Er lag still wie der Tod. Diese Vorstellung wurde noch dadurch verschlimmert, dass niemand mehr die Verbindung spürte, die mit ihm bestanden hatte. Malfurions Kopf lag in Tyrandes Schoß, während das weiche Gras dem Rest seines Körpers als Lager diente.
»Haben wir ihn verloren?«, fragte Jarod Shadowsong verwirrt. Der Hauptmann hatte die Gruppe an diesen Ort tief im Wald begleitet, um seinen Gefangenen Krasus weiter zu bewachen. Er hatte sich an dem Zauber nicht beteiligt, aber sie als Wächter unterstützt, als die Lage sich verändert hatte. Er hatte sich vom Bewacher zum besorgten Freund gewandelt, auch wenn er nur wenig von dem verstand, was passierte.
»Nein!«, gab Tyrande verärgert zurück. In einem freundlicheren Tonfall fügte sie hinzu: »Das darf nicht sein …«
»Er riecht nicht Tod …«, donnerte Korialstrasz’ Stimme.
Jarod Shadowsong reagierte jedes Mal nervös, wenn Korialstrasz etwas sagte. Er musste sich noch an die Anwesenheit des roten Drachen gewöhnen.
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Tyrande das vielleicht lustig gefunden, doch jetzt beachtete sie es kaum. Sie selbst hatte den Leviathan schnell akzeptiert, vor allem, da sie eine verborgene Verbindung zwischen ihm und Krasus spürte. Sie wirkten fast wie Brüder oder Zwillinge.
Der Gedanke an Zwillinge lenkte ihren Blick zurück zu Malfurions.
Krasus ging auf und ab. Er sah jetzt wesentlich gesünder aus, und die junge Priesterin hatte bemerkt, wie sehr sich sein Zustand besserte, sobald er in Sichtweite des Drachen war. Zugleich schien sich die bleiche Gestalt um Malfurion zu sorgen – und das obwohl Krasus den Nachtelf vor der Begegnung im Tempel noch nie gesehen hatte.
Brox kniete gegenüber von Tyrande und hatte seine Axt neben den erkrankten Freund gelegt. Das Kinn des Orcs berührte seine Brust, und sie konnte hören, wie er etwas murmelte, das wie Gebete klang.
»Das Gebiet war mit mächtigen magischen Energien aufgeladen«, sagte Krasus leise, wie zu sich selbst. »Teile seines Traum-Ichs könnten in alle Teile der Welt geschleudert worden sein. Vielleicht findet er sich wieder … aber wie unwahrscheinlich ist das …?«
Hauptmann Shadowsong sah die anderen an. »Vergebt mir diese unangemessene Frage, aber ist ihm wenigstens gelungen, was er sich erhofft hatte?«
Die Gestalt in der Robe sah ihn ernst an. »Das zumindest ist ihm gelungen. Ich hoffe, es hat gereicht.«
»Redet nicht so!«, empörte sich Tyrande. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und sah hinauf in den sonnigen Himmel. Trotz der Helligkeit hielt Tyrandes Blick stand. »Elune, Mutter Mond, vergib dieser Dienerin die Störung deiner Ruhe. Ich wage nicht, darum zu bitten, dass er uns zurückgegeben wird … aber gib uns bitte eine Erklärung für sein Schicksal!«
Doch kein Licht fiel auf Malfurion. Der Mond tauchte nicht urplötzlich auf und sprach zu ihnen.
»Vielleicht sollten wir ihn in den Tempel zurückbringen«, schlug der Hauptmann der Wache vor. »Vielleicht kann sie ihn dort besser hören …«
Tyrande antwortete ihm nicht.
Krasus verhielt im Schritt. Er blickte nach Süden, wo der Wald dichter wurde, kniff die Augen zusammen und spitzte die Lippen. »Ich weiß, dass du da bist.«
»Und ich weiß jetzt, was du bist«, antwortete ihm eine hallende Stimme.
Einige Bäume verschmolzen miteinander und bildeten eine Gestalt mit dem Körper eines Hirschs und einem Gesicht, das eher zu Tyrande oder Jarod Shadowsong gepasst hätte.
Mit geballten Fäusten ging Cenarius langsam auf die Gruppe zu. Er und Krasus sahen einander an, nickten einander respektvoll zu.
Der Waldgott ging zu Tyrande, die immer noch Malfurion stützte. Brox trat höflich zur Seite, während der Hauptmann der Wache den Halbgott mit offenem Mund anstarrte.
