11

Krasus hatte einen ganzen Tag gebraucht, bis er bemerkte, dass er und Rhonin beobachtet wurden.

Es hatte noch einen weiteren halben Tag gedauert, um zu dem Schluss zu gelangen, dass der Beobachter nichts mit Cenarius zu tun hatte.

Wer es war, der die Fähigkeit besaß, seine Gegenwart vor dem mächtigen Halbgott zu verbergen, konnte der Drachenmagier nicht sagen.

Einer von Cenarius’ Gegenstücken? Nicht sehr wahrscheinlich. Der Herr des Waldes war gewiss zu vertraut mit ihren Schlichen oder den Tricks ihrer Diener.

Die Nachtelfen? Krasus verwarf auch dies sofort, ebenso die Möglichkeit, dass irgendein anderes sterbliches Volk den Lauscher gesandt haben könnte.

So blieb ihm nur noch eine logische Schussfolgerung … dass derjenige, der Cenarius und seine beiden »Gäste« ausspionierte, ein Mitglied von Krasus’ eigenem Volk war.

Dort, woher er kam, sandten die Drachen Beobachter aus, um jene im Auge zu behalten, in denen sie das Potenzial spürten, die Welt zu verändern, sei es nun zum Guten oder zum Schlechten. Menschen, Elfen, Zwerge, Orcs – unter jedem Volk bewegten sich Spione. Die Drachen betrachteten diese Vorgehensweise als ein notwendiges Übel. Wenn man die jüngeren Völker sich selbst überließ, neigten sie zu Katastrophen. Und auch in dieser Periode der Vergangenheit gab es mit Sicherheit irgendeine Art von Spionen. Krasus zweifelte nicht daran, dass einige von ihnen ein misstrauisches Auge auf Zin-Azshari warfen … aber es war typisch für die Seinen, nichts zu unternehmen, bis sie sich absolut sicher waren, dass eine Katastrophe tatsächlich unmittelbar bevorstand.

In diesem Fall würde es dann bereits zu spät zum Einschreiten sein.

Vor Cenarius hatte er seine Geheimnisse wahren können, aber wenn er es mit einem seiner eigenen Brüder zu tun hatte, selbst einem aus dieser Vergangenheit, dann, so entschied Krasus, musste er ihm preisgeben, was er wusste. Wenn irgendjemand die potenzielle Katastrophe verhindern konnte, die seine und Rhonins Anwesenheit in dieser Zeit vielleicht bereits ausgelöst hatte, dann waren es die Drachen … und auch nur dann, wenn sie bereit waren zuzuhören.

Er wartete ab, bis sein menschlicher Gefährte schlief und die Wahrscheinlichkeit, dass Cenarius plötzlich zurückkehrte, gering war. Stille, unsichtbare Waldgeister kümmerten sich um die Bedürfnisse von Krasus und Rhonin. Essen erschien zu bestimmten Zeiten, und die Reste verschwanden, sobald das Paar fertig gespeist hatte. Andere Bedürfnisse menschlicher Natur wurden in ähnlicher Weise behandelt. So konnte Cenarius seine mysteriösen Gespräche mit seinen Gegenstücken weiterführen – die, da es sich um Gottheiten handelte, Tage, Wochen, Monate oder sogar noch länger dauern konnten –, ohne sich sorgen zu müssen, dass seine Gäste in seiner Abwesenheit verhungerten.

Egal in welchem Zyklus sich der Mond gerade befand, auf der Lichtung war es stets so hell wie am Tag. Sobald er sicher war, dass Rhonin fest schlief, erhob sich Krasus leise und schritt auf die Barriere der Blumen zu.

Selbst jetzt, da es Nacht war, richteten sie ihre Blütenköpfe sofort auf ihn. Der Drachenmagier trat so nahe an sie heran, wie er konnte, ohne sie zu aufzuwecken, und spähte in den Wald, der hinter ihnen lag. Eindringlich studierte er die dunklen Bäume. Er kannte die Geheimnisse der Tarnung, die seine Art benutzte, besser als jeder andere, besser noch als ein Halbgott. Was auch immer Cenarius möglicherweise übersehen hatte, Krasus würde es finden.

