Die Zukunft sah rosig aus – zumindest für Lord Xavius.
Seine Träume und Ziele waren zum Greifen nah, und der Erhabene zeigte sich zufrieden mit seiner Leistung. Dem Schildzauber, den er und Mannoroth initiiert hatten, war es nicht nur gelungen, alle außer den Hochgeborenen von der Macht der Quelle zu trennen, er hatte es ihnen auch ermöglicht, das Tor auszudehnen und zu stärken. In nur wenigen Stunden hatten es Hunderte Himmelssoldaten durchschritten.
Mannoroth hatte sofort das Kommando übernommen und sie ausgeschickt, um die Unreinen zu vernichten. Früher einmal hätte diese Idee Xavius entsetzt, doch jetzt stand er voll und ganz hinter Sargeras’ Methoden und Ansichten. Der Gott wusste schließlich am besten, wie er das perfekte Paradies, nach dem sich Xavius sehnte, erschaffen konnte. Hatte er nicht die Anwesen der Hochgeborenen komplett verschont? Die, die dem Palast dienten, würden ein neues Goldenes Zeitalter des Volkes der Nachtelfen erschaffen, eine Ära, die alles davor in den Schatten stellen würde.
Lord Xavius fühlte sich geehrt, dass er die Arbeit überwachen durfte, die all das ermöglichte. Er achtete sorgfältig auf das Gleichgewicht des Zaubers, der den Schild konstant hielt. Die Anstrengung, die dafür notwendig war, hatte selbst Mannoroth unterschätzt. Wenn der Zauber jetzt fehlschlug, würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als das Portal zu versiegeln und die vereinte Macht der hochgeborenen Zauberer zum Einsatz zu bringen.
Doch Xavius hatte nicht vor, eine solche Katastrophe zuzulassen. Er erwartete auch keine Probleme. Was sollte hier im Herzen des Palasts schon geschehen?
Eine ernste Gestalt betrat die Kammer und sah sich ungeduldig um. »Wo issst Mannoroth?«, zischte der Herr der Hunde.
»Er kommandiert natürlich die Armee«, antwortete der Nachtelf. »Er reinigt Zin-Azshari von den Unvollkommenen.«
Etwas an Hakkars Gesichtsausdruck verstörte Xavius für einen Moment. Es schien fast so, als habe der Berater etwas gesagt, das der Herr der Hunde amüsant fand. Um was es sich dabei handeln sollte, wusste der Nachtelf jedoch nicht.
Im Portal erschienen vier weitere Feiwachen. Einer der noch bedrohlicher wirkenden Wächter der Verdammnis stand in ihrer Nähe. Er bellte etwas in einer unbekannten Sprache, und die Neuankömmlinge marschierten sofort aus der Kammer.
Die Himmelsarmee bewegte sich mit erstaunlicher militärischer Disziplin. Sie gehorchten allen Befehlen sofort und waren sich ständig ihrer Pflicht bewusst. Selbst Hauptmann Varo’thens Elitegarde verblasste im Vergleich dazu – zumindest war das Xavius’ Eindruck.
»Wie laufen die Vorbereitungen für die Jagd?«, wandte sich der Berater an Hakkar.
Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Herrn der Hunde. »Sssie laufen gut, Lord Nachtelf. Meine Hunde und die Feibestien, die sie begleiten, haben genaue Befehle erhalten. Mannoroth wird die bekommen, deren Gefangennahme er wünscht.«
Er drehte sich um und verließ den Raum. Zurück blieb ein merkwürdig zufriedener Lord Xavius. Obwohl er den Rang des Herrn der Hunde respektierte, sah er sich selbst doch eher auf einer Stufe mit dem jüngsten Gesandten des Erhabenen, mit Mannoroth.
Der Berater blickte erneut zu dem Zauber, den er mit geholfen hatte zu erschaffen. Nur wenige Schritte vom Portal entfernt hingen blaue, blinkende Knoten über dem Diagramm, das Mannoroth gezeichnet hatte. Sie waren die einzigen klar erkennbaren Teile des Zaubers. Mit seinen magischen Augen vermochte Xavius jedoch die komplizierten, pulsierenden Muster zu erkennen, die eine bunte und mächtige Verbindung magischer Kräfte darstellten. Darüber hatte er die Macht.
Und nicht nur darüber, sondern auch über das Schicksal seines eigenen Volkes … und das der ganzen Welt.
