»Es ist so weit.«
Alexstraszas Rückkehr überraschte Krasus ebenso wie ihre Ankündigung. Der Drachenmagier war so tief in seinen Gedanken versunken, dass die verstreichenden Minuten und Stunden für ihn jede Bedeutung verloren hatten. Er wusste noch nicht einmal, ob er lange auf ihre Rückkehr gewartet hatte.
»Ich bin bereit.«
Sie beugte sich vor und ließ ihn in ihren Nacken steigen. Alexstrasza bewegte sich graziös durch die uralten Gänge, die von Generationen des roten Drachenschwarms in den Fels gegraben worden waren. Schon bald erreichten sie und Krasus eine Öffnung, durch die der Wind pfiff und von der aus man über ein weites, wolkenverhangenes Land blickte. Dies war das Reich der roten Drachen, ein atemberaubendes Land voller mächtiger Berge mit schneebedeckten Gipfeln, die in ewigen Nebel gehüllt waren.
Krasus konnte sich vorstellen, wie hoch der Berg seines Clans sein musste, wenn die meisten Wolken darunter hingen. In seinem lückenhaften Gedächtnis fand er Erinnerungsfetzen eines majestätischen Landes, dessen lang gezogene Täler durch Eis und Zeit entstanden waren und in dem jeder Gipfel ein eigenes zerfurchtes Gesicht hatte.
Er schwankte plötzlich. Die dünne Luft reichte seinem verletzten Körper nicht. Nur Alexstrasza und ihre Flügel bewahrten ihn vor einem Sturz.
»Vielleicht ist dies nicht der beste Ort für dich«, sagte sie in besorgtem Tonfall.
Doch so abrupt Krasus’ Zusammenbruch gekommen war, so schnell spürte er jetzt eine neue Stärke seinen Körper durchströmen.
»Ich hoffe … ich habe mich nicht verspätet.«
Korialstrasz ging müde auf seine Gefährtin zu und sah dabei aus, wie Krasus sich noch kurz zuvor gefühlt hatte. Doch auch dem Drachen schien es mit einem Mal besser zu gehen. Die Erschöpfung wich aus seinem Gesicht, als er sich näherte.
»Das hast du nicht. Fühlst du dich stark genug für die Reise?«
»Bis gerade eben dachte ich, ich könne nicht mitkommen … doch es scheint mir wieder besser zu gehen.« Sein Blick glitt von Alexstrasza zu Krasus und wieder zurück zu ihr. Er schien den Grund für die überraschende Besserung seiner Befindlichkeit zu ahnen, wollte ihn aber wohl nicht akzeptieren.
Die Drachenkönigin reichte Krasus an ihren Gefährten weiter. Als Krasus sein jüngeres Ich berührte, fühlte er, wie sein Körper sich noch schneller erholte. Der direkte Kontakt mit Korialstrasz machte ihn beinahe glauben, er wäre wieder ganz er selbst.
Beinahe.
»Bist du bereit?«, fragte ihn der Drache.
»Das bin ich.«
Alexstrasza trat vor, breitete ihre Schwingen aus und ließ sich aus der Öffnung fallen. Sie stürzte nach unten und verschwand in den Wolken. Korialstrasz trat an den Rand des Abgrunds, was seinem winzigen Passagier eine noch atemberaubendere Aussicht gewährte. Dann schwang auch er sich in die Lüfte.
Zunächst fielen sie in die Wolken hinein, dann aber stieg Korialstrasz in einer Windböe nach oben. Durch den Nebel sah Krasus, dass Alexstrasza weit voraus flog. Allerdings war sie so langsam, dass ihr Gefährte rasch aufholte.
»Ist alles in Ordnung?«, rief sie, eine Frage, die sich an beide Gefährten richtete.
Krasus nickte und auch Korialstrasz bejahte. Die Drachenkönigin konzentrierte sich wieder auf ihren Flug und schwieg.
Das Gefühl zu fliegen, und sei es auch nur auf dem Rücken eines anderen, begeisterte den Magier. Er war dafür geboren, dies zu tun. Das machte es ihm noch schwerer, die momentane Situation zu ertragen. Schließlich war er ein Drache. Ein Herr der Lüfte! Er sollte nicht zu einer solch armseligen Existenz verdammt sein.
