauso leichtgläubig wie die«, entgegnete Kote in scharfem Ton, als sie außer Sicht waren. Leise vor sich hin fluchend, nahm er die letzten Stufen, sein Knie offensichtlich unversehrt.

Bast machte große Augen. Dann kniff er sie zusammen.

Kote blieb auf dem oberen Treppenabsatz stehen und rieb sich die Stirn. »Einer von ihnen weiß, wer ich bin.« Kote runzelte die Stirn. »Hegt zumindest einen Verdacht.«

»Wer?«, fragte Bast.

»Grünes Hemd, rotblondes Haar. Der neben mir am Kamin stand. Gib ihm was, damit er einschläft. Er ist schon ziemlich betrunken. Es wird niemanden wundern, wenn er umkippt.«

Bast überlegte kurz. »Nachtmähne?«

»Mhenka.«

Bast hob eine Augenbraue, nickte aber.

Kote richtete sich auf. »Hör mir jetzt genau zu, Bast.«

Bast nickte.

»Ich gehörte einer Geleitschutztruppe aus Ralien an. Wurde verwundet, während ich eine Karawane verteidigte. Pfeil ins rechte Knie. Vor drei Jahren. Im Sommer. Ein dankbarer Händler gab mir Geld, damit ich ein Wirtshaus eröffnen konnte. Seine Name ist Deolan. Wir kamen gerade aus Purvis. Erwähne das am Rande. Hast du alles behalten?«

»Ja, habe ich, Reshi«, erwiderte Bast.

»Dann geh jetzt.«

Eine halbe Stunde später brachte Bast seinem Herrn eine Schale aufs Zimmer und versicherte ihm, dass unten alles in Ordnung sei. Kote nickte und gab die knappe Anweisung, ihn an diesem Abend nicht mehr zu stören.

Bast schloss mit besorgter Miene die Tür hinter sich. Er stand noch einen Moment lang auf dem oberen Treppenabsatz und überlegte, was er tun sollte.

Schwer zu sagen, warum sich Bast solche Sorgen machte. Kote wirkte nicht merklich verändert. Vielleicht einmal davon abgesehen, dass er sich etwas langsamer bewegte und dass der Funke, den die Geschehnisse des Abends in seinen Augen entfacht hatten, nicht mehr so hell leuchtete. Ja, er war kaum mehr zu entdecken. Möglicherweise war er gar nicht mehr da.

Kote saß am Kamin und aß mechanisch sein Abendbrot, so als würde er lediglich das Essen aus der Schale in sich hineinverlagern. Nach dem letzten Bissen saß er mit leerem Blick da, wusste nicht mehr, was er gerade gegessen und wie es geschmeckt hatte.

Im Feuer knackte es, und Kote blinzelte und sah sich im Raum um. Er sah auf seine Hände, die ineinander gelegt auf seinem Schoß ruhten. Nach einer Weile hob er sie und spreizte sie, so als wollte er sie am Feuer wärmen. Sie waren anmutig, mit langen, feingliedrigen Fingern. Er betrachtete sie aufmerksam, als erwarte er, dass sie von sich aus etwas unternehmen würden. Dann ließ er sie wieder auf seinen Schoß sinken, eine Hand in die andere gelegt, und schaute weiter ins Feuer. Ausdrucks- und reglos saß er da, bis nur noch graue Asche und matt glühende Kohlen übrig waren.

Als er sich auszog, um zu Bett zu gehen, flackerte das Feuer noch einmal auf. Das rote Licht ließ auf seinem Körper, seinem Rücken und seinen Armen blasse Linien aufscheinen. Die vielen Narben waren glatt und silbrig und überzogen ihn wie Blitze. Das Feuer machte sie für einen Augenblick sichtbar, die alten wie die neuen. Die Narben waren glatt und silbrig – bis auf eine.

Das Kaminfeuer flackerte noch ein letztes Mal und erlosch. Der Schlaf umfing ihn wie eine Geliebte.