Der Tempel der Elune musste nicht vor der Katastrophe gewarnt werden, die über das Reich der Nachtelfen gekommen war. Persönlich hatte der Verlust der Quelle die Priesterinnen nicht beeinträchtigt, auch wenn sie natürlich die plötzliche Leere spürten. Als Bittsteller zu den verschiedenen Tempeln kamen und um Rat baten, schlossen sich die Priesterinnen im ganzen Reich zusammen und benutzten dabei Methoden, mit denen bereits Mutter Mond das Herz ihrer ersten Anhängerin berührt hatte. So diskutierten sie über ihre Ratschläge und entschlossen sich, die Nachtelfen zu einem Massengebet einzuladen, damit Elune ihnen Geborgenheit schenken konnte. Auch suchten sie mit ihren ureigenen Fähigkeiten nach der Quelle … aber ebenso wie die Mondgarde vermochten sie nicht zu ergründen, was geschehen war.
Obwohl die Priesterinnen noch immer über die Gaben ihrer Göttin verfügten, waren sie nicht sicher vor dem Horror, der bald darauf ausbrach. Als die Brennende Legion die Tempel der Hauptstadt überrannte, spürte man selbst weit entfernt in Suramar das Sterben der Schwestern und ihr grenzenloses Entsetzen, als die Horde sie gnadenlos hinmetzelte.
»Schwester?«, rief eine der anderen Priesterinnen Tyrande zu, als diese gerade Wasser für die Gläubigen bereit stellte. »Jemand möchte dich am Haupteingang sprechen.«
»Danke, Schwester.« Tyrande ging weiter und eilte zum Eingang. Sie nahm an, dass Illidan zurückgekehrt war, um sie zu sehen. Tyrande fürchtete sich vor einer Unterhaltung mit ihm und wusste nicht, was sie antworten würde, wenn er über eine mögliche Verbindung zwischen ihnen sprechen wollte.
Aber es war nicht Illidan, sondern jemand, denn sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.
»Malfurion!« Tyrande dachte nicht nach, als sie ihre Arme um ihn legte und ihn fest umarmte.
Seine Wangen verdunkelten sich, und er flüsterte: »Es ist schön, dich zu sehen, Tyrande.«
Sie ließ ihn los. »Wieso bist du hier?« Eine plötzliche Angst stieg in ihr auf. »Broxigar? Was haben sie mit ihm –«
»Er ist bei mir.« Malfurion zeigte hinter sich, und Tyrande entdeckte den Orc in einer dunklen Nische nahe des Eingangs. Der monströse Krieger wirkte nervös, während er die vielen Nachtelfen im Auge behielt.
Sie sah sich um, entdeckte aber nur die Wachen des Tempels. »Malfurion! Welcher Wahnsinn hat dich hergeführt? Hast du dich nur in die Stadt geschlichen, um mich zu sehen?«
»Nein … wir wurden gefangen.«
»Aber …«
Er legte sanft einen Finger auf ihre Lippen und brachte sie zum Schweigen. »Diese Geschichte muss warten. Hast du von den schrecklichen Ereignissen in Zin-Azshari gehört?«
»Nur wenig … aber schon das war zu viel. Malfurion, du kannst dir die Panik in den Gedanken und den Seelen unserer Schwestern dort nicht vorstellen! Etwas Furchtbares …«
»Hör mir zu! Es dehnt sich bereits über die Hauptstadt aus. Das Schlimmste ist, dass die Mondgarde all dem hilflos gegenüber steht. Ein Zauber trennt sie von der Macht der Quelle.«
Sie nickte. »Das haben wir uns schon gedacht, aber was hat das mit deinem Kommen zu tun?«
»Wird die Kammer des Mondes gerade benutzt?«
Sie dachte nach. »Das geschah schon vor ein paar Stunden, aber so viele kamen, um sich Rat zu holen, dass die Hohepriesterin später stattdessen den großen Gebetsraum für sie geöffnet hat. Die Kammer des Mondes müsste jetzt wieder frei sein.«
»Gut. Wir müssen hinein.« Er nickte Brox zu, der daraufhin zu ihnen kam. Zu Tyrandes Überraschung trug der Orc sogar eine Axt.
»Ihr wart gefangen …«, wiederholte sie.
