8

Das Ritual des Hohen Mondes war beendet. Nun hatte Tyrande Sinn und Muse für sich selbst. Elune erwartete Hingabe von ihren Priesterinnen, doch sie verlangte nicht, dass sie ihr all ihre Zeit opferten. Mutter Mond war eine freundliche, liebevolle Herrin, und das war es gewesen, was die junge Nachtelfin in den Tempel geführt hatte. Der Eintritt in die Schwesternschaft hatte Tyrande einen gewissen Frieden in ihren Sorgen, in ihren inneren Konflikten geschenkt.

Doch ein Konflikt wollte ihr Herz nicht verlassen. Die Zeit hatte das Verhältnis zwischen ihr, Malfurion und Illidan verändert. Sie waren nicht länger jugendliche Freunde. Die Einfachheit der Kindheit war der Komplexität erwachsener Beziehungen gewichen.

Ihre eigenen Gefühle für die beiden jungen Männer hatten sich geändert, und sie wusste, dass auch die Brüder inzwischen ihr gegenüber anders empfanden. Der Wettstreit zwischen den Zwillingen war stets freundlich und verspielt gewesen, aber in letzter Zeit hatte er sich auf eine Weise gesteigert, die Tyrande missfiel. Nun schien es, als kämpften sie gegeneinander, als wetteiferten sie um einen Preis.

Tyrande begriff – selbst wenn die Brüder dies nicht taten –, dass dieser Preis sie war.

Obwohl die Novizin sich geschmeichelt fühlte, wollte sie keinen von beiden verletzen. Und doch würde Tyrande diejenige sein, die zumindest einen der Brüder schwer enttäuschte, denn sie wusste in ihrem Herzen, wenn die Zeit kam, sich ihren Gefährten fürs Leben zu wählen, würde es entweder Illidan oder Malfurion sein.

In das silberne Kapuzengewand der Novizin gekleidet, schritt Tyrande schweigend durch die hohen Marmorhallen des Tempels. Über ihr stellte ein magisches Fresko den Himmel dar. Ein flüchtiger Betrachter mochte sogar meinen, dieser Saal besäße tatsächlich kein Dach, so perfekt war die Illusion. Doch nur die Große Kammer, in der die Rituale stattfanden, stand dem Himmel wirklich offen. Dort besuchte Elune ihre Getreuen in der Gestalt der Mondstrahlen und berührte sie sanft wie eine Mutter ihre geliebten Kinder.

Vorbei an den hoch aufragenden Statuen, die die irdischen Inkarnationen der Göttin zeigten – die Hohepriesterinnen der Vergangenheit –, bewegte sich Tyrande schließlich über den weiten Marmorboden der Vorhalle. Hier erzählte ein verschlungenes Mosaik von der Schöpfung der Welt durch Elune und die anderen Götter, wobei Mutter Mond in den Bildern natürlich eine dominierende Rolle einnahm. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Götter vage Gestalten mit schattenhaften Gesichtern, keine bloßen Geschöpfe des Fleisches, die man in ihren wahren Erscheinungsformen darstellen konnte. Nur die Halbgötter, ihre Kinder und Helfer hatten erkennbare Gesichter. Einer von ihnen war Cenarius, von dem viele glaubten, er sei das Kind von Mond und Sonne. Cenarius bestätigte dies natürlich nicht, noch leugnete er es, und Tyrande hatte für sich beschlossen, dass die Geschichte stimmte.

Draußen beruhigte die kühle Nachtluft ein wenig Tyrandes Sorge um sich selbst und um die beiden Brüder. Sie stieg die weißen Alabaster-Stufen des Tempels hinab und tauchte in die Menge der Nachtelfen auf den Straßen ein. Viele neigten ihr Haupt ehrerbietig vor der Novizin, während andere ihr höflich den Weg frei machten. Es brachte gewisse Vorteile mit sich, eine Dienerin der Elune zu sein, doch im Augenblick wünschte sich die junge Frau, die Welt hätte sie einfach nur als sie selbst betrachtet.

Suramar war nicht so glanzvoll wie Zin-Azshari, doch die Stadt hatte ihre ganz eigene Atmosphäre. Helle Farben herrschten vor, als sie den Marktplatz betrat, wo Kaufleute der Bevölkerung ihre Waren feil boten. Würdenträger in prächtigen, diamantbesetzten Gewändern, die in sonnigem Rot und feurigem Orange strahlten, gingen mit erhobener Nase, die Augen nur auf den Weg vor sich gerichtet, neben Elfen der niedrigeren Kasten, die einfachere Kleidung in Grün, Gelb, Blau oder einer Mischung dieser Farben trugen. Die Leute kamen auf den Markt, um sich der Welt von ihrer besten Seite zu präsentieren.

