Es war ein von tiefen Sorgen geplagter Malfurion, der in sein Haus in der Nähe der Tosenden Fälle zurückkehrte, das gleich hinter der großen Nachtelfen-Siedlung Suramar lag. Er hatte diesen Ort wegen der Ruhe und der ungestörten Natur in der Umgebung der Fälle gewählt. Er kannte keinen anderen Ort, der so friedlich war, außer vielleicht Cenarius’ versteckten Hain.
Malfurions schlichtes Zuhause, ein niedriges, rundliches Domizil, aus Bäumen und Erde geformt, bot einen starken Kontrast zu den Häusern der meisten Nachtelfen. Dem jungen Mann lag nichts an den grellen Farbphalanxen, die von der Tendenz seines Volkes zeugten, einander ausstechen zu wollen. Die Farben seines Zuhauses waren jene der Erde und des Lebens – das Grün des Waldes, das satte, fruchtbare Braun – und die Farbtöne, die ihnen am nächsten standen. Er versuchte, sich an seine Umgebung anzupassen, und nicht die Natur zu zwingen, sich ihm anzupassen, wie es das Trachten seines Volkes war.
Doch nichts an seinem Haus konnte Malfurion in dieser Nacht auch nur das geringste Gefühl des Trostes vermitteln. Noch immer zeichneten sich die Gedanken und Bilder, die er erfahren hatte, als er den Grünen Traum beschritt, extrem klar in seinem Geist ab. Er hatte Türen in seiner Vorstellungskraft geöffnet, von denen er sich nun verzweifelt wünschte, er könne sie wieder schließen. Doch er wusste, dass dies unmöglich war.
»Die Visionen, die du im Grünen Traum siehst, sie können vieles bedeuten«, hatte Cenarius ihm erklärt. »Selbst das, von dem du glaubst, dass es real ist – wie zum Beispiel dein Bild von Zin-Azshari –, ist es möglicherweise nicht, denn das Traumland spielt seine eigenen Spiele mit unserem begrenzten Geist …«
Malfurion wusste, dass der Halbgott nur versucht hatte, ihn zu beruhigen. Er war überzeugt, dass das, was er gesehen hatte, die Wahrheit gewesen war. Er hatte bemerkt, dass Cenarius sich ebenso viele Sorgen wegen der tollkühnen Zauberei in Azsharas Palast machte wie sein Schüler.
Die Macht, die die Hochgeborenen beschworen hatten … wozu mochte sie dienen? Merkten sie nicht, dass das Gewebe der Welt in der Nähe der Quelle kurz vor dem Zerreißen stand? Es erschien ihm weiterhin unvorstellbar, dass die Königin ein solch leichtfertiges und möglicherweise zerstörerisches Wirken zuließ … und doch konnte sich Malfurion nicht von der Gewissheit befreien, dass sie ebenso sehr ein Teil dieser Vorgänge war wie ihre Untergebenen. Azshara war nicht einfach nur eine symbolische Galionsfigur, sie herrschte tatsächlich, auch über ihre arroganten Hochgeborenen.
Malfurion versuchte, zu seiner normalen Routine zurückzukehren, und hoffte, dass sie ihm helfen würde, seine Sorgen zu vergessen. Es gab nur drei Räume in seinem Haus, ein weiteres Beispiel für die Einfachheit seines Lebens im Vergleich zu jenem seiner Landsleute. In der einen Stube befanden sich sein Bett und die Handvoll Bücher und Schriftrollen über die Natur und seine gegenwärtigen Studien, die er gesammelt hatte. In einem anderen Raum, der nach hinten hinaus lag, standen der Speiseschrank und ein kleiner, einfacher Tisch, auf dem er sein Essen zubereitete.
Malfurion betrachtete diese beiden Räume eigentlich nur als pure Notwendigkeit. Der dritte, der Gemeinschaftsraum, war ihm stets sein liebster Aufenthalt gewesen. Hier, wo das Licht des Mondes nachts hell schien und man die glitzernden Wasser der Fälle erkennen konnte, saß er im Zentrum und meditierte.
Hier, bei einem Schluck des Honigweins, den sein Volk so liebte, ging er seine Arbeiten durch und versuchte die Dinge zu verstehen, die Cenarius ihn lehrte. Hier, an dem niedrigen Elfenbeintisch, auf dem ein Mahl ausgebreitet werden konnte, traf er sich auch mit Tyrande und Illidan.
Doch heute Abend waren keine Tyrande und kein Illidan anwesend. Tyrande war in den Tempel der Elune zurückgekehrt, um ihre eigenen Studien fortzusetzen, und Malfurions Zwillingsbruder zog jetzt den wilden Lärm des städtischen Lebens von Suramar der Stille des Waldes vor – ein weiteres Zeichen dafür, dass sie einander immer unähnlicher wurden.