»Lord Ravencrest sah keinen Grund, uns weiter festzuhalten, so lange Brox bei mir bleibt.«
»Ich schulde euch viel«, sagte der breitschultrige Krieger. »Ich schulde euch mein Leben.«
»Du schuldest uns nichts«, antwortete Illidans Bruder. Zu Tyrande sagte er: »Bitte bring uns zur Kammer.«
Sie ließen sich von ihr durch den Tempel führen. Obwohl sich Brox so nahe wie möglich bei seinen Begleitern aufhielt, konnte er seine Abstammung vor den Nachtelfen, die sich im Inneren versammelt hatten, nicht verbergen. Viele sahen ihn entsetzt an, einige schrien sogar und zeigten auf den Orc, als trage er die Schuld an der Katastrophe.
Als sie die Kammer des Mondes erreichten, verstellten ihnen die Wachen den Weg. Die befehlshabende Frau war die, mit der Tyrande über Illidan gesprochen hatte.
»Schwester … zwar ist es üblich, allen den Zugang zum Tempel von Mutter Mond zu erlauben, aber diese Kreatur …«
»Sagt Elune, dass er nicht das gleiche Recht hat wie andere Gläubige?«
Die Wächterinnen sahen einander unschlüssig an. »Es gibt keine Niederschriften über die Rechte anderer Völker, aber …«
»Aber sind wir nicht alle Elunes Kinder? Hat er nicht das Recht, sich an uns zu wenden und alle Einrichtungen des Tempels zu nutzen?«
Darauf fand niemand eine Antwort. Schließlich winkte die Frau, die das Sagen hatte, sie einfach durch. »Verbergt ihn nur so gut es geht vor den anderen. Es herrscht schon genügend Aufregung.«
Tyrande nickte dankbar. »Ich verstehe.«
Als sie eintraten, entdeckten sie zwei betende Novizinnen. Tyrande ging zu ihnen und erklärte, weshalb sie den Raum für sich allein benötigten. Dabei zeigte sie auch auf den Orc. Dessen Anblick allein brachte die Schwestern schon dazu, die Kammer rasch zu verlassen.
Tyrande ging zurück zu Malfurion und fragte: »Was willst du hier?«
»Ich werde versuchen den Smaragdtraum zu träumen, Tyrande.«
Die Idee gefiel ihr nicht. »Du willst nach Zin-Azshari reisen?«
»Ja. Ich hoffe dort die Gründe für die Blockade der Quelle zu erfahren.«
Tyrande kannte ihn besser als er ahnte. »Du willst nicht nur die Ursache ergründen, Malfurion. Ich glaube, du willst etwas unternehmen.«
Statt zu antworten betrachtete er die Mitte der Kammer. »Das scheint die harmonischste Stelle zu sein.«
»Malfurion …«
»Ich muss mich sputen, Tyrande. Vergib mir.«
Zusammen mit Brox ging er zu der Stelle, die er ausgesucht hatte und setzte sich auf den Boden. Er schlug die Beine übereinander und blickte in den mondhellen Himmel.
Der Orc setzte sich auf die gegenüberliegende Seite, machte aber Platz, als Tyrande sich neben ihm niederließ. Malfurion sah sie fragend an. »Du musst nicht bleiben.«
»Wenn Mutter Mond mir irgendwie helfen kann, dich auf deiner Reise zu beschützen, werde ich das tun.«
Malfurion lächelte dankbar, wurde dann aber schnell wieder ernst. »Ich muss jetzt beginnen.«
Tyrande ergriff seine Hand, obwohl sie nicht wusste, weshalb sie das tat. Seine Augen blieben geschlossen, aber das Lächeln kehrte für einen Moment zurück.
Und dann spürte Tyrande, wie er sie verließ.
Es war ein hektisch improvisierter, verzweifelter Plan, von dem sich Lord Ravencrest – wenn Malfurion sich nicht irrte – nur wenig erwartete. Da die Mondgarde jedoch praktisch machtlos war, hatte er keinen Grund gesehen, dem vorlauten jungen Nachtelf diesen Versuch zu verbieten.
Malfurion konnte jetzt nur hoffen, dass er den Mund nicht zu voll genommen hatte.
Tyrandes Hand, ihre fühlbare Nähe, half ihm bei seinem Weg in die schlafartige Trance. Sie beruhigte Malfurion und löste die starke Spannung, die seit den Ereignissen der letzten Tage auf ihm lastete.
Ruhig griff er nach der Welt um ihn herum, nach den Bäumen, dem Fluss, den Steinen und anderem – so wie er es von Cenarius gelernt hatte.
Doch dieses Mal begrüßten ihn nicht die harmonischen Elemente der Natur, sondern blanker Aufruhr.