Sie ließen einen Berg nach dem anderen hinter sich, flogen durch dichte Wolken und zerfurchte Gipfel. Krasus’ menschlicher Körper zitterte in der Kälte, aber er bemerkte es kaum, so sehr faszinierte ihn die Aussicht.
Elegant umrundeten die beiden Drachen einen schroffen Gipfel und tauchten ab in ein breites Tal inmitten der Bergkette. Krasus sah sich sorgfältig um. Er konnte nichts außer der Landschaft erkennen, ahnte aber, dass sie ihrem Ziel nahe gekommen waren.
»Halt dich gut fest!«, rief Korialstrasz.
Krasus wollte nach dem Grund fragen, doch da spürte er bereits die Erschütterungen. Die Luft selbst bäumte sich auf und rollte nach außen – wie Wellen auf einem See, nachdem man einen Stein hineingeworfen hat. Im ersten Moment fürchtete Krasus, die Anomalie, die ihn in diese Zeit geschleudert hatte, könnte zurückgekehrt sein. Doch dann bemerkte er, mit welchem Eifer sein Drache auf das verstörende Phänomen zuhielt.
Vor ihnen tauchte Alexstrasza in die gewaltige Erschütterung der Luft – und verschwand.
Uralte Bilder stiegen widerstrebend aus dem dunklen Abgrund in Krasus’ Geist auf. Es waren Erinnerungen an eine andere Zeit, in der er sich als Drache willentlich in genau das gleiche Phänomen gestürzt hatte. Krasus spannte sich an, um auf das vorbereitet zu sein, was auf ihn einstürmen würde, sobald Korialstrasz seiner Königin folgte.
Sie flogen hinein.
Elektrizität schien jeden Zentimeter des Körpers des Magiers zu durchfließen. Seine Nerven summten. Krasus fühlte sich, als sei er zu einem Bestandteil des Himmels geworden, zu einem Kind von Licht und Donner. Der Drang, selbst zu fliegen, übermannte ihn beinahe. Er musste seine ganze Disziplin aufbieten, um seinen Drachen nicht loszulassen und sich Wolken und Wind anzuschließen.
Das Gefühl verging so plötzlich wieder, dass Krasus sich noch stärker an Korialstrasz festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er blinzelte, fühlte sich sehr erdverbunden und sehr sterblich. Dieser Perspektivenwechsel überwältigte ihn dermaßen, dass Krasus im ersten Moment nicht bemerkte, dass sich seine Umgebung völlig verändert hatte.
Sie schwebten in einer riesigen Höhle, so gewaltig, dass selbst Alexstrasza nicht größer als ein Insekt darin wirkte. Ganze Königreiche hätten hineingepasst, Königreiche mit Wäldern, Feldern und Farmen. Und selbst dann hätte es noch Platz für weit mehr gegeben.
Aber dies war nicht nur eine Höhle von unglaublicher Größe, es gab noch andere Dinge, die diesen Ort von allen anderen unterschieden. Die Wände waren glatt, aber dennoch gebogen, ihre Glätte so perfekt, dass man die Hand darüber gleiten lassen konnte, ohne den geringsten Widerstand zu spüren. Bis hinab zum Boden war das so, wo die Wand auf einen gewaltigen flachen Kreis traf, der sich, hätte ihn jemand vermessen, als geometrisch perfekt erwiesen hätte.
Der Boden war völlig flach und eben. Die Wände krümmten sich auf ihrem Weg zur Decke immer weiter nach innen und schufen so eine Kuppel, dessen Aussehen durch die fehlenden Mineralien einen eigenartigen Reiz erlangte. Keine Stalaktiten hingen drohend von der Decke herab, keine Stalagmiten bohrten sich vom Boden in die Höhe. Es gab keine Risse und keine sonstigen Makel in der Höhle, die Krasus schließlich als die Kammer der Aspekte erkannte.