Zuerst erschienen ihm die Bäume alle gleich. Er musterte jeden von ihnen der Reihe nach, dann ein weiteres Mal, Baum für Baum. Noch immer hatte er nichts entdeckt. Sein Körper bettelte um Schlaf, doch Krasus weigerte sich, seiner natürlichen Schwäche nachzugeben. Wenn er dies einmal tat, so fürchtete er, würde er sich nie wieder davon erholen.

Plötzlich blieb sein Blick an einer hoch aufragenden Eiche mit einem besonders dicken Stamm hängen.

Der müde Zauberer fasste sie scharf ins Auge und legte einen mentalen Schutz um seine Gedanken. Dann konzentrierte er sich auf den Baum.

Ich kenne dich … Ich weiß, was du bist, Beobachter …

Nichts geschah. Keine Antwort. Einen kurzen Moment lang fragte sich Krasus, ob er sich geirrt haben könnte, doch Jahrhunderte der Erfahrung widersprachen dem.

Er unternahm einen weiteren Versuch. Ich kenne dich … Getarnt als Teil des Baumes beobachtest du uns und den Herrn des Waldes. Du fragst dich, wer wir sind, warum wir hier sind.

Krasus fühlte, wie sich eine Präsenz regte, wenn auch nur sehr verhalten. Dem Beobachter war das plötzliche Eindringen in seine Gedanken unangenehm, und er war noch nicht bereit, sich zu offenbaren.

Ich könnte dir vieles sagen, das ich vor dem Herrn des Waldes geheim halten musste … doch ich würde es vorziehen, wenn ich nicht mit einem Baumstamm sprechen müsste …

Du bringst uns beide in Gefahr, antwortete schließlich ein etwas arrogant klingender Geist. Der Halbgott könnte uns seinerseits beobachten.

Der Drachenmagier verbarg seine Freude über die Antwort hinter einer Maske stoischer Gelassenheit. Du weißt so gut wie ich, dass er nicht hier ist … und vor den Augen jedes anderen Betrachters kannst du uns tarnen.

Eine kleine Weile lang geschah nichts. Krasus fragte sich, ob er zu weit gegangen war. Dann riss sich plötzlich ein Teil des Stammes von dem Baum los und nahm eine humanoide Gestalt aus durchfurchter Rinde an. Als das große Wesen näher trat, verschwand die Borke und verwandelte sich in lange, fließende Gewänder und ein schmales Gesicht, das durch einen Zauber in undurchdringliche Schatten gehüllt war. Diese Art von Magie war Krasus wohlbekannt, und auf eine seltsame Weise tat es ihm gut, in dieser fernen Zeit auf etwas so Vertrautes zu treffen.

In Kleidung gehüllt, die die Farbe der Bäume hatte, hielt die praktisch gesichtslose Gestalt an der äußersten Grenze der magischen Lichtung inne. Unsichtbare Augen studierten Krasus von Kopf bis Fuß, und obwohl der gefangene Magier in keinem Mienenspiel lesen konnte, war er sicher, dass der andere frustriert war.

»Wer bist du?«, fragte der Beobachter leise.

»Man könnte sagen, ein verwandter Geist.«

Darauf reagierte der andere mit einem gewissen Unglauben. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst …«

»Ich weiß genau, wovon ich spreche«, erwiderte Krasus mit fester Stimme. »Ebenso weiß ich, dass sie, die man Alexstrasza nennt, die Königin des Lebens ist. Er, der den Namen Nozdormu trägt, ist die Zeit selbst. Ysera ist die von den Träumen, und Malygos die inkarnierte Magie …«

Die Gestalt brauchte einen Augenblick, um die Namen zu verdauen. Dann schien es, als warte sie auf etwas, und als Krasus schwieg, flüsterte sie: »Du hast jemanden vergessen.«

Krasus unterdrückte ein Keuchen und nickte. »Und Neltharion ist die Erde und der Fels, der Wächter des Landes.«

»Nur wenige außerhalb meines Volkes kennen diese Namen, aber ein paar kennen sie. Unter welchem Namen könnte ich dich kennen, wenn ich dich für einen von meiner Art hielte?«