Die Reisenden brachen früh am nächsten Morgen auf. Bast kümmerte sich um alles und erklärte, das Knie seines Herrn sei schlimm geschwollen, und ihm sei nicht danach, zu so früher Stunde die Treppe herabzukommen. Das verstand jedermann, von dem rotblonden Händlersohn einmal abgesehen, der aber ohnehin zu benommen war, um allzu viel zu verstehen. Die Wachen tauschten ein Lächeln und verdrehten die Augen, und der Kessler hielt eine Gardinenpredigt zum Thema Maßhalten. Bast empfahl einige unangenehme Katerkuren.

Nachdem die Gruppe abgereist war, kümmerte sich Bast um das Wirtshaus, was keine große Aufgabe war, denn es gab keine weitere Kundschaft. Die meiste Zeit verbrachte er damit, sich die Zeit zu vertreiben.

Am frühen Nachmittag kam Kote die Treppe herab und traf ihn dabei an, wie er mit einem schweren, in Leder gebundenen Buch auf dem Tresen Walnüsse knackte. »Guten Morgen, Reshi.«

»Guten Morgen, Bast«, sagte Kote. »Irgendwelche Neuigkeiten?«

»Der junge Orrison war hier. Wollte wissen, ob wir Hammelfleisch brauchen.«

Kote nickte, als hätte er das schon erwartet. »Wie viel hast du bestellt?«

Bast verzog das Gesicht. »Ich hasse Hammel. Schmeckt doch wie feuchte Fäustlinge.«

Kote zuckte die Achseln und ging zur Tür. »Ich muss ein paar Sachen erledigen. Passt du hier ein bisschen auf?«

»Aber immer doch.«

Draußen vor dem Wirtshaus stand die Luft drückend über der unbefestigten Straße, die durch den Ortskern führte. Am Himmel hing eine graue Wolkendecke, die aussah, als wäre sie zu träge, um in einen Regen überzugehen. Kote ging über die Straße und betrat die offenstehende Schmiede. Der Schmied hatte kurzes Haar und einen buschigen Vollbart. Während Kote zusah, trieb er behutsam zwei Nägel durch die Hamme eines Sensenblatts und befestigte es damit an einem geschwungenen Holzstiel. »Hallo, Caleb.«

Der Schmied lehnte die Sense an die Wand. »Was kann ich für dich tun, Meister Kote?«

»Ist der junge Orrison auch bei dir gewesen?«

Caleb nickte.

»Verschwinden bei denen immer noch Schafe?«, fragte Kote.

»Ein paar von denen, die verschwunden waren, hat man mittlerweile wiedergefunden. Sie waren in Stücke gerissen.«

»Wölfe?«, fragte Kote.

Der Schmied zuckte die Achseln. »Es ist eigentlich nicht die Jahreszeit für Wölfe, aber was sollte sonst dahinter stecken? Ein Bär? Ich schätze mal, sie verkaufen jetzt, was sie nicht richtig bewachen können, da sie doch zur Zeit zu wenig Arbeitskräfte haben.«

»Zu wenig Arbeitskräfte?«

»Ihren Knecht konnten sie wegen der Steuern nicht mehr halten, und ihr Ältester hat sich im Frühsommer für das Heer des Königs anwerben lassen. Der kämpft jetzt in Menat gegen die Rebellen.«

»Meneras«, berichtigte Kote behutsam. »Wenn du den Jungen siehst, sag ihm bitte, dass ich ihm drei Hammelhälften abnehmen würde.«

»Mache ich gerne.« Der Schmied blickte den Wirt vielsagend an. »Gibt es sonst noch etwas?«

»Nun ja.« Kote wandte den Blick ab, mit einem Mal verlegen. »Ich wüsste gern, ob du hier noch eine Eisenstange herumliegen hast«, sagte er, ohne dem Schmied dabei in die Augen zu sehen. »Es muss überhaupt nichts Besonderes sein. Einfaches Roheisen würde vollauf genügen.«