Diese Kammer war uralt. Man sagte, die Schöpfer hätten die Welt an diesem heiligen Ort erschaffen und wachsen lassen, bevor sie sie in den Kosmos entließen. Selbst die größten Drachen konnten diese Behauptung nicht entkräften, denn es gab nur diesen einen magischen Eingang, den sie durch Zufall vor Jahrhunderten entdeckt hatten. Sie wussten noch nicht einmal, ob dieser Ort in die Dimension der Sterblichen eingebettet war. Alle Versuche, die Wände zu durchbohren, waren gescheitert, und die Aspekte hatten ihre diesbezüglichen Bemühungen schon vor langer Zeit wieder aufgegeben.
Ein weiteres Mysterium dieser unglaublichen Höhle war das helle, goldene Licht, das die Kammer der Aspekte erfüllte und keinen erkennbaren Ursprung besaß. Krasus erinnerte sich, dass niemand wusste, ob das Leuchten verschwand, sobald die Kammer verlassen wurde – oder ob es immer dort war. Alle, die eintraten, fühlten sich jedenfalls von ihm willkommen geheißen, wie von einem treuen Wächter.
Als Korialstrasz zur Landung ansetzte, erkannte Krasus, dass er sich trotz seines lückenhaften Gedächtnisses sehr gut an diesen heiligen Ort erinnern konnte. Das sagte einiges über die Kammer der Aspekte aus – denn hier wurzelten Erinnerungen, die er niemals vergessen konnte und die niemals vergehen würden.
Die beiden Drachen landeten auf dem Felsboden und sahen sich um. Trotz der gewaltigen Ausmaße wussten sie, dass die anderen noch nicht eingetroffen waren.
»Hast du mit allen gesprochen?«, fragte Korialstrasz.
Die Königin des Lebens schüttelte ihr majestätisches Haupt. »Nur mit Ysera. Sie sagte, sie würde die anderen benachrichtigen.«
»Und ich tat, was ich konnte«, antwortete eine verträumt klingende weibliche Stimme.
In einiger Entfernung erschien eine verschwommene smaragdgrüne Gestalt in der Luft. Sie wurde nicht ganz stofflich, aber Krasus erkannte einen schmalen, grazilen Drachen, fast so groß wie Alexstrasza. Ein ständiger Nebel umgab die halb durchsichtige Gestalt, dennoch war zu erkennen, dass sie ihre Augen geschlossen hielt, selbst während sie redete.
Die anderen Drachen senkten ihre Köpfe in ehrerbietiger Begrüßung. Alexstrasza sagte: »Es freut mich, dass du so schnell gekommen bist, meine gute Ysera.«
Die Träumerin, wie sie auch genannt wurde, erwiderte den Gruß. Ihr Gesicht wandte sich den beiden zu, die mit ihr gekommen waren, und obwohl ihre Augen geschlossen blieben, spürte Krasus ihren durchdringenden Blick. »Ich bin hier, weil du meine Schwester bist. Ich bin hier, weil du nur um eine Zusammenkunft bitten würdest, wenn es wichtig ist.«
»Und die anderen?«
»Nozdormu ist der Einzige, den ich nicht direkt erreichen konnte. Du kennst ihn ja. Ich musste mit jemandem sprechen, der ihm dient, und dieser sagte, er würde tun, was in seiner Macht stehe, um seinem Herrn die Nachricht zu überbringen … mehr konnte ich dort nicht erreichen.«
Alexstrasza nickte dankbar, konnte ihre Enttäuschung aber nicht verbergen. »Selbst wenn die anderen hierher kommen, können wir keine endgültige Entscheidung treffen.«
»Der Zeitlose kommt vielleicht noch.«
Krasus, der nach wie vor auf seinem jüngeren Ich saß, hielt die gescheiterte Kontaktaufnahme mit Nozdormu für ein schlechtes Omen. Er wusste, wie schwierig der Zeitlose war, denn Nozdormu verkörperte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft … und damit alles, was jemals geschehen war oder noch geschehen würde. Krasus hatte gehofft, gerade ihn hier zu treffen, denn in ihm sah er eine Chance, mit seinem Begleiter zurück in seine eigene Zeit zu gelangen und die ganze Geschichte doch noch friedlich zu beenden.