Die Welt war aus dem Gleichgewicht geraten. Der Wald wusste es, die Hügel wussten es, selbst der Himmel spürte die Veränderung. Ganz gleich, wohin Malfurion auch blickte, allenthalben spürte er den Misston, die Disharmonie, und zwar mit solcher Macht, dass der Nachtelf fast darin ertrunken wäre.
Dann aber gelang es, sich auf Tyrandes sachte Berührung zu konzentrieren, seine Kraft aus ihrer Stärke zu ziehen. Das Chaos schwand, wenn auch nicht völlig. Aber es konnte ihn nun nicht mehr übermannen.
Erneut tastete Malfurion nach den Geistern der Natur, berührte sie alle und ließ sie seine Ruhe spüren. Er verstand ihren Aufruhr und versprach, dass er in ihrem Sinne handeln würde. Im Gegenzug bat der Nachtelf sie um ihre Hilfe und erinnerte die Geister daran, dass sie und er das gleiche Ziel verfolgten: die Rückgewinnung des Gleichgewichts.
Das Chaos nahm weiter ab. So lange die Hochgeborenen den Quell blockierten, würde es nicht ganz behoben werden können, aber Malfurions Einsatz hatte zumindest einen Ansatz von Ordnung zurück gebracht.
Nachdem er das erledigt hatte, konnte er die Traumsphäre sicher betreten.
Er verhielt außerhalb seiner körperlichen Hülle und blickte auf seine Freunde hinab, vor allem auf Tyrande. Dieses Mal fiel es ihm leichter, die Bilder heranzuholen und die Realität auf die idyllische Landschaft zu projizieren. Brox und Tyrande tauchten unverzüglich auf … ebenso wie sein eigener Körper.
Zu seiner Überraschung entdeckte er eine Träne, die über Tyrandes Wange lief. Instinktiv wollte er sie wegwischen, aber sein Finger glitt durch sie hindurch. Trotzdem schien es, als könne die junge Priesterin seine Nähe spüren, denn sie wischte sich die Träne mit ihrer eigenen Hand nicht einfach weg, sondern berührte ihr Gesicht viele Herzschläge lang sanft, fast zärtlich.
Malfurion zwang sich, seinen Blick von ihr zu lösen und den Himmel zu betrachten. Er konzentrierte sich auf die Richtung, wo Zin-Azshari lag, und brach auf.
Der vertraute grünliche Schleier lag über allem. Malfurion konzentrierte sich erneut und projizierte Elemente der Realität in die Schattenwelt. Halb gehend und halb fliegend glitt er durch die Traumwelt und nahm Myriaden von Eindrücken wahr, die aus der wahren und der unterbewussten Welt stammten.
Während seiner Reise bemerkte er jedoch auch eine unerwartete Präsenz. Im ersten Moment zweifelte er an seinen Sinnen, aber bei genauerem Erspüren der Umgebung erhärtete sich sein Verdacht.
Shan’do?, fragte er.
Malfurion fühlte, wie sein Mentor seine Gedanken streifte. Der flüchtige Kontakt verriet ihm, dass Cenarius wohlauf war. Die letzten Feibestien waren tot, aber eine andere dringende Angelegenheit verlangte nach der Aufmerksamkeit des Halbgottes. Malfurion erkannte, dass der Herr des Waldes seinen Schüler im Smaragdtraum aufgespürt hatte und ihm nur vermitteln wollte, dass noch nicht alles verloren war.
Cenarius’ stumme Botschaft beruhigte Malfurion, und er zog weiter. Der grüne Schleier wurde dünner, und schon bald sah er die Welt so, als wäre er wahrhaftig ein Vogel, der durch die Lüfte schwebte. Hügel und Flüsse zogen rasch unter ihm vorbei, während er sich stärker auf sein Ziel konzentrierte.
Als er sich der Hauptstadt näherte, sah Malfurion den Schrecken erstmals persönlich.
Die Schilderungen des Boten mochten schon erschreckend gewesen sein, hatten aber den entsetzlichen Anblick, den die berühmte Stadt bot, dennoch nicht wirklichkeitsgetreu vermitteln können. Ein Großteil von Zin-Azshari war dem Erdboden gleich gemacht, als wäre ein gewaltiger Felsen immer und immer wieder darüber hinweg gerollt. Am Stadtrand stand kein einziges Gebäude mehr. Überall brannten Feuer, aber Malfurion sah nicht nur die roten Flammen, die ihm vertraut waren, sondern auch faulig grüne und tiefschwarze, die nicht von dieser Welt stammen konnten. Als Malfurion über sie hinweg flog, vermochte er, obwohl er sich in der Traumwelt aufhielt, ihre bösartige Hitze zu spüren.