Malfurion lehnte sich zurück, und sein Gesicht leuchtete im Licht des Mondes. Er schloss die Augen, um nachzudenken und hoffte, seine Nerven beruhigen zu können …
Doch kaum waren seine Lider herab gesunken, als etwas Großes durch das Mondlicht rannte und Malfurion für einen kurzen Moment in die totale Finsternis seines Schattens hüllte.
Die Augen des Nachtelfen sprangen gerade noch rechtzeitig auf, um einen Blick auf eine riesige, beunruhigende Gestalt zu erhaschen. Malfurion sprang sofort an die Tür und schwang sie auf.
Doch zu seiner Überraschung traf sein gespannter Blick nur die rauschenden Wasser der nahegelegenen Fälle.
Er trat nach draußen, spähte forschend umher. Sicher konnte sich eine Kreatur, die dermaßen groß war, nicht so schnell bewegen. Die stierartigen Tauren und bärenartigen Furbolgs waren ihm nicht unbekannt, doch während sie es an Größe mit dem seltsamen Schatten hätten aufnehmen können, waren diese beiden Arten nicht für ihre Flinkheit bekannt. Ein paar Zweige raschelten im Wind, und ein Nachtvogel sang irgendwo in der Ferne, aber Malfurion konnte keine Spur des seltsamen Eindringlings erkennen.
Es waren wohl nur deine Nerven, die dir einen Streich gespielt haben, schalt er sich schließlich selbst. Nur deine eigene Verunsicherung.
Als er in das Haus zurückkehrte, setzte sich Malfurion wieder nieder, und sein Geist war bereits in den Irrgarten seiner Sorgen zurückgekehrt. Im Unterschied zu dem Phantom seines Eindringlings war er sich sicher, dass er sich nichts von dem eingebildet, dass er nichts missverstanden hatte, was Palast und Quelle betraf. Irgendwie musste Malfurion mehr erfahren, mehr als der Grüne Traum ihm im Augenblick enthüllen konnte.
Und er hatte das Gefühl, dass er dies sehr, sehr bald würde in Angriff nehmen müssen.
Er wäre beinahe geschnappt worden. Wie ein Kind, das kaum laufen kann, wäre er fast in die Arme der Kreatur gestolpert. Kaum eine würdige Demonstration der überlegenen Fähigkeiten, für die die Kriegerveteranen der Orcs bekannt waren.
Brox hatte sich keine Sorgen gemacht, sich nicht angemessen verteidigen zu können, wenn die Kreatur ihn angriff, doch jetzt war nicht die Zeit, sich seinen eigenen Wunsch nach einem ruhmreichen Ende zu erfüllen. Außerdem deutete das Wenige, was er von der einsamen Gestalt gesehen hatte, nicht gerade auf einen ebenbürtigen Gegner hin. Groß, aber zu dürr, zu ungeschützt. Menschen waren viel interessantere und würdigere Gegner …
Nicht zum ersten Mal schmerzte sein Schädel. Brox legte eine Hand an die Schläfe und kämpfte gegen das dunkle Pochen an. Tosende Verwirrung herrschte in seinem Geist. Was mit ihm in den letzten Stunden geschehen war, konnte der Orc noch immer nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Statt Gaskais Schicksal zu teilen und in Stücke gerissen zu werden, wie er es erwartet hatte, war er in den Wahnsinn geschleudert worden. Dinge, die über das Fassungsvermögen eines einfachen Kriegers hinaus gingen, waren vor seinen Augen erschienen und verschwunden, und Brox erinnerte sich daran, durch einen Wirbel chaotischer Energien gestürzt zu sein, während zahllose Stimmen und Geräusche in seinen Ohren gedröhnt hatten, dass er beinahe taub geworden wäre.
Am Ende war alles zu viel für ihn gewesen. Brox hatte das Bewusstsein verloren. Er war sich sicher gewesen, er würde nie wieder erwachen.
Natürlich war er dann doch wieder zu sich gekommen, aber es hatte ihn nicht wieder in die Berg verschlagen, noch war er weiterhin von Wahnsinn umfangen gewesen. Stattdessen hatte Brox in einer fast friedlichen Landschaft aus hohen Bäumen und sanften Hügeln gelegen, die sich so weit erstreckte, wie das Auge blicken konnte. Die Sonne war dabei gewesen zu sinken, und als einzige Geräusche von Leben waren die musikalischen Rufe von Vögeln zu hören gewesen.