Ohne diese Hoffnung musste sich Krasus mit dem Gedanken vertraut machen, dass die Aspekte zum Schutz der Zeitlinie vielleicht ihn und Rhonin würden auslöschen müssen.
Plötzlich tauchten über ihm rote Lichtblitze auf und erschufen einen Sturm, der sich wirbelnd dem Boden näherte. Als er ihn erreichte, platzte er in leuchtenden Farben auseinander, dehnte sich aus und bildete eine Gestalt.
Die Lichter verloschen flackernd, und in ihrem Zentrum stand ein großer, glitzernder Drache, der zu einem Teil aus Kristall, zu einem anderen aus Eis zu bestehen schien. Sein Gesichtsausdruck war für einen Leviathan ungewöhnlich fröhlich, als habe er das von ihm verursachte Spektakel noch mehr genossen als seine Zuschauer.
»Willkommen, Malygos«, sagte Alexstrasza höflich.
»Es ist mir eine Freude, dich zu sehen, Königin des Lebens!« Der glitzernde Riese lachte aus voller Brust. »Und dich ebenfalls, meine hübsche Träumerin.«
Ysera nickte. Ihr Gesichtsausdruck wirkte leicht amüsiert.
»Wie geht es deinem Reich?«, fragte die rote Königin.
»So wundervoll, wie ich es mir nur wünschen kann! Es ist voller Licht, voller Farben und voller Jugend.«
»Vielleicht hätten die Schöpfer dich eher zum Vater des Lebens als zum Wächter der Magie machen sollen, Malygos.«
»Ein interessanter Gedanke. Vielleicht sollten wir bei einer anderen Gelegenheit darüber sprechen.« Er lachte erneut.
»Ist alles in Ordnung?«, wandte sich Korialstrasz an Krasus, der bei der Ankunft des neuen Drachen vor Entsetzen ganz starr geworden war.
»Alles in Ordnung. Ich musste nur meine Sitzhaltung ein wenig verändern.« Die winzige Gestalt war dankbar, dass Korialstrasz sein Gesicht nicht sehen konnte. Je länger Krasus Malygos beobachtete und ihm zuhörte, desto mehr bedauerte er, dass er den Aspekten nicht die Wahrheit über die Zukunft sagen durfte.
Was würdest du tun, Wächter der Magie, wenn du wüsstest, welches Schicksal dich erwartet? Verrat, Wahnsinn, ein gefrorenes Reich, in dem niemand außer dir selbst mehr existiert …
Krasus konnte sich nicht an alle Details von Malygos’ Zukunft erinnern, aber in seinen Gedanken befanden sich so viele Fragmente, dass er die Tragödie verstehen und bedauern konnte. Trotzdem brachte er es nicht über sich, den funkelnden Drachen zu warnen.
»Und diesem hier verdanken wir also unser Treffen?«, fragte Malygos mit einem Blick auf Krasus.
»Das ist richtig«, antwortete Alexstrasza.
Der Wächter der Magie blähte die Nüstern. »Er trägt unseren Geruch, doch das könnte an seiner Nähe zu deinem Gefährten liegen. Da bin ich mir nicht sicher. Ich spüre auch, dass ihn alte Magie umgibt. Steht er unter einem Zauber?«
»Er soll uns seine Geschichte selbst erzählen«, antwortete Alexstrasza und ersparte Krasus damit ein Verhör. »Sobald die anderen eingetroffen sind.«
»Einer kommt gerade«, verkündete Ysera.
Die Decke warf Falten und begann zu leuchten. Eine riesige geflügelte Gestalt erschien und glitt in weit ausholenden Kreisen dem Boden entgegen. Die anderen Aspekte schwiegen respektvoll und sahen zu, wie sich der gewaltige Drache näherte.
Er war größer als die anderen Drachen, ein geflügelter Leviathan so schwarz wie die Nacht und mit mehr Würde, als selbst die kühnsten Darstellungen eines Drachen zeigen konnten. Schmale Streifen aus echtem Silber und Gold durchzogen seinen Körper bis zum Schwanz und betonten den Rücken und die Flanken. Glitzernde Blitze zwischen den Schuppen ließen die Diamanten erahnen, die sich dahinter verbargen. Von dem Ankömmling ging eine Aura uralter Macht aus, ähnlich der Kräfte, aus denen die Welt an ihrem Anfang beschaffen gewesen sein mochte.