Dann sah er zum ersten Mal die Dämonen.
Die Feibestien waren bereits schlimm, aber die Kreaturen, die ihnen folgten, jagten Schauer um Schauer über seinen Rücken, denn sie waren eindeutig intelligent. Trotz ihrer riesigen Hörner, ihrer teuflischen Gesichter und ihrer grotesken Körper, bewegten sie sich einheitlich und völlig auf ihr furchtbares Ziel ausgerichtet. Dies war keine geistlose Horde, sondern eine von Verstand geordnete Armee des Bösen.
Als er sich dem Palast näherte, sah er, dass immer neue Dämonen aus den Toren strömten.
Es überraschte ihn nicht, dass das große, erhabene Gebäude unangetastet geblieben war. Wie der Bote es gesagt hatte, standen noch immer Wächter auf den Mauern. Malfurion flog an einigen vorbei und bemerkte ein abnormes Vergnügen auf ihren Gesichtern. Ihre silbernen Augen waren mit roten Adern durchwoben, und einige sahen aus, als hätten sie sich den Dämonen am liebsten angeschlossen.
Angewidert wich Malfurion vor ihnen zurück. Sein Blick rückte etwas von dem Palast ab, und er sah, dass die Besitztümer der Hochgeborenen ebenfalls unversehrt waren. Einige Diener der Königin wechselten sogar zwischen den Gebäuden hin und her, als spiele sich überhaupt nichts Ungewöhnliches um sie herum ab.
Mit wachsendem Ekel flog Malfurion zum Turm. Wie schon zuvor spürte der Nachtelf die ungeheuren Kräfte, die der dunklen Quelle unter größten Anstrengungen entrissen wurden. Die Hochgeborenen mussten ihre Bemühungen mehr als verdoppelt haben. Wilde Stürme tobten über der Quelle, die Ausläufer reichten bis in die umkämpfte Stadt hinein.
Beim letzten Mal hatte er versucht den Turm dort zu betreten, wo der Zauber am Spürbarsten gewesen war. Malfurion ließ sich an der Mauer hinabsinken und fand einen Balkon. Der Nachtelf bewegte sich fast, als habe er einen Körper. Er schwebte dicht über dem Boden des Balkons in den Eingang hinein.
Zu seiner Überraschung hielt ihn nichts und niemand auf. Er hätte beinahe laut aufgelacht. Niemand hatte daran gedacht, die inneren Bereiche vor jemandem wie ihm zu schützen. Diese Arroganz der Hochgeborenen erlaubte es ihm nun, den Palast unbehelligt zu betreten.
Langsam schwebte Malfurion durch die Gänge und suchte nach einem Weg nach oben. Schließlich fand er die Haupttreppe und mit ihr mehr als ein Dutzend der gewaltigen, gehörnten Krieger, die er auch schon draußen gesehen hatte.
Malfurion wollte instinktiv zurückweichen und hoffen, dass sie ihn nicht entdeckten. Allerdings fand er sich nirgends ein geeignetes Versteck. Er bereitete sich auf ihren Angriff vor …
… und verfluchte seine Dummheit, als der erste Krieger achtlos an ihm vorbei marschierte.
Sie konnten seinen Geistkörper doch gar nicht sehen.
Er atmete auf und sah zu, wie die Gruppe hinter einer Biegung verschwand. Als der Letzte den Raum verlassen hatte, schwebte Malfurion langsam die Treppe hinauf.
Er passierte mehrere Kammern auf dem Weg nach oben, sah aber in keine hinein. Das, was Malfurion suchte, lag an der Spitze des hohen Turms und je eher er es erreichte, desto schneller konnte er die nächsten Schritte ersinnen.
Wie er genau vorgehen würde, wusste der Nachtelf noch nicht. Obwohl sich Malfurion der Druidenkunst verschrieben hatte, war er ein fast so guter Magier wie sein Bruder. In seinem augenblicklichen Zustand traute er sich zu, einen Zauber zu weben.