»Man kennt mich als … Korialstrasz.«

Der andere lehnte sich zurück. »Dies ist ein Name, den ich kenne, gehört er doch einem Gemahl der Königin des Lebens – doch hier stimmt etwas nicht. Ich habe seit deiner Gefangennahme alles beobachtet, und du verhältst dich nicht wie einer von meiner Art. Cenarius ist mächtig, sehr mächtig, aber er sollte dich nicht so einfach gefangen halten können, nicht den, den man Korialstrasz nennt …«

»Ich wurde schwer verletzt.« Krasus unterstrich seine Erklärung mit einer geringschätzigen Handbewegung. »Aber wir haben wenig Zeit! Ich muss Alexstrasza erreichen und ihr sagen, was ich weiß! Kannst du mich zu ihr bringen?«

»Einfach so? Du besitzt tatsächlich die Arroganz eines Drachens! Warum sollte ich es riskieren, die Wut des Waldgottes auf alle Drachen zu ziehen? Nur weil du mir einreden willst, du seiest selbst ein Drache? Cenarius würde erkennen, dass er beobachtet wird, und dementsprechend handeln.«

»Warum? Nun, weil die mögliche Bedrohung dieser Welt – unserer Welt – wichtiger ist als die beleidigte Würde eines Halbgottes.« Der Drachenmagier atmete tief ein und fuhr fort: »Und wenn du es mir erlaubst, werde ich dir enthüllen, was ich meine …«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir vertrauen soll«, sagte der Beobachter und legte seinen Kopf auf die Seite. »Doch bei deinem Zustand glaube ich nicht, dass ich viel von dir zu befürchten habe. Wenn du kannst … dann zeige mir, was deine Worte so mit Sorge erfüllt.«

Krasus sparte sich einen Kommentar, aber er mochte den anderen Drachen immer weniger. »Wenn du bereit bist …«

»Tu es.«

Ihre Geister berührten einander … und Krasus enthüllte die Wahrheit.

Unter der machtvollen Brandung der Bilder wich der andere Drache zurück. Der Schattenzauber um seinen Kopf löste sich für einen Augenblick auf und ließ eine seltsame Mischung aus reptilischen und elfischen Zügen erkennen, die in einem Ausdruck absoluten Unglaubens gefroren waren.

Doch die Schatten kehrten so schnell zurück, wie sie verschwunden waren, und obwohl ihm das, was er gerade geschaut hatte, offenkundig noch zu schaffen machte, gewann der Beobachter einen Teil seiner Fassung zurück. »Das ist unmöglich …«

»Ich fürchte, es ist eher wahrscheinlich.«

»Das sind Hirngespinste, die du selbst erfunden hast!«

»Ich wünschte, dem wäre so«, erklärte Krasus traurig. »Verstehst du jetzt, warum ich mit der Königin sprechen muss?«

Der andere schüttelte den Kopf. »Was du verlangst, ist –«

Plötzlich erstarrten beide Drachen. Sie spürten gleichzeitig, wie sich eine überwältigende Macht näherte.

Cenarius! Der Halbgott kehrte unerwartet zurück!

Sofort floh der Beobachter von der Lichtung. Krasus, der fürchtete, seine einzige Chance verloren zu haben, rief ihm nach: »Nein! Du musst mir helfen! Ich muss mit Alexstrasza sprechen!«

Er streckte seinen Arm in Richtung des Fliehenden aus und griff dabei über die Blumen hinweg. Die Blüten reagierten, öffneten sich sofort und besprühten ihn mit ihrem magischen Staub.

Krasus’ Welt verschwamm. Er taumelte vorwärts, stürzte in ihre Mitte.

Plötzlich fingen ihn starke Arme auf. Er hörte ein leises, besorgtes Zischen und wusste, dass der andere Drache ihn gepackt hatte.

»Ich bin ein Narr, dasss ich dasss tue!«, hörte Krasus ein wütendes Flüstern.

Krasus dankte dem Beobachter still für seine Entscheidung. Doch dann überwältigte jähes Begreifen den zusammenbrechenden Magier. Er versuchte, etwas zu sagen, aber aus seinem Mund kam nur ein unartikuliertes Stöhnen.

Als die Welt um ihn herum schwarz wurde, galten seine letzten Gedanken nicht länger der Dankbarkeit gegenüber dem anderen Drachen, der ihm endlich half … sondern nur noch der enttäuschten Wut auf sein eigenes Versagen. Weil er nicht dafür hatte sorgen können, dass der andere auch Rhonin mitnahm.