Selbst die Gebäude beteiligten sich am Imponiergehabe ihrer Bewohner und leuchteten vor Tyrandes Augen in allen Farben des Regenbogens. Die Fassaden mancher Geschäfte waren in nicht weniger als sieben Farben bemalt und zeigten dramatische Szenen, die sich über sämtliche Mauern zogen. Fackellicht beleuchtete die meisten Hausmauern, denn man betrachtete die tanzenden Flammen als einen lebhaften Akzent.

Die wenigen Nicht-Nachtelfen, die die Novizin in ihrem kurzen Leben getroffen hatte, schienen ihr Volk geschmacklos zu finden. Manche gingen sogar so weit zu behaupten, Tyrandes Leute müssten farbenblind sein. Obwohl ihr eigener Geschmack dazu neigte, etwas konservativer zu sein – jedoch nicht so konservativ wie der von Malfurion –, fand Tyrande, dass die Nachtelfen einfach eine größere Liebe für die Vielfalt der Muster und Formen hatten, die in der Welt existierten.

Sie bemerkte eine Traube von Elfen, die sich in der Mitte des Marktplatzes gebildet hatte. Die Meisten gestikulierten lebhaft und schienen auf etwas zu zeigen, und ein paar ließen Kommentare vernehmen, die entweder von Ekel oder von Spott durchsetzt waren. Neugierig trat Tyrande näher, um zu sehen, was das allgemeine Interesse erweckt hatte.

Zuerst bemerkten die Schaulustigen die Novizin nicht, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass das Objekt ihrer Neugierde tatsächlich einen seltenen Anblick bieten musste. Sie berührte höflich einen Nachtelf an der Schulter, der sofort zur Seite trat, als er sie erkannte. Auf diese Weise arbeitete sie sich ins Zentrum der Ansammlung vor.

Bald konnte sie ausmachen, dass die Leute sich um einen Käfig scharten. Er bestand aus starkem Eisen und beherbergte offensichtlich eine Bestie von großer Stärke, denn er klirrte gelegentlich dumpf, als werfe sich etwas wild gegen seine Gitterstäbe, und dann und wann war ein tierisches Knurren zu hören, das bei den Schaulustigen interessiertes Gemurmel hervorrief.

Die Elfen, die direkt vor Tyrande standen, wollten sich nicht fort bewegen, nicht einmal, als sie bemerkten, wer sie da auf die Schulter tippte. Die schlanke Novizin suchte sich unermüdlich eine bessere Position, spähte schließlich zwischen zwei Rücken hindurch.

Was sie erblickte, ließ sie aufkeuchen.

»Was ist denn das?«, entfuhr es ihr.

»Das weiß niemand, Schwester«, antwortete eine Stimme. Sie wandte den Kopf und blickte auf einen Soldaten, der hier mit seinen Kameraden Wache stand. Er trug den Brustpanzer und die Gewänder eines Mitglieds der Wache von Suramar. »Die Mondgarde musste mindestens drei Zauber wirken, bis sie die Bestie endlich überwältigt hatte.«

Tyrande blickte sich instinktiv nach einem der Magier in den grünen Kapuzengewändern um, doch sie konnte keinen von ihnen erkennen. Höchstwahrscheinlich hatten sie den Käfig mit einem Zauber belegt und dann die gefangene Kreatur den fähigen Händen der Soldaten überlassen, während sie jetzt untereinander diskutierten, wie sie weiter mit dem Wesen verfahren sollten.

Aber was hatten sie zurückgelassen?

Es war kein Zwerg, obwohl seine Gestalt sie in vieler Hinsicht an dieses Volk erinnerte. Hätte das Wesen aufrecht gestanden, es wäre etwa einen Fuß kleiner gewesen als ein Nachtelf, doch mindestens doppelt so breit. Offensichtlich war die Kreatur eine Bestie von brutaler Kraft, denn noch nie zuvor hatte Tyrande solche Muskeln gesehen. Obwohl der Käfig offensichtlich verzaubert war, erstaunte es die Novizin, dass der Gefangene nicht einfach die Gitter zur Seite bog und entkam.