Nach einer Weile fand sich Malfurion plötzlich vor einer Barriere. Eine unsichtbare Kraft blockierte den Weg, vermutlich die gleiche, die ihn bei seinem ersten Versuch aufgehalten hatte. Vielleicht waren die Hochgeborenen doch nicht so nachlässig, wie er zunächst glaubte …
Entschlossen warf sich der Nachtelf mit aller Macht nach vorne. Er spürte, wie er gegen das unsichtbare Hindernis prallte, als wäre er gegen eine reale Wand gelaufen. Doch je mehr er sich dagegen stemmte, desto schwächer wurde der Widerstand, so als wäre die Barriere aus – Malfurion fiel hindurch.
Der Durchbruch erfolgte so abrupt, dass er völlig davon überrascht wurde. Er drehte sich um und versuchte die Barriere zu berühren, abzutasten, spürte aber nur noch ein sehr schwaches Kraftfeld. Entweder hatte seine Anstrengung das Hindernis beseitigt, oder es war so konstruiert, dass es nur das Eindringen, nicht aber das spätere Verlassen verhinderte.
Ein Stück weiter oben begegnete er zwei Wachen und sah eine schwere Tür, die zu dem Raum fuhren musste, in dem die Hochgeborenen arbeiteten. Als Malfurion sicher war, dass die Wächter ihn nicht sehen konnten, streckte er probeweise eine Hand nach der Tür aus.
Seine Finger glitten durch das Holz, als wäre sie nicht da. Der junge Nachtelf schluckte und trat ein.
Im ersten Moment fühlte er sich völlig orientierungslos, denn der Raum, in dem die Hochgeborenen ihre ebenso ehrgeizigen wie düsteren Pläne umsetzten, war wesentlich größer, als er gedacht hätte. Malfurions eigenes Zuhause hätte man mehrfach darin unterbringen können.
Und die Hochgeborenen benötigten so viel Raum auch durchaus, denn neben ihnen standen Dutzende der grotesken Krieger. Sie marschierten gerade auf die Tür zu, durch die Malfurion getreten war. Aus nächster Nähe entsetzten ihn ihre monströsen Gesichter noch mehr. Er fand keine Gnade darin, nicht einmal einen Hauch von Mitleid …
Er verdrängte diese Gedanken und schwebte zu den Hochgeborenen, studierte ihre Anstrengungen mit einer Mischung aus Faszination und Ekel. Die Hochgeborenen schufteten wie Wahnsinnige. Alle wirkten ausgehungert. Ihre einst makellosen Gewänder hingen an knochigen Körpern. Einige konnten sich kaum noch auf den Beinen halten, doch sie alle starrten eindringlich und in fiebriger Erwartung auf das Resultat ihrer Mühen, eine pulsierende Wunde in der Wirklichkeit.
Malfurion schaute kurz ins Zentrum des Spalts und sah sofort wieder weg. Der flüchtige Blick hatte gereicht, um die monströse Natur dieses Risses und das darin lauernde absolut Böse zu erkennen. Es verwunderte ihn, dass die Hochgeborenen nicht in der Lage schienen zu begreifen, worauf sie sich hier eingelassen hatten.
Malfurion versuchte die jähe Furcht zu verdrängen. Er drehte sich um – und stand vor jemandem, der nur Lord Xavius, der Berater der Königin, sein konnte.
Malfurion schwebte wenige Zentimeter vor den verstörenden Augen des älteren Nachtelfs. Er hatte von den magischen Augen des Beraters gehört, der seine natürlichen mit voller Absicht gegen künstliche eingetauscht hatte. Rote Schlieren trieben über die schwarzen Pupillen, die beinahe so dunkel waren, wie das Urböse, das Malfurion in dem magischen Riss gespürt hatte.
Die Züge des Beraters waren so grimmig, dass der junge Nachtelf im ersten Moment glaubte, er sei entdeckt worden. Doch dem war nicht so. Nur wenig später trat Xavius vor und ging achtlos durch Malfurion hindurch auf die Hochgeborenen zu.
Malfurion erholte sich allmählich von der unerwarteten Begegnung. Die Mondgarde und Lord Ravencrest sahen vor allem in Lord Xavius den Schuldigen an dem schrecklichen Massaker. Nach einem Blick auf ihn zweifelte auch Malfurion kaum noch daran. Er hielt aber an seiner Meinung fest, dass die Königin genau wusste, was geschehen war und weiterhin geschah. Doch noch Beweisen dafür konnte er auch noch später Ausschau halten.