Selbst wenn er in die Mitte einer entsetzlichen Schlacht geschleudert worden wäre statt in diese ruhige Szene, Brox hätte nichts anderes tun können, als dort, wo er war, liegen zu bleiben. Der Orc hatte mehr als eine Stunde gebraucht, um wieder genug Kraft zu sammeln, damit er nur stehen konnte – von gehen gar nicht zu reden. Glücklicherweise hatte Brox während der bangen Wartezeit ein Wunder entdeckt. Seine verloren geglaubte Axt war mit ihm verschlungen worden und nur ein paar Yards von dem Orc entfernt gelandet. Noch nicht in der Lage, seine Beine zu benutzen, war Brox zu der Waffe gekrochen. Er hätte sie nicht schwingen können, aber nur ihren Griff zu halten, hatte ihm bereits Trost gespendet, während er darauf wartete, dass seine Kraft zurückkehrte.
Sobald er wieder laufen konnte, war Brox schnell weitergezogen. Es war nicht gut, an einem Ort zu verweilen, wenn man sich in einem fremden Land befand, egal wie ruhig er erscheinen mochte. Die Lage änderte sich ständig, selbst an den friedlichsten Plätzen, und seiner Erfahrung nach änderte sie sich selten zum Besseren.
Der Orc hatte versucht zu verstehen, was mit ihm geschehen war. Er hatte von Magiern gehört, die mit Hilfe besonderer Zauber von einem Ort zum anderen reisten, aber wenn dies ein solcher Zauber gewesen war, dann hatte der Magier, der ihn gesprochen hatte, mit Sicherheit vollkommen den Verstand verloren. Entweder das oder die Beschwörung war schief gelaufen. Natürlich auch eine Möglichkeit …
Allein und verirrt hatte sich Brox ganz seinen Instinkten überlassen. Egal, was bisher geschehen war, Thrall würde wollen, dass er mehr über die Bewohner dieses Landes und ihre möglichen Absichten herausfand. Wenn sie durch Zufall oder aus Vorsatz mit ihrer Magie nach der neuen Heimat der Orcs gegriffen hatten, stellten sie eine mögliche Bedrohung dar. Brox konnte später immer noch sterben. Seine erste Pflicht galt dem Schutze der Seinen.
Zumindest hatte er jetzt eine gewisse Ahnung davon, was für ein Volk hier lebte. Brox hatte vor dem Krieg gegen die Brennende Legion noch nie einen Nachtelf erblickt oder von diesen Leuten gehört, aber er würde ihr einzigartiges Aussehen niemals vergessen. Irgendwie war er in einem Reich gelandet, das von ihnen regiert wurde. Das eröffnete ihm zumindest die Hoffnung, in seine Heimat zurückkehren zu können, sobald er genug Informationen gesammelt hatte. Die Nachtelfen hatten in Kalimdor an der Seite der Orcs gekämpft; gewiss bedeutete das, dass Brox nur in einem obskuren Winkel des Kontinents gelandet war. Ein wenig Erkundung würde ausreichen, um herauszufinden, in welcher Richtung die Länder der Orcs lagen, und sich dorthin auf den Weg zu machen.
Brox hatte nicht die geringste Absicht, einfach zu einem Nachtelf zu gehen und ihn nach dem Weg zu fragen. Auch wenn dies die gleichen Kreaturen waren, die sich mit den Orcs und den Menschen verbündet hatten, so konnte er sich nicht sicher sein, ob die Bürger dieser Nachtelfen-Provinz einem Eindringling freundlich begegnen würden. Bis er mehr wusste, plante der vorsichtige Orc, sich niemandem zu zeigen.
Obwohl Brox zunächst auf keine weiteren Behausungen traf, bemerkte er in der Ferne ein Leuchten, das höchstwahrscheinlich von einer größeren Siedlung stammte. Nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, packte der Orc seine Waffe fester und machte sich auf den Weg in diese Richtung.
Doch kaum hatte er diese Entscheidung getroffen, als sich plötzlich Schatten aus der entgegengesetzten Richtung näherten. Brox presste sich flach gegen einen dicken Baum und beobachtete, wie sich zwei Reiter näherten. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, als er an Stelle guter Pferde schnelle, riesenhafte Panther erkannte, auf denen die Männer über den Pfad jagten. Der Orc knirschte mit den Zähnen und machte sich zum Kampf bereit für den Fall, dass entweder die Reiter oder ihre Tiere ihn bemerken würden.
Doch die gerüsteten Gestalten eilten an ihm vorbei, als müssten sie irgendeinen Ort sehr schnell erreichen. Sie schienen kein Problem damit zu haben, bei dem geringen Licht unterwegs zu sein, und plötzlich erinnerte sich der Orc daran, dass Nachtelfen in der Finsternis ebenso gut sehen konnten wie er am Tag.
Das ließ nichts Gutes erahnen. Orcs konnten auch bei Nacht ganz ordentlich sehen, doch nicht annähernd so gut wie Nachtelfen.