Ein Schaulustiger, der einer der höheren Kasten angehörte, stupste die gebeugt sitzende Kreatur plötzlich mit seinem goldenen Stock an … was erneute Wut in dem Käfig auslöste. Es gelang dem Nachtelfen nur knapp, seinen Stock aus der Reichweite der dicken, fleischigen Pranken zu ziehen. Das breite, animalische Gesicht des Monsters verzerrte sich, als es knurrend seinen Zorn kund tat. Wahrscheinlich wäre es ihm gelungen, den Stock an sich zu reißen, wenn es nicht durch dicke Ketten um Hand- und Fußgelenke sowie den Hals gebunden gewesen wäre. Die schweren Fesseln waren nicht nur der Grund dafür, dass es gezwungen war, in seiner gebückten Haltung zu verharren, sondern sie machten es ihm auch unmöglich, sich jemals den Gitterstäben zu widmen, selbst wenn man davon ausging, dass es dazu die nötige Kraft und Entschlossenheit besessen hätte.

Tyrandes Gefühle verschoben sich von Entsetzen und Ekel zu Mitleid. Der Tempel und Cenarius hatten sie gelehrt, alles Leben zu achten, selbst jenes, das auf der ersten Blick nur monströs erschien. Das grünhäutige Ungetüm trug primitive Kleidung, und das bedeutete, dass es – oder er, was am wahrscheinlichsten schien – ein gewisses Maß an Intelligenz besaß. Es war also nicht Recht, dass man das Geschöpf wie ein seltsames Tier zur Schau stellte.

Zwei leere, braune Schüsseln ließen vermuten, dass der Gefangene zumindest etwas zu essen bekommen hatte, doch angesichts seiner massigen Gestalt nahm die Novizin an, dass es nicht annähernd genug gewesen war. Sie wandte sich an den Wächter. »Er braucht mehr zu essen und zu trinken.«

»Ich habe keine dahingehenden Befehle erhalten, Schwester«, antwortete der Wachposten respektvoll, während er weiter die Menge im Auge behielt.

»Für so etwas sind keine Befehle nötig.«

Tyrande wurde mit einem leichten Achselzucken belohnt. »Die Ältesten haben noch nicht entschieden, was mit dem Ding geschehen soll. Vielleicht wird die Kreatur nichts mehr zu essen und zu trinken benötigen, Schwester.«

Seine Andeutung widerte sie an. Die Justiz der Nachtelfen konnte sehr drakonisch sein. »Wenn ich ihm etwas zu essen bringe, werdet Ihr dann versuchen, mich aufzuhalten?«

Jetzt wirkte der Soldat, als werde ihm auf einmal sehr unbehaglich. »Das solltet Ihr wirklich nicht tun, Schwester. Was, wenn die Bestie Euch den Arm ausreißt und ihn frisst statt der Speise, die Ihr ihr geben wollt? Ihr wäret gut beraten, das Ding in Ruhe zu lassen.«

»Ich werde das Risiko eingehen.«

»Schwester –«

Doch bevor der Soldat weiter versuchen konnte, ihr ihr Vorhaben auszureden, wandte sich Tyrande bereits um. Sie lief direkt zum nächsten Händler und holte einen Krug Wasser und eine Schüssel Suppe. Die Kreatur im Käfig sah aus wie ein Fleischfresser, also entschied sie sich für ein Stück frisches Fleisch. Der Händler weigerte sich, von ihr Geld anzunehmen, ein Vorteil ihres Amtes, also gab sie ihm den Segen, von dem sie wusste, dass er ihn erhoffte, dann bedankte sie sich und kehrte zum Käfig zurück.

Ein Teil der Menge, die sich offenbar zu langweilen begann, hatte sich, als Tyrande das Zentrum erreichte, aufgelöst. So war es einfacher für sie, zu dem Gefangenen zu gelangen. Er blickte auf, als die Novizin sich ihm näherte, und hielt sie zunächst offensichtlich für einen weiteren Gaffer. Erst als er sah, was Tyrande in den Händen hielt, zeigte er mehr Interesse.

Er setzte sich so gut auf, wie es ihm angesichts seiner Ketten möglich war, und die tief liegenden Augen unter den dichten, buschigen Brauen musterten Tyrande misstrauisch. Die Novizin hatte das Gefühl, dass er sich in der zweiten Hälfte seines Lebens befand, denn sein Haar war grau, und sein brutales Gesicht trug die vielen Spuren, auch Narben, einer rauen Existenz.