Die Panther eilten durch den dichten Wald, und der unglückselige Brox hatte große Schwierigkeiten, nicht den Halt auf seiner Katze zu verlieren. Obwohl er daran gewöhnt war, die riesigen Wölfe zu reiten, die seinem Volk dienten, waren die Bewegungen dieser Geschöpfe auf eine schwer beschreibbare Weise anders. Sie brachten den Orc in Not, und er klammerte sich verzweifelt an die Zügel.

Er konnte vor sich gerade noch Malfurions schattenhafte Gestalt ausmachen, der tief über sein eigenes Tier gebeugt ritt und es mal in eine Richtung, mal in eine andere trieb. Brox war froh, dass sein Befreier überhaupt einen Weg kannte, gleichzeitig hoffte er, dass die beschwerliche Reise nicht mehr lange dauern würde.

Bald würde die Sonne aufgehen. Der Orc hatte dies für etwas Schlechtes gehalten, denn dann würde man sie schon aus großer Entfernung erkennen können. Aber Malfurion hatte angedeutet, dass ihnen der Tagesanbruch zum Vorteil sein würde. Falls die Mondgarde sie verfolgte, würden die Fähigkeiten der elfischen Zauberer nachlassen, sobald die Finsternis schwand.

Aber natürlich gab es dann noch immer die Soldaten, die ihnen auf den Fersen waren.

Hinter sich hörte Brox die immer lauter werdenden Geräusche der Verfolger. Hörner, ferne Schreie, das gelegentliche Knurren eines Panthers. Er hatte geglaubt, das Malfurion einen besseren Plan hatte, als einfach nur darauf zu hoffen, die anderen Reiter abhängen zu können. Doch offenbar war dies nicht der Fall. Sein Befreier war kein Krieger, sondern lediglich eine Seele, die versucht hatte, das Richtige zu tun.

Die Schwärze der Nacht begann dem Morgengrauen zu weichen, doch es war ein trübes, dumpfes Grau – Frühnebel. Der Orc hieß den unerwarteten Dunst willkommen, mochte er auch bald wieder verschwunden sein. Aber er hoffte, dass sein Reittier Malfurion darin nicht verlieren würde.

Vage Formen erschienen um ihn herum und verschwanden wieder. Dann und wann glaubte Brox, Bewegung auszumachen. Seine Hand sehnte sich nach seiner treuen, alten Streitaxt, die sich noch immer in der Obhut der Nachtelfen befand. Malfurion hatte ihm keine Waffe ausgehändigt, wohl eine Vorsichtsmaßnahme aus Misstrauen gegenüber dem kriegerischen Fremdling.

Wieder erklangen die Hörner, dieses Mal näher. Der alte Orc knurrte.

Malfurion verschwand im Nebel. Brox richtete sich auf seinem Panther auf und versuchte, seinen Gefährten ausfindig zu machen. Er fürchtete, sein eigenes Tier könnte nun in eine vollkommen andere Richtung davonstürmen.

Unvermittelt wich der Panther mit einem abrupten Manöver einem großen Felsen aus, und der überraschte Orc verlor das Gleichgewicht.

Mit einem entsetzten Grunzen stürzte Brox vom Rücken der flinken Katze, krachte kopfüber auf den harten, unebenen Boden und rollte in ein Gebüsch.

Seine geübten Reflexe übernahmen das Kommando, und Brox kam in gebückter Stellung wieder hoch. Er war bereit, erneut auf seinen Panther zu klettern, doch das Tier, das das Missgeschick des Orcs offenbar gar nicht bemerkt hatte, rannte einfach weiter und verschwand im Nebel.

Und die Geräusche der Verfolger wurden immer lauter.

Sofort suchte Brox nach etwas – irgendetwas –, das er als Waffe benutzen konnte. Er hob einen abgebrochenen Ast auf, der jedoch augenblicklich zwischen seinen Händen zerbröckelte. Die einzigen Felsen hier waren entweder zu klein, um von Nutzen zu sein, oder so groß, dass sie sich kaum bewegen ließen.