Er landete hinter den anderen und faltete seine großen Flügel majestätisch zusammen. Mit tiefer, volltönender Stimme sagte der schwarze Drache: »Du hast gerufen, und ich bin gekommen. Ich freue mich immer, meine Freundin Alexstrasza zu sehen …«
»Und ich heiße dich willkommen, mein lieber Neltharion.«
Krasus hatte eben schon große Schwierigkeiten gehabt, Malygos zu ignorieren. Nun aber kämpfte er darum, nicht zu erzittern und mit keinem Wimpernschlag anzudeuten, wie sehr ihn Neltharions Gegenwart berührte. Als er Malygos sah, hatte er an das schreckliche Schicksal denken müssen, das dem Wächter der Magie bevorstand, doch jetzt machte sich Krasus Sorgen um das Schicksal aller Drachen … und das der Welt, sollte sie die Brennende Legion weiter bestehen.
Vor ihm stand Neltharion.
Neltharion, der Wächter der Erde. Er war der Aspekt, den man am stärksten respektierte und außerdem eng mit Krasus’ geliebter Königin befreundet. Wäre Neltharion Teil ihres eigenen Schwarms gewesen, hätte sie ihn sicherlich schon längst als einen ihrer Gefährten erwählt. Abgesehen von ihnen war auch der Wächter der Erde der, den Alexstrasza aufsuchte, wenn sie Rat brauchte, denn der ernste schwarze Drache hatte einen scharfen Verstand. Neltharion handelte nur, wenn er alle Konsequenzen bedacht hatte, und als junger Drache hatte Krasus oft versucht, ihm nachzueifern.
Doch in der Zukunft, in die der Magier gehörte, hätte jeder Gedanke an ein Nacheifern Neltharions puren Wahnsinn bedeutet. Neltharion hatte den Schutz, den die Aspekte den Sterblichen boten, abgelehnt. Stattdessen hatte er sich auf den Standpunkt zurückgezogen, die niederen Völker trügen die Schuld an allem Bösen, das in der Welt war. Er hatte beschlossen, sie zu entfernen … und all jene, die ihnen Beistand leisteten.
In dieser Zukunft träumte Neltharion von einer Welt, in der die Drachen – vor allem sein eigener Schwarm – über alles herrschten. Diese wachsende Besessenheit trieb ihn zu zahllosen dunklen Taten, Taten, die so grässlich waren, dass Neltharion schließlich zu einer ebenso großen Gefahr für die Welt wurde, wie die Brennende Legion. Die anderen Aspekte hatten sich schließlich gegen ihn zusammengeschlossen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits furchtbare Verwüstungen angerichtet.
Als er alles, was er einmal war, ablehnte, verleugnete Neltharion auch seinen Namen. Seine ehemaligen Freunde gaben ihm einen neuen, unter dem er allen Wesen bekannt wurde und der schließlich zum Synonym für das Böse werden sollte.
Deathwing …
Dort vor Krasus stand also Deathwing, der Zerstörer. Doch der Drachenmagier konnte die anderen nicht warnen. Tatsächlich war es so, dass Krasus zwar wusste, zu welcher Gefahr Neltharion erwachsen würde, aber er konnte sich nicht erinnern, wo und wann die Tragödie ihren Anfang genommen hatte. Wenn er jetzt, an diesem kritischen Punkt, Misstrauen unter den Aspekten säte, beschwor er eine Katastrophe, die vielleicht noch größer war als die, die der Erdwächter in der Zukunft verkörperte.