Kurz bevor sie die Reichweite seiner Arme erreichte, zögerte die junge Nachtelfin. Aus dem Augenwinkel bemerkte Tyrande den Wächter, der vorsichtiges Interesse an dem zeigte, was sie tat. Ihr war klar, dass er dem Gefangenen seinen Speer in die Eingeweide rammen würde, falls dieser irgendeinen Versuch unternahm, sie zu verletzen. Tyrande hoffte, dass es dazu nicht kommen würde. Es wäre die Schrecklichste aller vorstellbaren Ironien, wenn ihr Versuch, einer leidenden Kreatur zu helfen, zu deren Tod geführt hätte.

Vorsichtig kniete sie sich vor den Gitterstäben nieder. »Verstehst du mich?«

Er grunzte und nickte dann.

»Ich habe dir etwas gebracht.« Sie hielt ihm zuerst die Schüssel mit der Suppe hin.

Die misstrauischen Augen, die so anders waren die ihren, richteten sich auf die Schüssel, und der Gefangene schien nachzudenken, was er tun sollte. Einmal flackerte sein Blick für einen kurzen Moment in Richtung des nächsten Wachpostens. Seine rechte Hand schloss sich. Dann öffnete sie sich wieder.

Langsam, ganz langsam, streckte er sie aus. Als sie Tyrandes Hand erreichte, sah die Novizin wie riesig und dick sie tatsächlich war, groß genug, um ihre eigenen Hände mühelos zu umschließen. Sie stellte sich die Stärke dieser Pranken vor und hätte ihre Gabe fast zurückgezogen.

Dann nahm der Gefangene mit einer Behutsamkeit, die sie überraschte, die Schüssel aus ihren Händen, stellte sie sicher vor sich ab und sah die Nachtelfin erwartungsvoll an.

Die Tatsache, dass er ihre Gabe angenommen hatte, brachte sie zum Lächeln, doch er antwortete nicht in der gleichen Weise, und sein Gesicht blieb weiter verschlossen. Etwas entspannter reichte ihm Tyrande als Nächstes das Fleisch, zuletzt den Krug mit Wasser.

Nachdem er alles sicher vor sich abgesetzt hatte, begann der grünhäutige Gefangene zu essen. Er schlang den Inhalt der Schüssel mit einem gewaltigen Schluck in sich hinein, und etwas von der bräunlichen Flüssigkeit spritzte über sein Kinn. Das Fleischstück folgte, und mächtige, gezackte, gelbe Zähne rissen ohne zu zögern an dem rohen, blutigen Fleisch. Tyrande musste schlucken, doch sie zeigte ihr Unbehagen angesichts der monströsen Manieren des Gefangenen in keiner anderen Weise. Unter den gleichen Bedingungen hätte sie selbst sich vielleicht kaum besser verhalten als er.

Ein paar Gaffer betrachteten diese Aktivität als wäre sie ein belustigendes Schauspiel, doch Tyrande ignorierte sie. Sie wartete geduldig, während der Gefangene fortfuhr, sein Essen zu verschlingen. Er nagte selbst den letzten Fetzen Fleisch von dem Knochen und zerbrach diesen dann knackend in zwei Stücke, denen er mit solchem Genuss das Mark aussaugte, dass die letzten Schaulustigen – deren elfisches Feingefühl durch solch einen tierischen Anblick empfindlich verstört wurde – endlich verschwanden.

Als die Letzten gegangen waren, ließ der Gefangene schließlich die Knochen-Bruchstücke fallen und griff mit einem grollenden Kichern nach dem Krug. Nicht einmal hatte er seine Augen für mehr als eine Sekunde von der Novizin abgewandt.

Als das Wasser verschwunden war, wischte er sich den breiten Mund mit dem Arm ab und grunzte: »Gut.«

Ein echtes Wort von seinen Lippen zu hören, überraschte Tyrande, obwohl sie bereits früher angenommen hatte, dass er, wenn er sie verstehen konnte, auch sprechen konnte. Sie musste wieder Lächeln und lehnte sich so nahe an die Gitterstäbe, dass sie die Besorgnis der Wächter weckte.

»Schwester!«, rief einer der Soldaten. »Ihr solltet nicht so nah herangehen! Er wird Euch –«

»Er wird nichts tun«, versicherte sie ihnen schnell. Mit einem lächelnden Blick auf den Gefangenen fügte sie hinzu: »Oder doch?«

Er schüttelte den Kopf und zog seine Hände zur Bestätigung nah an seine Brust. Die Soldaten traten ein wenig zurück, blieben aber wachsam.