Caleb lachte leise. »Ich habe mich schon gefragt, wann du wohl kommst. Der alte Cob und die anderen waren schon vorgestern hier.« Er ging zu einer Werkbank und zog ein Tuch beiseite. »Ich habe noch ein paar mehr gemacht, nur für alle Fälle.«

Kote nahm eine gut zwei Fuß lange Eisenstange und schwang sie in einer Hand beiläufig hin und her. »Kluger Mann.«

»Ich verstehe etwas von meinem Geschäft«, sagte der Schmied. »Darf es sonst noch etwas sein?«

»Ja«, sagte Kote und lehnte sich die Eisenstange an die Schulter, »da wäre noch etwas. Hast du noch so eine Schürze und ein Paar Schmiedehandschuhe?«

»Könnte sein«, erwiderte Caleb zögernd. »Wieso?«

»Hinter dem Wirtshaus ist ein altes Brombeergestrüpp.« Kote wies mit einer Kopfbewegung hinüber. »Ich will es vielleicht rausreißen, damit ich dort nächstes Jahr einen Garten anlegen kann. Aber ich habe keine Lust, mir dabei die Haut in Fetzen zu reißen.«

Der Schmied nickte und lud Kote mit einer Handbewegung ein, ihm in den hinteren Teil der Werkstatt zu folgen. »Ich habe hier noch mein altes Zeug«, sagte er und holte ein Paar schwere Handschuhe und eine steife Lederschürze hervor, die beide an einigen Stellen verkohlt und mit Schmierfettflecken überzogen waren. »Die sind nicht mehr schön, aber sie würden wohl das Schlimmste abhalten.«

»Wie viel willst du dafür haben?«, fragte Kote und griff nach seinem Geldbeutel.

Der Schmied schüttelte den Kopf. »Ein Jot wäre fast schon zuviel. Die Sachen nützen mir ja nichts mehr. Und dem Jungen auch nicht.«

Der Wirt gab ihm eine Münze, und der Schmied stopfte die Sachen in einen alten Leinensack. »Bist du sicher, dass jetzt die richtige Zeit für so was ist?«, fragte der Schmied. »Es hat schon eine ganze Weile nicht mehr geregnet. Und nach dem Tauwetter im Frühjahr wird der Boden lockerer sein.«

Kote zuckte die Achseln. »Mein Großvater hat immer gesagt, der Herbst sei die richtige Zeit, um etwas mit der Wurzel auszureißen, von dem man nicht will, dass es wieder nachwächst und einem Scherereien bereitet.« Kote ahmte die zitternde Stimme eines alten Mannes nach. »Im Frühjahr stehen die Dinge zu sehr voll Lebenssaft. Im Sommer sind sie zu kräftig und geben nicht nach. Der Herbst …« Er sah sich zu dem bunten Laub der Bäume um. »Der Herbst ist die richtige Zeit. Im Herbst ist alles müde und bereit zu sterben.«

An diesem Nachmittag schickte Kote Bast früh zu Bett, damit er seinen Schlaf nachholen konnte. Dann ging er lustlos im Wirtshaus hin und her und erledigte kleinere Verrichtungen, die am Vorabend liegen geblieben waren. Es kam keine Kundschaft. Als es schließlich dunkel wurde, machte er Licht und blätterte in einem Buch.

Der Herbst war eigentlich die geschäftigste Zeit des Jahres. Doch in letzter Zeit kamen nur noch selten Reisende. Kote wusste nur zu gut, wie lang der Winter werden würde.

Er schloss das Wirtshaus früher als üblich, was er bisher nie getan hatte. Er machte sich nicht die Mühe auszufegen, denn der Boden hatte es nicht nötig. Er wischte auch Tresen und Tische nicht ab, denn sie waren nicht benutzt worden. Er polierte ein, zwei Flaschen, schloss die Tür ab und ging zu Bett.

Es war niemand da, der die Veränderung bemerkt hätte. Niemand außer Bast, der seinen Herrn und Meister beobachtete, sich Sorgen machte und abwartete.

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