Und doch …
»Ich war überrascht, dass Ysera mich benachrichtigte und nicht du«, sagte der Schwarze. »Geht es dir gut, Alexstrasza?«
»Ja, Neltharion.«
Er betrachtete ihre Begleiter. »Und dir, junger Korialstrasz? Dir scheint es nicht gut zu gehen.«
»Eine vorübergehende Krankheit«, antwortete der rote Drache respektvoll. »Es ist mir eine Ehre, Euch wiederzusehen, Wächter der Erde.«
Sie unterhielten sich wie Bekannte und doch erinnerte sich Krasus, dass Neltharion ihn als Deathwing kaum erkannt hatte. Zur Zeit der Orc-Kriege war der schwarze Riese dem Wahnsinn bereits so lange verfallen gewesen, dass er vergangene Freundschaften längst vergessen hatte. Nichts außer seinem dunklen Ziel hatte für ihn gezählt.
Aber hier war Neltharion immer noch sein Verbündeter. Er blickte über Korialstrasz’ Kopf hinweg auf die kleine, angespannte Gestalt. »Du bist also derjenige. Hast du einen Namen?«
»Krasus!«, schnappte der Magier. »Krasus!«
»Ein mutiger kleiner Mann«, sagte Neltharion amüsiert. »Ich glaube, dass er tatsächlich ein Drache ist, so wie Ysera es angedeutet hat.«
»Ein Drache, der eine Geschichte zu erzählen hat«, fügte Alexstrasza hinzu. Sie blickte empor zur Decke, zu der Stelle, wo sie und die anderen in die Höhle gelangt waren. »Aber ich würde es vorziehen, Nozdormu noch etwas Zeit zu lassen, bevor wir beginnen.«
»Du willst dem Zeitlosen mehr Zeit geben?« Malygos lachte. »Wie nett! Ich werde den schlechtgelaunten Nozdormu erst gehen lassen, wenn er sich dazu geäußert hat.«
»Und du wirst ihn bestimmt zeitig daran erinnern, nicht wahr?«, gab Neltharion zurück. Er grinste breit.
Malygos lachte noch lauter. Er und Neltharion traten beiseite und begannen sich zu unterhalten.
»Sie mögen vielleicht nicht vom gleichen Geblüt sein«, sagte Ysera und folgte ihnen mit Blicken aus ihren geschlossenen Augen. »Aber sie sind Brüder im Geiste.«
Alexstrasza stimmte zu. »Es ist gut, dass Neltharion sich mit Malygos beschäftigt. Mir gegenüber hat er sich in der letzten Zeit sehr schweigsam verhalten.«
»Ich spüre seine Distanz ebenfalls. Die Taten der Nachtelfen erfüllen ihn nicht eben mit Freude. Er sagte einmal, sie hätten den größenwahnsinnigen Wunsch, wie die Schöpfer zu werden, ohne deren Wissen und Weitsicht zu besitzen.«
»Damit hat er vielleicht Recht«, antwortete die Königin des Lebens. Ihre Blicke glitten zu Krasus.
Der Magier fühlte sich unwohl unter ihrem Blick. Alexstrasza war es, die seine Warnung am dringlichsten benötigte. Durch Deathwings Taten war sie zu einer Sklavin der Orcs geworden, und ihre Kinder waren skrupellos dem Kampf geopfert worden. Deathwing hatte die letzten Tage des Orc-Kriegs genutzt, um nach dem zu suchen, wonach ihn wirklich gelüstete … nach den Eiern der Königin des Lebens. Seinen eigenen Schwarm hatte er durch seine wahnsinnigen Pläne beinahe ausgelöscht.
Welche Grenze ziehe ich?, fragte Krasus sich selbst. Wann werde ich sie endgültig überschreiten? Ich kann nichts über die Orcs preisgeben, nichts über den Verrat des Erdwächters, nichts über die Brennende Legion … ich kann ihnen nur so viel sagen, dass es wahrscheinlich genügen wird, mich und Rhonin hinzurichten!
Frustriert starrte er einen der Gründe für sein Problem an. Neltharion unterhielt sich freundlich mit Malygos, der den anderen wartenden Drachen den Rücken zuwandte. Der große Schwarze streckte seine Flügel aus und nickte zu einer Bemerkung seines glitzernden Gesprächspartners. Wären sie Menschen, Zwerge oder Angehörige eines anderen sterblichen Volks gewesen, hätte man sich die beiden auch biertrinkend in einer Taverne vorstellen können. Die niederen Völker betrachteten die Drachen entweder als monströse Bestien oder als würdevolle Weise – doch in Wirklichkeit waren ihre Persönlichkeiten in mancher Weise so erdverbunden wie die der Wichte, über die sie wachten.