Tyrande ignorierte sie ein weiteres Mal und fragte: »Willst du noch etwas? Mehr Essen?«

»Nein.«

Sie hielt einen Augenblick inne, dann sagte sie: »Mein Name ist Tyrande. Ich bin eine Priesterin der Elune.«

Die Gestalt im Käfig schien nicht daran interessiert, das Gespräch fortzusetzen. Aber als der Gefangene erkannte, dass sie entschlossen war, auf seine Erwiderung zu warten, antwortete er schließlich: »Brox … Broxigar. Treuer Diener von Kriegshäuptling Thrall, dem Herrscher der Orcs.«

Tyrande versuchte zu verstehen, was er gerade gesagt hatte. Dass er ein Krieger war, überraschte sie angesichts seines Aussehens wenig. Er diente einem Anführer, diesem Thrall, dessen Name in vielerlei Hinsicht seltsamer war als sein eigener, denn er bedeutete »Sklave«.

Von welcher Art mochte ein Herrscher sein, der einen solchen Titel trug?

Und dieser Thrall war Herr der Orcs, und ein Orc musste das sein, was Brox war. Der Tempel hatte Tyrande gut und gründlich unterrichtet, doch niemals hatte sie dort oder irgendwo sonst von einem Volk gehört, das man Orcs nannte. Und wenn sie alle so aussahen wie Brox, hätten sich die Nachtelfen sicher gut an sie erinnert.

Sie entschied sich, weiter nachzuforschen. »Wo kommst du her, Brox? Wie bist du hierher gekommen?«

Sofort erkannte Tyrande, dass sie einen Fehler begangen hatte. Der Augen des Orcs verengten sich, und er klappte seinen Mund fest zu. Wie dumm von ihr, nicht daran gedacht zu haben, dass die Mondgarde ihn bereits verhört haben musste … und gewiss ohne die Freundlichkeit, die sie ihm erwiesen hatte. Jetzt musste er glauben, dass man sie gesandt hatte, um ihm auf liebenswürdige Weise das zu entlocken, was die Zauberer ihm mit Gewalt und Magie nicht hatten entreißen können.

Brox, der offensichtlich ein Ende dieser Begegnung wünschte, nahm die Schüssel auf und hielt sie Tyrande hin. Sein Gesichtsausdruck war finster und misstrauisch.

Ohne Warnung fuhr über den Rücken der Novizin hinweg ein Energieblitz in den Käfig und traf die Hand des Orcs.

Mit einem wilden Knurren ergriff Brox seine verbrannten Finger und hielt sie schmerzerfüllt fest. Er bedachte Tyrande mit einem solch mörderischen Blick, dass sie entsetzt zurückfuhr und aufstand. Die Wachen sammelten sich sofort um den Käfig und trieben Brox mit ihren Speeren gegen die hinteren Gitterstäbe.

Starke Hände ergriffen die Novizin an den Schultern, und eine vertraute Stimme fragte besorgt: »Geht es dir gut, Tyrande? Diese scheußliche Biest hat dich nicht verletzt, oder?«

»Er hatte nicht vor, mir irgendetwas anzutun!«, stieß sie hervor und wandte ihr Gesicht dem Mann zu, der den Energieblitz geschleudert hatte. »Illidan! Wie konntest du?«

Der gut aussehende Nachtelf runzelte die Stirn, und seine faszinierenden, goldenen Augen verloren etwas von ihrem Glanz. »Ich hatte nur Angst um dich! Diese Bestie ist fähig, dich zu –«

Tyrande schnitt ihm das Wort ab. »In dem Käfig ist er zu wenig fähig … Und er ist keine Bestie!«

»Ach nein?« Illidan beugte sich vor, um Brox zu inspizieren. Der Orc fletschte die Zähne. Malfurions Bruder schnaubte verächtlich. »Das Ding sieht mir nicht gerade nach einem zivilisierten Wesen aus …«

»Er wollte nur die Schüssel zurückgeben. Und wenn es irgendwelchen Ärger gegeben hätte, hätten die Soldaten eingegriffen.«

Illidan runzelte erneut die Stirn. »Es tut mir Leid, Tyrande. Vielleicht habe ich überreagiert. Aber du musst zugeben, dass nur wenige andere, selbst unter den Priesterinnen, das schreckliche Risiko eingegangen wären, so einem Tier zu helfen. Du weißt es vielleicht nicht, aber es heißt, das Ding hätte beinahe ein Mitglied der Mondgarde erwürgt, als es wieder zu sich kam.«

Die Novizin blickte in das steinerne Gesicht des Wächters, und dieser nickte zögerlich. Er hatte vergessen, ihr von diesem Zwischenfall zu berichten. Aber Tyrande bezweifelte, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Brox war misshandelt worden, und sie hatte gespürt, dass sie ihm zu Hilfe kommen musste.