Er hob seine Axt. Vielleicht war er im Nachteil, was die Sicht anging, aber Brox würde gegen jede dieser dürren Klappergestalten seinen Mann stehen. Tag oder Nacht, eine Axt in der Hand eines Orc-Kriegers, der mit ihr umzugehen verstand, hatte stets den gleichen tiefen, tödlichen Biss. Selbst die prächtigen Rüstungen dieser Soldaten würden seiner geliebten Waffe nicht lange standhalten.
Als die Reiter außer Sicht waren, schlich Brox vorsichtig weiter. Er musste mehr über diesen speziellen Stamm der Nachtelfen herausfinden, und die einzige Möglichkeit, dies zu tun, bestand darin, ihre Siedlung auszuspionieren. Dort würde er hoffentlich genug erfahren, um bestimmen zu können, wo seine Heimat lag. Dann konnte er zu Thrall zurückkehren. Thrall würde wissen, was er von all dem hier zu halten hatte. Thrall würde mit diesen Nachtelfen fertig werden, die sich an gefährlicher Magie versuchten.
Es war alles ganz, ganz einfach …
Brox blinzelte. Er war so sehr in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er erst jetzt die große, weibliche Gestalt bemerkte, die in silbrigen, vom Mond beschienenen Gewändern vor ihm stand.
Sie sah ebenso erschrocken aus, wie sich auch der Orc fühlte. Dann öffnete die Nachtelfin den Mund und schrie.
Brox streckte eine Hand nach ihr aus – er hatte nur vor, ihren Schrei zu ersticken –, doch bevor er irgendetwas tun konnte, erhoben sich weitere Schreie, und aus allen Richtungen erschienen Nachtelfen.
Ein Teil von Brox’ Seele wünschte sich, hier stehen zu bleiben und bis in den Tod zu kämpfen, aber der andere Teil – jener, der Thrall diente – erinnerte ihn daran, dass dies nichts nützen würde. Er hätte bei seiner Mission versagt, hätte das Vertrauen seines Volkes enttäuscht.
Mit einem wütenden Schrei wandte er sich um und floh zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
Aber jetzt schien es, als würden hinter jedem Baumstamm, hinter jedem Erdhaufen neue Nachtelfen erscheinen – und jeder Einzelne von ihnen schrie entsetzt auf, als er den bulligen Orc sah.
Hörner schmetterten. Brox fluchte, denn er ahnte, was dieser Klang ankündigte. Und tatsächlich ertönte nur wenige Sekunden später ein katzenhaftes Fauchen, auf das entschlossenes Gebrüll folgte.
Der Orc blickte über seine Schulter und sah, wie sich die Verfolger näherten. Im Unterschied zu dem Soldaten-Paar, vor dem er sich vor kurzem noch versteckt hatte, waren die meisten der neuen Reiter nur in Gewänder und Brustpanzer gekleidet, aber das bedeutete nicht, dass sie keine Bedrohung darstellten. Und nicht nur waren die Elfen alle bewaffnet, ihre Reittiere stellten eine noch entsetzlichere Gefahr dar. Ein Hieb dieser Pranken würde dem Orc das Fleisch aufschlitzen, ein Biss der säbelzahnbewehrten Kiefer ihm den Kopf abreißen. Brox wollte seine Axt nehmen und durch ihre Reihen mähen, auf Reiter und Panther gleichzeitig einhacken und eine Spur des Blutes und der zerfetzten Leichen hinter sich herziehen. Doch trotz seines brennenden Wunsches, jene zu vernichten, die ihn bedrohten, hielten Thralls Lehren und Befehle seine Impulse unter Kontrolle. Brox knurrte und stellte sich den ersten Reitern mit der flachen Seite seiner Axt. Er schleuderte einen Nachtelf von seinem Reittier. Dann, nachdem er den Krallen der großen Katze ausgewichen war, wirbelte er herum, um einen weiteren Reiter am Bein zu packen. Der Orc warf den zweiten Nachtelf über den ersten und presste so beiden die Luft aus den Lungen.
Ein Schwert zischte an seinem Kopf vorbei. Brox zerschmetterte die schlanke Klinge mit seiner mächtigen Axt, und sie löste sich in winzige Splitter auf. Der Nachtelf wich klugerweise zurück, während er immer noch fest den Stummel seiner Waffe umklammerte.
Der Orc stürzte sich in die Lücke, die durch den Rückzug entstanden war, und versuchte, an seinen Angreifern vorbei zu schlüpfen. Einige der Nachtelfen machten durchaus nicht den Eindruck, als wären sie begeistert von dem Gedanken, ihn verfolgen zu müssen, und das hob Brox’ Laune erheblich. Sein eigenes Ehrgefühl sträubte sich gegen die Flucht, aber Thralls Stolz auf den von ihm ausgewählten Krieger hielt Brox davon ab, umzukehren und sich einem törichten letzten Kampf zu stellen. Er würde seinen Häuptling nicht enttäuschen.