Neltharions Blicke lösten sich kurz von Malygos und wechselten zu Krasus.
Und in diesem kurzen Augenblick begriff Krasus, dass er und die anderen bisher nur die Fassade des Schwarzen gesehen hatten. Die Dunkelheit hatte bereits Besitz vom Wächter der Erde ergriffen.
Das ist unmöglich!, beharrte Krasus und versuchte verzweifelt, nichts von seinen Befürchtungen nach außen dringen zu lassen. Nicht jetzt schon! Zu einem so frühen und brisanten Zeitpunkt konnte Neltharions Verwandlung in Deathwing noch nicht beginnen. Die Aspekte mussten vereint und einig bleiben – nicht nur wegen der bevorstehenden Invasion, sondern auch wegen der Störung der Zeitlinie, die Krasus und sein ehemaliger Schüler ausgelöst hatten. Er musste sich in dem schwarzen Leviathan geirrt haben. Neltharion gehörte gewiss noch zu den sagenumwobenen Beschützern der Dimension der Sterblichen …
Krasus verfluchte seine fehlende Erinnerung. Wann hatte Neltharion mit seinem Verrat begonnen? Wann war er zum Schrecken allen Lebens geworden? Sollte es wirklich hier und jetzt beginnen – oder hatte Neltharion noch an der Seite der anderen gekämpft, obwohl die Dunkelheit ihn bereits umschlungen hielt?
Der Magier starrte den Wächter der Erde an. Trotz seines Versprechens fragte sich Krasus, ob er die Regeln nicht doch würde brechen müssen. Konnte es denn tatsächlich falsch sein, die Aspekte vor dem Schurken in ihrer Mitte zu warnen?
Neltharion blickte erneut zu ihm herüber … und dieses Mal blieben seine Augen auf Krasus ruhen.
Erst jetzt begriff Krasus, dass Neltharion den Funken des Wiedererkennens bei ihm bemerkt hatte. Der schwarze Drache schien zu wissen, dass hier jemand war, der sein furchtbares Geheimnis enthüllen konnte.
Krasus wollte wegsehen, aber seine Pupillen bewegten sich nicht. Zu spät erkannte er den Grund: Der Wächter der Erde hatte bemerkt, dass man sein wahres Ich durchschaut hatte – und schnell und entschlossen gehandelt. Er hielt Krasus mit der gleichen Leichtigkeit in seinem Bann, mit der er atmete.
Ich werde ihm nicht unterliegen! Er war entschlossen, eine Flucht zu versuchen, aber sein Wille erwies sich als nicht stark genug. Mit ein wenig Vorbereitung hätte Krasus den Kampf gegen Neltharions Geist vielleicht aufnehmen können, aber seine furchtbare Entdeckung hatte ihm die Konzentration geraubt … eine Gelegenheit, die der schwarze Drache sich nicht hatte entgehen lassen.
Du kennst mich … aber ich kenne dich nicht.
Die eiskalte Stimme erfüllte seinen Geist. Krasus betete, dass jemand bemerkte, was zwischen ihnen vorging, aber für die anderen musste es aussehen, als sei weiterhin alles in Ordnung. Es überraschte ihn, dass selbst seine geliebte Alexstrasza nicht die Wahrheit erkannte.
Du willst dich gegen mich wenden … willst, dass die anderen mich so sehen wie du … Du willst, dass sie ihrem alten Freund misstrauen … ihrem Bruder …
Die Worte des Wächters der Erde verrieten, wie tief der Wahnsinn bereits in ihm nistete. Krasus spürte den rasenden Verfolgungswahn in Neltharion und die brennende Überzeugung, dass niemand außer dem schwarzen Drachen wusste, was die Welt nötig hatte. Jeder, der auch nur die geringste Bedrohung für Neltharion darstellte, verkörperte in seinen Augen das Böse.