Entschlossen ging Malfurion auf das Diagramm zu, mittels dessen die Abschirmung aufrechterhalten wurde. Drei hochgeborene Zauberer umstanden es, schienen es aber nur zu überwachen, nicht zu stabilisieren. Er schwebte an ihnen vorbei, um sich mit den Details vertraut zu machen.
Es war ein meisterhaft konstruiertes Diagramm auf einem Niveau, das weit über allem lag, was Malfurion selbst zu schaffen vermochte. Trotzdem brauchte er nicht lange, um zu verstehen, wie er es beeinflussen, ja, sogar zerstören konnte.
Was natürlich voraussetzte, dass Malfurion überhaupt irgendetwas in dieser seiner Geistgestalt auszurichten vermochte.
Um seine Möglichkeiten zu testen, flüsterte er der Luft eine einfache Bitte zu. Sie hatte seine Lippen kaum verlassen, als eine schwache Brise die Haare im Nacken eines Zauberers bewegte.
Sein Erfolg begeisterte Malfurion. Wenn er das bewirken konnte, würde er auch etwas schaffen, das den Abschirmungszauber zerstörte. Mehr Vorarbeit benötigte die Mondgarde nicht.
Er starrte auf das Zentrum des magischen Labyrinths und konzentrierte sich auf seine schwächste Stelle.
»Was für ein törichter, törichter Versuch«, sagte eine kalte Stimme.
Malfurion sah über seine Schulter.
Lord Xavius starrte ihn an.
Ihn an.
Der Berater hielt einen schmalen weißen Kristall in der Hand. Seine Augen – Augen, die anscheinend auch Geistgestalten zu sehen vermochten – leuchteten auf.
Eine gewaltige Kraft zog Malfurion auf den Kristall zu. Er versuchte, zurückzuweichen, aber alle Versuche schlugen fehl. Bald füllte der Kristall sein gesamtes Blickfeld aus … und wurde zu seiner Welt.
Aus seinem winzigen, unglaublichen Gefängnis heraus betrachtete er wenig später das riesige, lächelnde Gesicht des älteren Nachtelfs.
»Mir ist da gerade ein interessanter Gedanke gekommen«, sagte Lord Xavius kühl bis ins Herz. »Wie lange mag dein Körper wohl ohne deinen Geist, der ihn verlassen hat, bestehen können, ehe er an dem Verlust zugrunde geht?« Als Malfurion nicht antwortete, hob der Berater die Schultern. »Aber das werden wir bald herausfinden, nicht wahr?«
Mit diesen Worten schob er den Kristall in seine Tasche und stürzte Malfurion in völlige Dunkelheit.
Sie erreichten das Gebiet, in dem Krasus den Elf zu finden hoffte. Er fragte sich nicht, woher er wusste, dass der Gesuchte hier in der Nähe lebte, nahm jedoch an, dass Nozdormu ihm diese Information während der Vision übermittelt hatte. Krasus dankte dem Aspekt dafür, dass er die Schwierigkeit einer solchen Suche erkannt hatte. Das ließ ihn auch hoffen, dass die Katastrophe aufzuhalten war und dass er und Rhonin nach Hause zurückkehren würden.
Vorausgesetzt natürlich, dass er Rhonin überhaupt fand.
Seine Schuldgefühle gegenüber seinem ehemaligen Schüler, den er noch nicht zu finden versucht hatte, wurden nur zum Teil durch die Tatsache aufgehoben, dass der, nach dem er suchte, laut einem der fünf Aspekte, eine wesentliche Rolle in Vergangenheit und Zukunft spielte. Sobald der Drachenmagier den mysteriösen Nachtelf aufgespürt hatte, würde er nach Rhonin suchen. Schließlich schuldete er dem Menschen mehr, als dieser ahnte.
Korialstrasz wurde langsamer und flog auf einige Bäume zu. »Ich kann dich nicht näher heranbringen.«
»Ich verstehe.« Wenn sie weiterflogen, würden die Bewohner der Nachtelfensiedlung den Leviathan bemerken.
Der rote Drache landete und neigte seinen Kopf, sodass Krasus absteigen konnte. Dann sah sich Korialstrasz in der Umgebung um.