Doch gerade als das Entkommen möglich schien, tauchte ein weiterer Nachtelf vor ihm auf. Der neue Mann war in leuchtende Gewänder aus hellem Grün gekleidet, und goldene und rote Sterne sprenkelten seine Brust. Eine Kapuze verbarg den größten Teil des langen, schmalen Gesichts, aber er schien keine Furcht vor dem riesigen, bulligen Orc zu haben, der auf ihn zustürmte.
Brox schwang seine Axt und schrie. Er versuchte, dem Nachtelf Angst einzujagen und ihn zu vertreiben.
Ruhig hob der Nachtelf eine Hand auf Brusthöhe. Der Zeige- und der Mittelfinger wiesen in den mondhellen Himmel.
Als der Orc erkannte, dass hier ein Zauber gewoben wurde, war es bereits zu spät.
Zu seinem Erstaunen fiel eine kreisförmige Scheibe des Mondes vom Himmel und senkte sich auf Brox wie eine weiche, neblige Decke. Als sie ihn einhüllte, wurden seine Arme schwer, seine Beine schwach. Er musste kämpfen, um seine Augenlider offen zu halten.
Die Axt entglitt seinem schlaffen Griff, und Brox sank auf die Knie. Durch den silbrigen Dunst sah er jetzt andere, ähnlich gekleidete Nachtelfen, die ihn umzingelten. Die ebenfalls unter Kutten und Kapuzen verborgenen Gestalten standen ruhig und sahen zu, wie der Zauber seine Arbeit tat.
Eine Welle der Wut brandete in Brox’ Brust auf. Mit einem leisen Knurren gelang es ihm, sich auf die Beine zu kämpfen. Dies war nicht der ruhmreiche Tod, den er sich erhofft hatte! Die Nachtelfen wollten, dass er wie ein hilfloses Kind zu ihren Füßen niedersank! Das würde er nicht tun!
Zitternden Fingern gelang es, wieder die Axt zu packen. Zu seiner Freude bemerkte er, wie ein paar der Kapuzenmänner erschraken. Einen solchen Widerstand hatten sie nicht erwartet.
Aber als er versuchte, seine Waffe zu heben, senkte sich ein weiterer silbriger Schleier über ihn. Alle Kraft, die Brox gerade noch hatte sammeln können, schwand dahin. Als die Axt dieses Mal fiel, wusste er, dass er nicht mehr in der Lage sein würde, sie neuerlich aufzuheben.
Der Orc tat einen letzten wackligen Schritt, dann fiel er nach vorn. Selbst jetzt noch versuchte Brox, auf seine Feinde zuzukriechen. Er war entschlossen, ihnen den Sieg nicht zu leicht zu machen.
Ein dritter Schleier legte sich über ihn … und Brox wurde von Schwärze umfangen. Drei Nächte … drei lange Nächte, und noch immer zeitigen unsere Bemühungen kein Ergebnis …
Xavius war unzufrieden.
Drei der Hochgeborenen traten zurück von ihrem Zauberwerk und wurde sofort durch jene ersetzt, die ihre Kräfte durch ein wenig dringend benötigten Schlaf wieder hatten auffrischen können. Xavius’ künstliche schwarze Augen wandten sich den dreien zu, die ihre Schicht gerade beendet hatten. Einer von ihnen bemerkte sein dunkles Starren und zuckte zusammen. Die Hochgeborenen mochten die Höchsten der Diener Azsharas sein, aber Lord Xavius war der Höchste – und Gefährlichste – der Hochgeborenen.
»Morgen Nacht … morgen Nacht erhöhen wir das Energiefeld um das Zehnfache«, erklärte er, und die roten Streifen in seinen Augen loderten auf.
Unfähig, sich seinem Blick zu stellen, brachte einer der anderen Hochgeborenen trotzdem den Mut auf zu sagen: »Mit allem gebührenden Respekt, Lord Xavius, aber damit riskieren wir zu viel! Solch eine zusätzliche Energieerhöhung könnte alles gefährden, was wir bereits erreicht haben.«
»Und was haben wir erreicht, Peroth’arn?« Xavius hohe Gestalt ragte bedrohlich über den anderen in Roben gekleideten Männern auf, und sein Schatten schien sich in dem wahnwitzigen Licht des Zaubers nach eigenem Willen zu bewegen. »Was haben wir erreicht?«
»Nun, wir gebieten über eine größere Macht als Nachtelfen je zuvor in ihren Händen gehalten haben.«
Xavius nickte. Dann runzelte er die Stirn. »Ja, und mit dieser Macht können wir ein Insekt mit einem Hammer zerquetschen, der so groß ist wie ein Berg! Ihr seid ein kurzsichtiger Narr, Peroth’arn! Seid froh, dass ich Eure Fähigkeiten für dieses Projekt benötige.«
Mit krampfhaft fest verschlossenem Mund senkte der andere Nachtelf dankbar den Kopf.