Ich werde dir nicht erlauben, deine boshaften Lügen zu verbreiten …
Krasus erwartete, auf der Stelle niedergestreckt zu werden, aber zu seiner Überraschung wandte sich Neltharion ab und setzte seine Unterhaltung mit Malygos fort.
Was spielt er für ein Spiel?, fragte sich der Drachenmagier. Zuerst droht er mir, dann ignoriert er meine Anwesenheit.
Er beobachtete den schwarzen Drachen misstrauisch, aber Neltharion schien ihn nicht einmal mehr zu bemerken.
»Er kommt nicht«, sagte Ysera schließlich.
»Vielleicht doch noch«, antwortete Alexstrasza. Krasus sah sie an und begriff, dass sie sich über Nozdormu unterhielten.
»Nein, ich habe mit dem gesprochen, der seinen Herrn suchen wollte. Er kann ihn nicht finden. Der Zeitlose hält sich jenseits der Welt der Sterblichen auf.«
Yseras Neuigkeiten waren ein schlechtes Omen. Krasus wusste einiges über Nozdormu und nahm an, dass die Diener des Zeitlosen ihn aufgrund der Anomalie nicht hatten kontaktieren können. Wenn allein Nozdormu, wie Krasus glaubte, die Zeit zusammen hielt, benötigte er jetzt jede Faser seiner Existenz. Viele Nozdormus würden gegen die Zeit kämpfen … da blieb niemand für diese Zusammenkunft übrig.
Krasus’ Hoffnung schwand weiter. Nozdormu war verschwunden und Neltharion wahnsinnig …
»Dann stimme ich dir zu«, antwortete Alexstrasza auf Yseras Worte. »Wir werden trotz des fehlenden Mitglieds beginnen. Es gibt keine Regel, die es uns verbietet, über die Angelegenheit zu sprechen, nachdem wir den Bericht gehört haben. Wir können nur keine Entscheidung über unser weiteres Vorgehen fällen.«
Korialstrasz senkte sein Haupt und ließ seinen Reiter absteigen. Mit ausdruckslosem Gesicht trat Krasus vor die versammelten Riesen und versuchte dabei, den Wächter der Erde nicht anzusehen. Alexstraszas Blicke ermutigten ihn, sodass der Drachenmagier wusste, was er zu tun hatte.
»Ich bin einer der Euren«, verkündete er mit einer Stimme, so laut wie die der ihn umgebenden Leviathane. »Die Königin des Lebens kennt meinen Namen, aber für den Augenblick bin ich einfach nur Krasus!«
»Er brüllt gut, der Kleine«, scherzte Malygos.
Krasus sah ihn an. »Das ist nicht die Zeit für Scherze, vor allem nicht, was Euch angeht, Wächter der Magie. Die Dinge sind aus dem Lot geraten. Ein furchtbarer Fehler, eine Störung der Realität bedroht alles … absolut alles!«
»Wie dramatisch«, kommentierte Neltharion beinahe gelangweilt.
Krasus musste sich zusammenreißen, um nicht die Wahrheit über den Schwarzen Drachen zu enthüllen. Zumindest noch nicht …
»Hört meine Geschichte«, beharrte Krasus. »Hört und versteht sie … denn am Horizont lauert eine weit größere Gefahr, eine, die uns betrifft. Hört zu …«
Doch als er die ersten Worte seiner Geschichte aussprechen wollte, musste Krasus erkennen, dass ihm seine Zunge nicht mehr gehorchte. Anstelle klarer Sätze stieß er nur unvollständige Silben hervor.
Die meisten versammelten Drachen zeigten sich verwirrt von seinem seltsamen Benehmen. Krasus blickte rasch zu Alexstrasza, suchte ihre Hilfe, aber sie wirkte ebenso irritiert wie die anderen.
Im Kopf des Magiers begann sich alles zu drehen. Schwindel übermannte ihn und ließ ihn taumeln. Schwachsinnige Worte kamen über seine Lippen, aber Krasus wusste ohnehin längst nicht mehr, was er hatte verkünden wollen.
Als seine Beine unter ihm nachgaben und der Schwindel ihn vollends übermannte, erklang unerwartet die tödlich sanfte Stimme von Neltharion in seinem Geist.
Ich hatte dich gewarnt …