Im Gebüsch zu seiner Linken raschelte etwas.

Der Orc bereitete sich auf einen Angriff vor. Falls es ein Soldat war, hatte er eine gute Chance. War es ein Mitglied der Mondgarde, standen Brox’ Karten äußerst schlecht, aber auch dann würde er sich nicht kampflos ergeben.

Eine riesige, hechelnde, vierbeinige Gestalt brach aus dem nebelverhangenen Wald.

Der Schreck fuhr Brox bis ins Mark, denn was dort auf ihn zusprang, war kein Panther. Sein Heulen erinnerte an einen Wolf, doch damit erschöpfte sich auch schon die Ähnlichkeit. An den Schultern war es etwa genauso groß wie er selbst, und aus seinem Rücken ragten zwei abscheuliche, ledrige Tentakel hervor. Die Schnauze der Bestie füllten Reihe um Reihe wilde, scharfer Fänge, von denen dicker, grünlicher Speichel herab tropfte.

Schlimme Erinnerungen stürmten auf den Geist des Orcs ein. Er hatte solchen Schrecken schon gesehen, auch wenn er noch nie selbst dagegen gekämpft hatte. Sie waren vor den anderen Dämonen her gerannt, riesige Rudel geifernder, bösartiger Monster.

Feibestien … die Vorhut der Brennenden Legion. Doch bevor die Feibestie ihn erreicht hatte, erwachte Brox aus seinen Schreckenserinnerungen. Er warf sich nach vorne, unter den Körper der riesigen Kreatur, die auf ihm entgegensprang. Die Feibestie versuchte, ihn mit ihren Krallen zu erwischen, aber ihr eigener Schwung trug sie über ihn hinweg. Das Monster kam mit einem Straucheln zum Halten und blickte zurück auf die dreiste Beute, die sich offenbar entschieden hatte, ihr Widerstand entgegenzusetzen.

Der Orc hieb dem Tier mit der Faust auf die Nase.

Bei den meisten Geschöpfen hätte ein solcher Schlag wahrscheinlich nur zu wenig mehr als dem Bruch der Handknochen geführt, aber Brox war nicht nur ein Orc, er war auch ein schneller und starker Orc. Er griff an, bevor die Feibestie reagieren konnte, und er tat es mit all der Wut und all der Kraft der stärksten Krieger seines Volkes.

Der Schlag zerschmetterte die Nase des dämonischen Hundes. Die Bestie stolperte markerschütternd heulend zurück, und eine dicke, dunkelgrüne Flüssigkeit troff aus ihrer Wunde.

Brox’ Hand pochte vor Schmerz, aber er hielt seinen Blick fest auf die Augen des Gegners gerichtet. Man durfte keinem Tier gegenüber Angst zeigen, vor allem keinem, das so höllisch war wie dieses hier. Nur indem er sich seinem Feind stellte, hatte der Orc eine Chance zu überleben, so klein diese auch sein mochte.

Dann brach plötzlich Brox’ Reittier aus dem Nebel hervor, in dem es zuvor verschwunden war. Das Fauchen der Katze brachte die Feibestie dazu, sich umzudrehen. Plötzlich hatte sie jedes Interesse an dem Orc verloren. Die beiden Ungetüme kollidierten in einem Wirbel aus von Krallen und Zähnen.

Brox, der wusste, dass er nichts für den Panther tun konnte, begann zurückzuweichen. Doch ihm waren erst wenige Schritte gelungen, als hinter ihm ein leises Hecheln erklang. Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen spähte der Orc über seine Schulter.

Nur wenige Yards von ihm entfernt machte sich eine zweite Feibestie sprungbereit.

Da er keine andere Möglichkeit sah, entschied sich der frustrierte Krieger schließlich für die Flucht.

Der zweite Dämon nahm heulend die Verfolgung auf. Die beiden ineinander verkrallten Tiere ignorierten ihn, waren sie doch ganz in ihrem eigenen Kampf gefangen. Der Panther hatte bereits zwei tiefe Wunden empfangen und würde nicht mehr lange durchhalten, aber Brox dankte der Kreatur still für diese, wenn auch nur vorübergehende Rettung. Dann wandten sich seine Gedanken wieder seiner eigenen Lage zu. Er musste versuchen, seinen Verfolger in dem nebligen Wald abzuschütteln.