Der Berater der Königin blickte verächtlich auf den Rest der Hochgeborenen. »Für das, was wir vorhaben, benötigen wir die absolute Macht über die Quelle! Wir müssen die Fähigkeit erlangen, das Insekt zu töten, ohne dass es überhaupt seinen Tod bemerkt – bis es längst geschehen ist! Wir benötigen eine solche Präzision, ein solches Feingefühl, dass es keine Frage mehr ist, ob wir unser Endziel auch perfekt ausführen werden! Wir –«
»Predigst du wieder, mein lieber Xavius?«
Die melodische Stimme hätte jeden anderen Hochgeborenen so verzaubert, dass er sich selbst getötet hätte, wäre dies der Wille der Sprecherin gewesen. Nicht so Xavius mit den Onyxaugen. Mit einer achtlosen Geste schickte er die müden Zauberer fort, dann wandte er sich der einen Person im Palast zu, die ihm nicht den ihm gebührenden Respekt zollte.
Sie glitzerte, als sie eintrat, eine Vision der Vollkommenheit, die durch Xavius’ magische Augen noch verstärkt wurde. Sie war die Pracht und die Herrlichkeit der Nachtelfen, ihre geliebte Herrin. Wenn sie atmete, machte sie die Menge atemlos. Wenn sie die Wange eines ihrer Lieblingskrieger berührte, dann zog er aus und kämpfte bereitwillig gegen Drachen und mehr, mochte dies auch seinen sicheren Tod bedeuten.
Die Königin der Nachtelfen war groß für eine Frau, größer sogar als viele Männer. Nur Xavius überragte sie noch. Doch trotz ihrer Größe bewegte sie sich wie der Wind. Stille Eleganz wiegte in jedem ihrer Schritte. Keine Katze ging so leise wie Azshara, und keine Katze ging mit solcher Selbstsicherheit.
Ihre tief violette Haut war so glatt wie das hauchfeine Seidengewand, das sie trug. Ihr Haar, lang, dicht, üppig und vom Silber des Mondlichts, floss in Kaskaden um ihre Schultern und ihren wohlgeformten Rücken herab. Im Unterschied zu ihrem letzten Besuch, bei dem sie Gewänder getragen hatte, die zu ihren Augen passten, präsentierte sie nun ein wallendes Gewand von der gleichen wundersamen Farbe wie ihr luxuriöses Haar.
Selbst Xavius begehrte sie heimlich, doch auf seine sehr eigene Art. Sein Ehrgeiz beherrschte ihn weit mehr, als ihre weiblichen Schliche es jemals vermocht hätten. Trotzdem fand er großen Nutzen in ihrer Präsenz, genauso wie er wusste, dass sie großen Nutzen in der seinen fand. Sie teilten einen gemeinsamen Ehrgeiz, doch am Ziel ihrer Wünsche würde unterschiedliche Belohnung auf sie warten.
Wenn das Ziel schließlich erreicht war, würde Xavius Azshara zeigen, wer in Wahrheit regierte.
»Licht des Mondes«, begann er, und ein Ausdruck des Gehorsams lag auf seinem Gesicht. »Ich predige über Eure Reinheit, Eure Makellosigkeit! Ich erinnere diese anderen an ihre Pflichten – nein, an ihre Liebe – Euch gegenüber. Daher sollten sie nicht wünschen, Euch zu enttäuschen …«
»Denn sie würden auch dich enttäuschen, mein liebster Berater.« Hinter der hinreißenden Königin trugen zwei Kammerzofen die Schleppe ihres langen, durchscheinenden Gewandes. Sie hoben die Schleppe auf die Seite, als Azshara sich auf dem besonderen Sessel niederließ, den sie von den Hochgeborenen hatte aufstellen lassen, damit sie ihre Bemühungen bequem verfolgen konnte. »Und ich glaube, sie fürchten dich mehr, als sie mich lieben.«
»Kaum, meine Herrin!«
Die Königin setzte sich so in Position, dass sie die Bemühungen ihrer Zauberer im Auge behalten konnte und ihre perfekte Figur auf vorteilhafte Weise betont wurde.
Xavius blieb durch ihr Manöver unbewegt. Er würde sie besitzen – und alles andere, was er begehrte –, wenn sie erst mit ihrer großen Mission Erfolg hatten.