»Ich weiß deine Sorge zu schätzen, Illidan, aber ich sage es noch einmal: Ich befand mich nicht in Gefahr!« Ihre Augen verengten sich, als ihr Blick auf die Verletzung des Orcs fiel. Seine Finger waren leicht geschwärzt, und der Schmerz in Brox’ Augen war offensichtlich. Trotzdem schrie der Orc nicht und bat auch nicht darum, behandelt zu werden.

Tyrande ließ Illidan stehen und kniete noch einmal bei dem Käfig nieder. Ohne zu zögern, griff sie durch die Gitterstäbe.

Illidan rief entsetzt: »Tyrande!«

»Bleib zurück! Bleibt alle zurück!« Ihre Augen trafen den misstrauischen Blick des Orcs, und sie flüsterte: »Ich weiß, dass du mich nicht verletzen wolltest. Ich kann das hier für dich heilen. Bitte. Lass mich.«

Brox knurrte, doch es klang nicht, als sei er wütend, sondern als würde er einfach seine Möglichkeiten abwägen. Illidan stand weiterhin neben Tyrande, und ihr wurde klar, dass er den Orc ein weiteres Mal mit einem Blitz angreifen würde, wenn er auch nur das geringste Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte.

»Illidan … Ich muss dich bitten, dich für einen Augenblick abzuwenden.«

»Was? Tyrande –«

»Tu es für mich, Illidan.«

Sie spürte seine unterdrückte Wut. Trotzdem gehorchte er ihrer Bitte, drehte sich um und wandte sein Gesicht einem der Gebäude zu, die den Marktplatz säumten.

Tyrande betrachtete Brox. Sein Blick hatte sich Illidan zugewandt, und für einen kurzen Moment glaubte sie, in seinen Augen Genugtuung zu lesen. Dann kehrte sich der Orc wieder ihr zu und streckte ihr vorsichtig seine verstümmelte Hand entgegen.

Sie nahm sie in ihre eigene Hand und starrte schockiert auf die Wunde. An zwei Fingern war das Fleisch teilweise weg gebrannt, und ein dritter war rot und brandig.

»Was hast du ihm angetan?«, fragte sie Illidan entsetzt.

»Etwas, das ich vor kurzem gelernt habe«, war alles, was sie zur Antwort bekam.

Es war offensichtlich kein Zauber, den er in Cenarius’ Wald gelernt hatte. Dies war ein Beispiel hoher Nachtelfen-Magie, ein Zauber, den er bestimmt mit nur wenig Konzentration gewirkt hatte. Tyrande erkannte, wie geschickt Malfurions Bruder sein konnte, wenn ihn das Thema interessierte. Scheinbar gefiel ihm das schnelle Zaubern besser als der langsame Pfad des Druiden.

Tyrande war sich nicht sicher, ob ihr seine Wahl gefiel.

»Mutter Mond, erhöre meine inständige Bitte …« Sie ignorierte die bestürzten Gesichter der Soldaten und nahm die Finger des Orcs. Sie küsste jeden von ihnen sanft. Dann sprach die Novizin mit flüsternder Stimme zu Elune und bat die Göttin um die Gabe, Brox’ Not lindern zu können, die Wunden zu heilen, die ihm Illidan zugefügt hatte.

»Streck deine Hand so weit aus, wie du kannst«, wies sie den Gefangenen an.

Die Wachleute im Auge behaltend, beugte sich Brox vorsichtig nach vorne und bemühte sich, seine groben Hände durch die Gitterstäbe zu strecken. Tyrande erwartete eine Art magischen Widerstand, doch nichts geschah. Sie nahm an, dass der Zauber des Käfigs nicht reagierte, weil der Orc keinen Fluchtversuch unternommen hatte.

Die Novizin blickte zum Himmel auf, wo der Mond genau über ihnen schwebte. »Mutter Mond … erfülle mich mit deiner Reinheit, deiner Gnade, deiner Liebe … Schenke mir die Kraft, diese Wunde zu heilen …«

Als Tyrande ihre Bitte wiederholte, hörte sie, wie einer der Soldaten aufkeuchte, Illidan begann, sich umzudrehen, doch dann entschied er offensichtlich, dass es besser war, Tyrande nicht weiter zu verärgern.

Ein Strom von silbernem Licht … Elunes Licht … wusch über die junge Priesterin. Tyrande strahlte so hell, als sei sie der Mond selbst. Sie fühlte, wie die Herrlichkeit der Göttin ein Teil von ihr wurde.