Wo auch immer der Pfad am engsten wurde, versuchte der Orc sich durchzupressen. Die viel breitere Feibestie musste die natürlichen Hindernisse umgehen oder versuchen, sie unter Aufbietung all ihrer Kräfte niederzuwalzen – und das ermöglichte es Brox, knapp außerhalb ihrer Reichweite zu bleiben. Er hasste es, immer weiter rennen zu müssen, doch ohne eine Waffe hatte er keine Chance, das Monster zu besiegen.

In seinem Rücken erklang der traurige Ruf eines sterbenden Tieres, und Brox wusste, dass der Panther seinen Kampf verloren hatte. Bald würden zwei Feibestien hinter dem Blut des Orcs her sein.

Vom Todesschrei der Katze abgelenkt, achtete Brox nicht genug auf seinen Weg. Plötzlich schien eine Baumwurzel hochzuspringen, als wolle sie nach seinen Fuß schnappen. Es gelang ihm gerade noch, einen Sturz zu verhindern, aber er war aus dem Gleichgewicht geraten und taumelte wild zur Seite. Er suchte an einem schlanken, blattlosen Baum Halt, der nur um einen Kopf höher war als er selbst. Doch der dünne Stamm brach unter seinem Griff ab, und Brox kollidierte mit einem viel größeren, viel härteren Baum.

Der Kopf des Orcs schmerzte, und er konnte sich kaum auf das anstürmende Ungeheuer konzentrieren. Den kleinen Baum noch immer in Händen, schwang er ihn herum und stach mit ihm zu, als wäre es eine Lanze.

Der Dämonenhund schlug nach der armseligen Waffe, riss das ganze obere Drittel ab und hinterließ ein Ende voller ausgefranster Splitter. Der Blick des Orcs war noch immer verschwommen, als er sich weiter an dem festhielt, was noch von dem Baum übrig war, und damit auf das Monster losstürmte.

Der Schaden, den die Feibestie angerichtet hatte, verlieh der behelfsmäßigen Lanze eine Tödlichkeit, die sie zuvor nicht besessen hatte. Brox stieß sie mit aller Kraft vor und bohrte das scharfe, zersplitterte Ende tief in den aufgesperrten Rachen des Tieres.

Mit einem würgenden Heulen versuchte der Dämon zurückzuweichen, doch Brox ließ nicht von ihm ab und legte alle Kraft seines Körpers in das Bemühen, die Lanze tiefer in das Maul der Bestie zu rammen.

Einer der Tentakel griff nach ihm. Der Orc ließ mit einer Hand die Lanze los, packte den peitschenähnlichen Strang und zog daran so fest er konnte.

Mit einem feuchten Geräusch riss der Fangarm ab.

Ihre eigenen abscheulichen Körpersäfte flossen nun über den Leib der Bestie, und ihre Vorderbeine gaben nach. Auch jetzt ließ Brox den Baum noch nicht los, passte sich lediglich jeder der zunehmend verzweifelter werdenden Bewegungen seines Gegners an.

Die Hinterbeine des Tieres brachen ein. Sein Schwanz zuckte panisch, während die fürchterlichen Pranken nach dem Fremdkörper in seiner Kehle schlugen. Es gelang dem Monster schließlich, Brox’ Waffe entzwei zu brechen, aber das Vorderteil blieb fest in seinem Maul stecken.

Der Orc, der wusste, dass die Feibestie sich immer noch erholen mochte, suchte verzweifelt nach etwas, um seine verlorene Lanze zu ersetzen.

Stattdessen sah er sich wieder seinem ersten Feind gegenüber.

Die andere Feibestie hatte tiefe Wunden, die über ihren gesamten Körper verliefen, und zusätzlich zu der zerschmetterten Nase, die Brox ihr beigefügt hatte, war ein großes Stück Fleisch aus ihrer Schulter gerissen worden. Doch trotz ihres verschlechterten Zustands wirkte die Kreatur mehr als gesund genug, um den erschöpften Orc töten zu können.

Brox ergriff einen dicken, abgebrochenen Ast und schwang ihn wie ein Schwert. Aber er wusste, dass er am Ende seiner Glückssträhne angelangt war. Der Ast war nicht annähernd stark genug, um das riesige Monster abzuwehren.