Ein plötzlicher Blitz blendenden Lichts zog ihrer beider Aufmerksamkeit auf die Arbeit der Zauberer. Im Zentrum des von den Hochgeborenen geschaffenen Kreises bildete sich eine wütende Energiekugel ständig neu. Die Myriaden von Formen und Farben, die über ihre Oberfläche spielten, besaßen eine hypnotische Wirkung, vor allem da sie oft ein Tor in das Anderswo zu öffnen schienen. Xavius verbrachte lange Stunden damit, allein in die Schöpfung der Nachtelfen zu blicken und mit seinen magischen Augen zu schauen, was keiner der anderen sehen konnte.
Während er jetzt hinblickte, runzelte der Berater die Stirn. Er kniff die Augen zusammen und studierte die endlosen Tiefen im Innern der Sphäre. Einen winzigen Augenblick lang hätte er schwören können, dass er etwas gesehen hatte, das …
»Ich glaube, du hörst mir nicht zu, mein liebster Xavius! Ist so etwas möglich?«
Es gelang ihm, sich wieder zu fangen. »Ebenso wie es möglich ist, dass man lebt, ohne zu atmen, Tochter des Mondes … Aber ich gestehe, ich war abgelenkt genug, dass ich Euch vielleicht nicht richtig verstanden habe. Ihr spracht noch einmal etwas über …«
Ein kurzes, kehliges Kichern brach aus Königin Azshara heraus, aber sie widersprach ihm nicht. »Was gibt es da zu verstehen? Ich habe einfach nur noch einmal erklärt, dass wir mit absoluter Gewissheit triumphieren werden! Bald besitzen wir die Macht und die Fähigkeit, unser Land von seiner Unvollkommenheit zu reinigen und hier das perfekte Paradies zu schaffen …«
»So wird es sein, meine Königin, so wird es sein. Wir stehen kurz vor der Geburt eines großen goldenen Zeitalters. Das Reich – Euer Reich – wird gereinigt werden. Die Welt wird ewige Herrlichkeit erleben!« Xavius erlaubte sich ein leichtes Lächeln. »Und die niedrigen, unreinen Völker, die in der Vergangenheit verhindert haben, dass ein solches perfektes Zeitalter entstehen konnte, werden nicht mehr existieren.«
Azshara belohnte seine Worte mit einem zufriedenen Lächeln, dann sagte sie: »Es freut mich, dass du so sprichst. Ich hatte heute wieder mehr Bittsteller, mein liebster Berater. Sie kamen in Furcht vor der aufgewühlten Quelle und fragten mich um Rat, was die Ursachen dieses Aufruhrs betrifft, und ob Gefahr bestünde. Natürlich habe ich ihre Anfragen an dich weitergeleitet.«
»Da habt Ihr recht getan, Herrin. Ich werde ihre Ängste lange genug besänftigen, um unsere wichtige Aufgabe zur Vollendung führen zu können. Danach wird es Eure Freude sein, verkünden zu dürfen, dass alles zum Wohle Eures Volkes geschah …«
»Und es wird mich noch umso mehr dafür lieben«, flüsterte Azshara, und ihre Augen wurden schmaler, als sie sich die dankbare Menge vorstellte.
»Falls es Euch überhaupt noch mehr lieben kann als es dies bereits tut, meine glorreiche Königin.«
Azshara belohnte sein Kompliment mit einem kurzen Senken ihrer Mandelaugen, dann erhob sie sich mit der weichen Eleganz, zu der nur sie fähig war, aus dem Sessel. Ihre Kammerzofen ergriffen schnell die Schleppe des Kleides, damit es sie in keiner Weise in ihren Bewegungen behinderte. »Ich werde die wunderbare Erklärung bald abgeben, Lord Xavius«, verkündete sie und wandte sich von dem Berater ab. »Sorg dafür, dass alles bereit ist, wenn ich dies tue.«
»Ich werde alle Stunden meines Wachseins dieser Mission widmen«, antwortete er und verbeugte sich vor ihrer bereits durch die Tür entschwindenden Gestalt. »Und sie wird die Träume meines Schlummers beherrschen.«
Doch in dem Augenblick, da sie und ihre Begleiterinnen fort waren, legte sich ein tiefes Stirnrunzeln auf das kalte Gesicht des Beraters. Er winkte einen der steingesichtigen Soldaten, die ständig am Eingang der Kammer Wache standen, zu sich.
»Sollte ich das nächste Mal nicht vorher benachrichtigt werden, wenn sich Ihre Majestät entschließt, uns zu besuchen, verlierst du deinen Kopf. Hast du verstanden?«
»Jawohl, Herr«, erwiderte der Wachmann, und sein Gesicht zeigte weiterhin keine Regung.