Brox wäre beinahe erschrocken vor dem wundersamen Anblick zurückgewichen. Doch er vertraute der Nachtelfin und ließ es zu, dass sie seine Hand so gut sie es vermochte in das Leuchten hinein zog.

Und als das Mondlicht seine Finger berührte, heilte das verbrannte Fleisch, die Lücken, aus denen die Knochen hervor schimmerten, schlossen sich wieder, und die schreckliche Verletzung, die Illidan verursacht hatte, verschwand.

Tyrande brauchte nur ein paar Sekunden, um den Gefangenen zu heilen. Der Orc hielt still, seine Augen weit wie die eines Kindes.

»Ich danke Euch, Mutter Mond«, flüsterte Tyrande und ließ Brox’ Hand los.

Jeder der Soldaten ließ sich auf ein Knie nieder und neigte den Kopf vor der Akolythin. Der Orc zog seine Hand an sich heran, starrte auf seine Finger und bewegte sie erstaunt. Er berührte die Haut, zuerst vorsichtig, dann mit großer Zufriedenheit, als kein Schmerz durch seine Nerven fuhr. Ein freudiges Grunzen entwich seinen wulstigen Lippen.

Plötzlich begann Brox, seinen Körper in dem kleinen Käfig zu verrenken. Zuerst fürchtete Tyrande, er habe eine weitere Verletzung erlitten, die sich erst jetzt enthüllte, aber dann hörte der Orc auf, sich zu bewegen.

»Ich ehre Euch, Schamanin«, sprach er und verneigte sich vor ihr, so gut es ihm seine Fesseln erlaubten. »Ich stehe in Eurer Schuld.«

So tief war Brox’ Dankbarkeit, dass Tyrande spürte, wie sich ihre Wangen vor Verlegenheit verdunkelten. Sie erhob sich und trat einen Schritt zurück.

Illidan wandte sich sofort um und nahm ihren Arm, als wolle er sie stützen. »Bist du in Ordnung?«

»Es geht … mir gut …« Wie sollte sie erklären, wie sie sich gefühlt hatte, als Elune sie berührte? »Es ist getan«, sagte sie schließlich nur, unfähig, eine richtige Antwort zu geben.

Schließlich erhoben sich die Soldaten, deren Respekt vor ihr noch gestiegen war. Der Vorderste der Männer trat ehrfürchtig an sie heran. »Schwester, darf ich um Euren Segen bitten?«

»Natürlich!« Der Segen der Elune wurde frei gegeben, denn die Lehren von Mutter Mond erklärten, je mehr man von ihr berührt werde, desto mehr verstünde man die Liebe und die Eintracht, die sie repräsentierte, und könne so das Verstehen an andere weitergeben.

Mit ihrer offenen Hand berührte Tyrande jeden der Wächter am Herzen, dann an der Stirn, womit die symbolische Einheit von Gedanke und Seele zum Ausdruck gebracht wurde. Jeder der Männer dankte ihr überschwänglich.

Illidan nahm wieder ihren Arm. »Du musst dich ein wenig ausruhen, Tyrande. Komm! Ich kenne einen Ort …«

Aus dem Käfig erklang Brox’ raue Stimme: »Schamanin, darf auch dieser Niedrige um Euren Segen bitten?«

Die Wachen erschraken, doch sie sagten nichts. Wenn selbst eine Bestie so höflich um den Segen einer Erwählten der Elune bat, wie hätten da sie einschreiten können?

Sie konnten es nicht, aber Illidan wohl. »Du hast genug für diese Kreatur getan. Du zitterst ja praktisch vor Erschöpfung! Komm …«

Doch sie würde sich dem Orc nicht verweigern. Tyrande befreite sich aus Illidans Griff und kniete wieder vor Brox nieder. Sie langte ohne zu zögern in den Käfig hinein, berührte die raue, haarige Haut und den harten Kopf mit den riesigen Brauen.

»Möge Elune über dich und die Deinen wachen …«, flüsterte die Novizin.

»Möge Euer Axt-Arm stets stark sein«, erwiderte er.

Diese seltsame Antwort ließ sie für einen Moment die Stirn runzeln, doch dann erinnerte sie sich daran, welche Art von Leben Brox geführt haben musste. Er wünschte ihr auf seine eigene merkwürdige Art Leben und Gesundheit.

»Ich danke dir«, antwortete sie lächelnd.