»Es ist nicht mehr weit. Vielleicht eine Stunde oder zwei.«
Krasus erwähnte nicht, wie hart diese zwei Stunden ohne die Nähe seines jüngeren Ichs sein würden. »Du hast mehr getan, als ich erwarten durfte.«
»Ich werde dich jetzt nicht verlassen«, antwortete Korialstrasz und faltete seine Flügel zusammen. »Trotz des Körpers, den du benutzt, hast du vielleicht vergessen, dass unsere Art andere Gestalten anzunehmen vermag. Ich werde mich in etwas verwandeln, das denen, die wir treffen müssen, ähnlicher sieht.«
Der gewaltige Körper des Drachen begann zu leuchten. Korialstrasz schrumpfte und nahm ein menschlicheres Aussehen an.
Doch nur eine Sekunde später verwandelte er sich zurück in seine ursprüngliche Form. Seine Augen waren glasig, sein Atem ging stoßweise.
»Was ist?« Korialstrasz sah sein jüngeres Ich hilflos an.
»Ich … ich kann mich nicht verwandeln! Sobald ich es versuche, erleide ich entsetzliche Qual.«
Der Magier erinnerte sich an seine eigene Reaktion, als er nach seiner Ankunft vergeblich versucht hatte, in seinen Drachenkörper zurückzukehren. Es überraschte ihn nicht, dass Korialstrasz vor den gleichen Schwierigkeiten stand. »Versuche es nicht noch einmal. Ich gehe allein.«
»Bist du sicher? Mir ist aufgefallen, dass wir beide weniger unter unseren Krankheiten leiden, wenn wir zusammen sind …«
Eine Mischung aus Sorge und Stolz überkam Krasus. Seine jüngere Version hatte also die Wahrheit erkannt. Wusste Korialstrasz auch, weshalb es so war?
Falls er es wusste, behielt der Drache es für sich. Stattdessen fügte er nur hinzu: »Nein … Aber ich weiß, dass du gehen musst.«
»Wirst du hier bleiben?«
»So lange es geht. Die Nachtelfen scheinen sich hier nicht allzu häufig herumzutreiben, und die hohen Bäume werden mir zusätzlich Schutz vor Entdeckung bieten. Wenn du mich brauchst, werde ich deinem Ruf folgen.«
»Das weiß ich«, antwortete Krasus.
Der Magier verabschiedete sich von dem Drachen und brach zur Siedlung der Nachtelfen auf. Als er fast schon außer Sicht war, rief Korialstrasz ihm nach: »Glaubst du, dass du den finden wirst, nach dem du suchst?«
»Das kann ich nur hoffen …« Er verzichtete darauf hinzuweisen, dass, falls er versagte, alle darunter zu leiden hätten.
Korialstrasz nickte.
Je näher er der Stadt kam und sich dabei immer weiter von dem Drachen entfernte, desto kranker und matter fühlte sich Krasus. Trotzdem ging er weiter. Irgendwo in der Siedlung hielt sich der gesuchte Nachtelf auf. Krasus wusste noch nicht, was er tun würde, wenn er ihn fand. Er hoffte, dass Nozdormu auch diese Information irgendwo in seinem Unterbewusstsein hinterlegt hatte und dass sie frei gesetzt würde, sobald er sie benötigte.
Wenn nicht, musste sich Krasus ganz auf sein eigenes Vermögen stützen.
Die Reise schien ewig zu dauern, aber schließlich entdeckte er erste Anzeichen von Zivilisation. Die weit entfernten Fackeln markierten vermutlich einen Wall oder das Haupttor der Stadt.
Jetzt kam der schwierigste Teil. In seiner augenblicklichen Gestalt sah er zwar den Nachtelfen nicht unähnlich, diese würden aber dennoch erkennen, dass er keiner der ihren war. Vielleicht, wenn er die Kapuze über seinen Kopf zog und ihn neigte …
Krasus erkannte plötzlich, dass er nicht länger allein im Wald war.
Die Nachtelfen kamen von allen Seiten. Sie trugen ähnliche Rüstungen wie jene, die ihn schon einmal gestellt hatten. Lanzen und Schwerter richteten sich drohend auf den Fremden.
Ein junger, ernst wirkender Offizier stieg von seinem Nachtsäbel und trat auf ihn zu. »Ich bin Hauptmann Jarod Shadowsong. Du bist ein Gefangener der Garde von Suramar! Verhalte dich nur friedlich, dann werden wir dich gut behandeln.«
Krasus blieb gar keine andere Wahl, also streckte er seine Hände aus und ließ sich fesseln. Tief im Kern war er jedoch nicht unzufrieden über seine Gefangennahme. Jetzt war er zumindest auf dem Weg in die Stadt.
Und wenn er erst einmal dort war, musste er nur noch fliehen …