Die Feibestie ging in die Hocke. Die Muskulatur ihrer Hinterbeine spannte sich an …

Doch als sie sprang, erwachte plötzlich der Wald selbst zum Leben, um Brox zu verteidigen. Das wilde Gras und die Blumen unter der dämonischen Kreatur begannen stürmisch zu wachsen und schossen mit solch erstaunlicher Schnelligkeit hoch, dass sie die Feibestie erfassten, unmittelbar nachdem sie gerade den Boden unter sich zurückgelassen hatte.

Mit hoffnungslos verfangenen Gliedmaßen krachte das Monster wieder zu Boden. Es knurrte und schnappte nach dem Gras, und seine beiden Tentakel streckten sich nach unten und versuchten, die Pflanzen anzugreifen, die es von seiner Beute fernhalten wollten.

»Brox!«

Malfurion ritt auf den Orc zu und sah ebenso erschöpft aus, wie auch Brox sich fühlte. Der Nachtelf kam direkt neben ihm zum Stehen und streckte eine Hand nach ihm aus.

»Ich schulde dir wieder etwas«, knarrte die Stimme des alten Kriegers.

»Du schuldest mir nichts.« Malfurion blickte auf die gefangene Feibestie. »Vor allem, da es scheint, als würden die Pflanzen das Monster nicht mehr lange bändigen können!«

Und tatsächlich, wo immer die abscheulichen Tentakel das Gras und die Blumen berührten, welkten die Pflanzen. Eine Vorderpfote hatte das Tier bereits befreien können, und während die Feibestie noch daran arbeitete, ihre anderen Gliedmaßen zu befreien, versuchte sie bereits, nach Brox und dem Nachtelf zu schlagen.

»Magie …«, murmelte Brox und erinnerte sich an ähnliche Schauspiele. »Es verschlingt die Magie …«

Mit grimmigem Gesicht half Malfurion seinem Gefährten auf den Panther. Die Katze grunzte, aber das war ihr einziger Protest gegen das zusätzliche Gewicht. »Dann sollten wir besser schleunigst verschwinden.«

Ein Horn erschallte, dieses Mal so nah, dass Brox fast damit rechnete, den Trompeter sehen zu können. Die Verfolger aus Suramar hatten sie fast eingeholt.

Plötzlich zögerte Malfurion. »Sie werden genau in diese Bestie hinein reiten! Wenn ein paar von ihnen Mondgardisten sind …«

»Magie kann eine Feibestie trotzdem töten, wenn es genug davon gibt, Nachtelf … Aber wenn du bleiben und zusammen mit ihnen gegen die Bestie kämpfen willst, werde ich dir zur Seite stehen.« Dass dies entweder seinen Tod oder seine erneute Gefangennahme bedeutet hätte, erwähnte Brox nicht. Er würde Malfurion, der ihn bereits zweimal gerettet hatte, nicht im Stich lassen.

Der Morgennebel begann sich bereits zu lichten, und in der Ferne waren vage Gestalten auszumachen. Malfurion packte die Zügel fester und drehte den Panther abrupt von der Feibestie und den sich nähernden Reitern weg. Ohne ein Wort trieb er die große Katze zu ihrem Höchsttempo an, und sie ließen beide Bedrohungen hinter sich zurück.

Inzwischen hatte die Feibestie ein weiteres Bein befreit, und ihre Aufmerksamkeit wandte sich bereits den immer lauter werdenden Geräuschen zu, die ihr eine neue Beute ankündigten …


Etwas riss Rhonin aus seinem Schlummer, und er spürte sofort, dass es etwas Beunruhigendes war.

Er bewegte sich nicht sofort. Stattdessen öffneten sich seine Augen gerade weit genug, um einen Teil seiner Umgebung erkennen zu können. Im anbrechenden Tageslicht erkannte der Zauberer die Bäume, die die Lichtung säumten, die mit Vorsicht zu genießende Barriere der Blumenwächter und das Gras, auf dem er lag.

Was Rhonin nicht ausmachen konnte, war Krasus.

Er setzte sich auf. Gewiss war der Drachenmagier irgendwo auf der Lichtung.