»Tochter meiner lieben Elune, deine Tränen berühren Himmel und Erde.«
»Ich weine um ihn, Milord … um einen, den auch Ihr mögt.«
Cenarius nickte. Seine Vorderläufe knickten ein, und er berührte sanft Malfurions Stirn. »Er ist wie ein Sohn für mich … und ich bin froh, dass er jemanden wie dich hat – der ihn festhält …«
»Ich … wir sind Freunde seit unserer Kindheit.«
Der Gott des Waldes lachte, ein Geräusch, das die Vögel zum Singen brachte und eine erfrischende, kühle Brise weckte. »Ja, ich habe dein Flehen an meine liebe Elune gehört, das ausgesprochene und das unausgesprochene.«
Tyrande konnte nicht verbergen, wie peinlich ihr das war. »Aber all mein Flehen war umsonst.«
Sein Gesichtsausdruck zeigte Verwirrung. »Glaubst du das? Weshalb bin ich denn hier?«
Die anderen erstarrten. Die Novizin schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht …«
»Weil du noch jung bist. Warte, bis du mein Alter erreichst …« Cenarius öffnete seine linke Faust. Ein grünes Licht stieg aus seiner Handfläche empor. Es schwebte, als müsse es sich erst zurechtfinden.
Der Halbgott erhob sich und trat zurück, um seinen Schüler zu betrachten. »Ich ging durch den Smaragdtraum und suchte Antworten auf unsere vielen furchtbaren Fragen. Ich suchte nach etwas, was man gegen die Anhänger des Todes einsetzen könnte …« Ein schwaches Lächeln erschien auf seinem bärtigen Gesicht. »… und stellt euch meine Überraschung vor, als ich einen Bekannten im Smaragdtraum fand, einen sehr verwirrten und benommenen Bekannten. Der nicht einmal mehr wusste, wer er selbst war, geschweige denn, dass er mich erkannte!«
Als Cenarius seinen Satz beendete, schwebte das Licht zu Malfurion und drang in seinen Kopf.
Der Nachtelf öffnete die Augen.
»Malfurion!«
Tyrandes Stimme war das erste, was Malfurion hörte. Er hielt sich daran fest wie an einem Strick. Mühsam zog er sich aus dem Abgrund der Bewusstlosigkeit auf ein helles, aber angenehmes Licht zu.
Als er seine Augen öffnete, saß Tyrande vor ihm in der Morgensonne. Das Tageslicht störte ihn nicht. Er hatte sogar den Eindruck, dass es ihm Tyrandes Schönheit in einer Weise enthüllte, wie er sie vorher noch nie sah.
Beinahe hätte er ihr das gesagt, aber die Gegenwart der anderen verhinderte, dass er seine Gefühle aussprach. Er berührte nur ihre Hand und nickte den anderen zu.
»Der … der Schild!« Seine Stimme klang wie die eines Froschs. »Ist er …?«
»Verschwunden, ja«, antwortete eine Gestalt, die beinahe wie ein Nachtelf aussah. Malfurion glaubte, dass das Krasus war. »Für den Augenblick wurde die Brennende Legion zurückgedrängt … zumindest an einer Front.«
Malfurion nickte. Er wusste, dass der Krieg noch nicht vorbei war und sein Volk sich weiter gegen die Vernichtung zur Wehr setzen musste. Doch das lenkte nicht vom Triumph der Nacht ab. Es gab immer noch Hoffnung.
»Wir werden gegen sie kämpfen«, versprach Tyrande. »Wir werden unsere Welt retten.«
»Sie können geschlagen werden«, stimmte Brox zu und hob stolz die Axt, die der junge Druide mit erschaffen hatte. »Das weiß ich.«
Krasus blieb pragmatisch. »Das stimmt … aber wir brauchen weitere Unterstützung. Wir brauchen die Drachen.«
»Du brauchst mehr als nur Drachen!«, donnerte Cenarius. »Und dafür werde ich sorgen.« Er wandte sich von den anderen ab, lächelte Malfurion jedoch ein letztes Mal zu. »Du hast mich mit Stolz erfüllt, mein >Thero’shan … mein Ehrenschüler.«
»Danke, Shan’do.« Er sah zu, wie der Halbgott wieder mit den Bäumen verschmolz.
»Kehren wir jetzt nach Suramar zurück?«, fragte ein Nachtelf in der Uniform der Stadtwache. Malfurion kannte ihn nicht, nahm aber an, dass man ihn aus einem bestimmten Grund mitgebracht hatten.
»Ja«, sagte Krasus. »Wir kehren zurück nach Suramar.«
Mit Tyrandes Hilfe erhob sich Malfurion. »Aber nur für kurze Zeit. Das Portal, durch das die Dämonen kamen, ist zwar zerstört, aber im Gegensatz zum Schild können die Hochgeborenen es schnell wieder herstellen. Ich befürchte, es werden weitere kommen.«
Obwohl jeder das Gegenteil hoffte, widersprach niemand. Malfurion blickte in die Richtung von Zin-Azshari. Etwas furchtbar Böses war in sein Land eingedrungen, und es musste gestoppt werden, bevor es alles auslöschte. Malfurion hatte dabei geholfen, den ersten Angriff der Brennenden Legion niederzuschlagen. Aus Gründen, die er selbst nicht verstand, wusste er, dass die Dämonen bald wieder versuchen würden, sein geliebtes Kalimdor zu vernichten.
Malfurion hoffte nur, dass er dann gewappnet sein würde. Wenn nicht, würde vielleicht nicht nur Kalimdor, sondern die ganze Welt dem Untergang geweiht sein.