Als Tyrande sich erhob, erklang sofort wieder Illidans Stimme. »Können wir jetzt …?«

Plötzlich fühlte sie sich sehr müde. Doch es war eine wohltuende Müdigkeit. Als habe Tyrande lange und schwer für ihre Herrin gearbeitet und viel in ihrem Namen erreicht. Sie erinnerte sich auf einmal, wie lange es her war, dass sie zuletzt geschlafen hatte. Mehr als einen Tag. Gewiss hätte ihr die Weisheit von Mutter Mond geraten, in den Tempel zurückzukehren und sich in ihr Bett zu begeben.

»Bitte vergib mir, Illidan«, murmelte Tyrande. »Ich bin auf einmal sehr müde. Ich würde gerne zu meinen Schwestern zurückkehren. Du verstehst das doch, nicht wahr?«

Seine Augen wurden für einem Moment schmal, doch dann beruhigte er sich. »Ja, das ist wahrscheinlich das Beste. Soll ich dich zurück begleiten?«

»Das ist nicht nötig. Ich möchte lieber alleine gehen.«

Illidan sagte nichts, sondern gab nur durch eine Verbeugung zu erkennen, dass er ihre Entscheidung respektierte.

Sie schenkte Brox ein letztes Lächeln. Der Orc nickte. Tyrande verließ den Marktplatz und fühlte sich in ihrem Geist trotz körperlicher Erschöpfung seltsam erfrischt. Wenn es möglich war, würde sie mit der Hohepriesterin über Brox sprechen. Gewiss konnte der Tempel etwas für den Ausgestoßenen tun.

Das Mondlicht schien auf die Novizin herab, während sie durch die Straßen ging. Mehr und mehr hatte Tyrande das Gefühl, dass sie heute Nacht eine Erfahrung gemacht hatte, die sie für immer verwandeln würde. Sicher war ihre Begegnung mit dem Orc von Elune vorherbestimmt gewesen.

Sie konnte es kaum erwarten, mit der Hohepriesterin zu sprechen …


Illidan sah Tyrande nach, als sie ging, ohne ihm auch nur einen weiteren Blick zu schenken. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich noch immer ganz im Nachhall ihres Dienstes für die Göttin befand. Das erstickte jeden anderen Einfluss, auch den seinen.

»Tyrande …« Er hatte gehofft, mit ihr über seine Gefühle sprechen zu können, doch diese Chance war ruiniert. Stundenlang hatte Illidan gewartet, den Tempel heimlich beobachtet, ob sie endlich erschiene. Er hatte gewusst, dass es nicht vorteilhaft für ihn ausgesehen hätte, hätte er sich ihr in dem Augenblick angeschlossen, als sie aus dem Tempel trat. Und so hatte er im Hintergrund gewartet, hatte so tun wollen, als träfe er sie nur ganz zufällig.

Dann hatte sie die Kreatur entdeckt, die von der Mondgarde gefangen worden war, und all seine wohl überlegten Pläne waren zunichte gemacht worden. Nun hatte er nicht nur seine Gelegenheit verpasst, er hatte sich auch vor ihr zum Narren gemacht und sah jetzt aus wie der Schurke in ihrer Geschichte … und alles nur wegen eines solchen Dings!

Bevor er sich zurückhalten konnte, strömten fast lautlos Worte aus seinem Mund, und er ballte die rechte Hand zur Faust.

Ein scharfer Schrei erklang aus der Richtung des Käfigs. Schnell blickte er dorthin.

Die Gitterstäbe loderten hell auf, doch es war nicht das silberne Licht des Mondes, sondern eine wütende, rote Aura, die den Käfig umhüllte, als wollte sie ihn verschlingen … ihn und seinen Insassen.

Die widerwärtige Kreatur im Innern des Zwingers brüllte vor rasendem Schmerz, und die Soldaten rannten verwirrt wie aufgescheuchte Hühner um den Käfig herum.

Schnell murmelte Illidan den Gegenzauber.

Die Aura verschwand. Der Gefangene stellte sein Geschrei ein.

Niemand bemerkte den jungen Nachtelf, als er sich schnell vom Schauplatz entfernte. Er hatte sich von seiner Wut überwältigen lassen und nach dem offensichtlichsten Ziel geschlagen. Illidan war froh, dass die Wachen nicht die Wahrheit erkannt hatten und dass Tyrande bereits fort und nicht Zeugin seines Wutausbruchs geworden war.

Er war auch froh, dass die Männer der Mondgarde ihre magischen Barrieren um den Käfig errichtet hatten … denn wären die Schutzzauber nicht gewesen, hätte er die Kreatur im Käfig umgebracht.

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