»Außerdem erwarte ich, dass man mich noch vor Ihrer Majestät über die Rückkehr von Hauptmann Varo’then informiert. Seine Mission ist nichts, womit sie sich ihre Hände schmutzig machen sollte. Sorge dafür, dass der Hauptmann – und was auch immer er mit sich führt – sofort zu mir gebracht wird.«
»Jawohl, Herr.«
Xavius schickte den Wachmann wieder fort und kehrte zu seiner Aufgabe zurück, den Zauber der Hochgeborenen zu überwachen.
Ein Netz tanzender, magischer Energien umspielte nun die feurige Sphäre, die sich weiterhin immer wieder neu erschuf. Während Xavius sie betrachtete, faltete sich die Kugel nach innen, fast so, als wolle sie sich selbst verschlingen.
»Faszinierend …«, flüsterte er. Aus solcher Nähe konnte der Lord-Berater die starken Emanationen spüren, die kaum zu fesselnden Energien, die aus der Quelle aller magischen Macht der Nachtelfen beschworen worden waren. Es war Xavius gewesen, der als Erster geahnt hatte, dass sein Volk bisher nur die Oberfläche des Potenzials dieser dunklen Wasser berührt hatte. Je mehr er sie studierte, desto mehr wurde die Quelle der Ewigkeit ihrem Namen gerecht, und desto mehr erkannte Xavius, dass ihre Kräfte unendlich waren. Die physischen Dimensionen der Quelle waren nur ein Trick des begrenzten Geistes … die wahre Quelle existierte in tausend Dimensionen, an Tausenden von Orten gleichzeitig.
Und aus jedem Aspekt der Quelle, aus jeder ihrer Inkarnationen, würde der Hochgeborene lernen herauszuziehen, was auch immer ihm gefiel.
Das hier geballte Potenzial brachte sogar seinen Geist ins Wanken.
Energien und Farben, die selbst die anderen nicht sehen konnten, tanzten und fochten vor Xavius’ magischem Blick. Sie zogen ihn mit ihrer verlockenden, elementaren Macht an. Der Lord-Berater trank den phantastischen Anblick vor sich wie einen berauschenden Wein …
Doch plötzlich fühlte er, wie aus dem Innern der Sphäre – aus einer Tiefe jenseits der physischen Welt – etwas zurückstarrte.
Dieses Mal wusste der Nachtelf, dass er sich nicht getäuscht hatte. Xavius spürte eine ferne Präsenz. Doch trotz der unglaublichen Entfernung war die Macht, die von ihr ausging, schwindelerregend.
Er versuchte, sich zurückzuziehen, doch es war bereits zu spät. Tief innerhalb der missbrauchten Energien der Quelle, wurde der Geist des Beraters plötzlich über die Grenzen der Realität gezogen, über die Grenzen der Ewigkeit hinaus … bis …
Ich habe lange nach dir gesucht … sprach die Stimme. Sie war Leben, sie war Tod, sie war Schöpfung und Zerstörung … und unbegrenzte Macht.
Selbst wenn er es gewollt hätte, Xavius wäre nicht in der Lage gewesen, seinen Blick von dem Abgrund loszureißen, der sich im Zentrum der Energien auftat. Andere Augen zogen den Lord-Berater nun in ihren Bann … die Augen seines neuen Gottes.
Und jetzt bist du zu mir gekommen …
Die Wasser brodelten als würden sie kochen. Gigantische Wellen erhoben sich und stürzten zusammen. Immer und immer wieder. Blitze erhellten den Himmel über dem dunklen Quell.
Dann kamen die Flüsterstimmen.
Die ersten Nachtelfen, die sie hörten, meinten, bei den Geräuschen handele es sich nur um den heulenden Wind. Sie ignorierten sie bald vollkommen und machten sich vor allem Sorgen um die mögliche Zerstörung ihrer noblen Häuser.
Ein paar, deren scharfe Sinne sensibler für die unirdischen Energien der Quelle waren, verstanden sie als das, was sie waren: Stimmen, die aus der Quelle selbst kamen. Doch was die Stimmen sagten, das konnten die Meisten nicht verstehen.
Es waren ein oder zwei Nachtelfen, die die Stimmen klar hören konnten und sich wahrhaft fürchteten … und doch nicht zu den anderen über ihre Furcht sprachen, damit man sie nicht für verrückt erklärte und aus der Gemeinschaft verbannte. So ignorierten sie die einzige Warnung, die sie jemals erhalten würden.
Die Stimmen sprachen von nichts anderem als dem Hunger. Sie hungerten nach allem. Nach Leben, Energie, Seelen … Sie wollten zu dieser Welt durchbrechen, ins unberührte Reich der Nachtelfen.
Und sobald sie dort angekommen waren, würden sie es verschlingen …