Er blickte sich um, aber es war nicht zu leugnen: Krasus war fort.

Misstrauisch erhob sich der Zauberer und trat an den Rand der Lichtung. Die Blumen wandten sich ihm zu, und jede der Blüten öffnete sich weit. Rhonin war versucht auszuprobieren, wie stark sie tatsächlich waren, aber er nahm an, dass der Halbgott sie wohl kaum hier eingesetzt hätte, wären sie nicht in der Lage gewesen, mit einem normalen Sterblichen fertig zu werden.

Rhonin spähte in den Wald und rief leise: »Krasus?«

Nichts.

Der Zauberer starrte auf die Bäume, die direkt an sein Gefängnis grenzten, und runzelte die Stirn. Irgendetwas war anders, aber er konnte nicht genau sagen, was.

Er trat zurück, versuchte nachzudenken … und plötzlich merkte er, dass sich ein Schatten über ihn gelegt hatte.

»Wo ist der andere?«, verlangte Cenarius zu wissen, und in seiner Stimme lag nicht die geringste Spur von Freundlichkeit. Der gerade noch klare Himmel begann plötzlich zu grollen, als ziehe in der Ferne ein Gewitter auf. Ein scharfer Wind fegte aus dem Nichts und traf den Menschen wie eine Ohrfeige. »Wo ist Euer Freund?«

Rhonin wandte sich dem hoch aufragenden Waldgott zu und versuchte, keine Regung zu zeigen. »Ich weiß es nicht. Ich bin gerade erst aufgewacht, und da war er verschwunden.«

Die goldenen Augen der geweihgekrönten Gestalt loderten auf, und sein finsterer Blick ließ es kalt über Rhonins Rücken laufen. »In der Welt häufen sich böse Vorzeichen. Ein paar der anderen haben gerade eben Eindringlinge aufgespürt, Kreaturen, die keinen natürlichen Ursprung haben. Sie schnüffeln herum. Sie suchen etwas – oder jemanden.« Er betrachtete den Zauberer sehr genau. »Und das alles geschieht so kurz, nachdem Ihr und Euer Freund aus dem Nichts gefallen seid …«

Rhonin konnte nur raten, worum es sich bei diesen unbekannten Kreaturen handeln mochte, aber wenn er mit seiner Ahnung Recht behielt, blieb ihm und Krasus sogar noch weniger Zeit, als sie geglaubt hatten.

Nachdem sein »Gast« nichts zu der neuen Entwicklung zu sagen hatte, fügte Cenarius hinzu:

»Euer Freund hätte nicht ohne Hilfe entkommen können, aber er lässt Euch zurück. Wie kommt das?«

»Ich …«

»Unter den anderen gab es Stimmen, die der Meinung waren, ich hätte Euch und Euren Gefährten sofort an sie übergeben sollen. Sie wollten gründlichere Methoden einsetzen als die meinen, um herauszufinden, warum ihr hier seid und was es ist, das die Nachtelfen so an euch interessiert. Ich hatte sie bisher von meiner Vorgehensweise überzeugen können …«

Auf einmal spürte Rhonin die Präsenz einer anderen starken Macht, die auf ihre eigene Art jener von Cenarius in nichts nachstand.

»Jetzt sehe ich, dass ich mich der Mehrheit werde beugen müssen«, beendete der Herr des Waldes mit trauriger Stimme seine Ausführungen.

»Wir hörten deinen Ruf …«, knurrte eine tiefe, schwere Stimme. »Du gibst zu, dass du Unrecht hattest …«

Der Zauberer wollte sich umdrehen, um zu erkennen, wer dort gerade sprach, aber seine Beine verweigerten ihren Dienst. Sein ganzer Körper war wie gelähmt.

Etwas, das noch riesiger als der Halbgott war, näherte sich Rhonin von hinten.

Cenarius schien über die Bemerkungen des anderen überhaupt nicht erfreut zu sein, sagte aber: »Ich gebe nur zu, dass man jetzt andere Schritte unternehmen muss.«

»Die Wahrheit wird enthüllt werden …« Eine schwere, pelzbesetzte Hand mit dicken Klauen schloss sich um Rhonins Schulter und packte schmerzhaft zu. »… schon sehr bald …«

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