3

Korialstrasz erreichte die Küste von Kalimdor spät am Tage. Er und Rhonin legten nur eine kurze Rast ein, um etwas zu essen – der Drache nahm seine Kost außer Sichtweite des Zauberers ein –, dann setzten sie den Weg zu der fernen Bergkette fort, die einen großen Teil der westlichen Regionen des Landes bedeckte. Korialstrasz flog mit zunehmender Entschlossenheit, je näher sie ihrem Ziel kamen. Er hatte Rhonin nicht gesagt, dass er immer wieder versucht hatte, mit Nozdormu in Kontakt zu treten … und dass dem kein Erfolg beschieden gewesen war. Bald jedoch würde es darauf nicht mehr ankommen, denn sie würden aus erster Hand erfahren, was den Aspekt der Zeit so entsetzt hatte.

»Der Berg da!«, schrie Rhonin. Obwohl er wieder geschlafen hatte, fühlte er sich kaum erfrischt. Dunkle Bilder der bösen Insel hatten seine Träume heimgesucht. »Den Berg erkenne ich wieder!«

Der Drache nickte. Es war die letzte Landmarke vor ihrem Ziel. Auch wenn er die Spitze nicht zur gleichen Zeit wie sein Reiter gesehen hätte, wäre ihm nicht die Falschheit im Gewebe der Realität entgangen … und das bedeutete, dass sie tatsächlich etwas Schreckliches erwartete.

Trotz dieser Gewissheit wurde der Leviathan sogar noch schneller. Er hatte keine andere Wahl. Was auch immer vor ihnen lag, die einzigen, die eine Katastrophe verhindern konnten, waren er und die winzige menschliche Gestalt, die er auf seinem Rücken trug.

Doch während die scharfen Augen von Mensch und Drache das Ziel erkannt hatten, bemerkten sie nicht die Augen, die wiederum sie erspähten.

»Ein roter Drache …«, grollte der Orc. »Ein roter Drache mit einem Reiter …«

»Gehört er zu uns, Brox?«, fragte sein Begleiter. »Noch ein Orc?«

Brox grunzte seinen Gefährten an. Der andere Orc war jung, zu jung, um im Krieg gegen die Legion von großem Nutzen gewesen zu sein, und er konnte sich mit Sicherheit nicht an die Zeit erinnern, als es Orcs gewesen waren und nicht Menschen, die solche Bestien geritten hatten. Gaskai kannte nur die Geschichten, die Legenden. »Gaskai, du Narr, wenn ein Drache heutzutage einen Orc tragen würde, dann nur in seinem Bauch!«

Gaskai zuckte nur gleichgültig die Schultern. Jeder Zoll seines Körpers war stolzer Orc-Krieger – groß und muskulös mit einer zähen, grünlichen Haut und zwei riesigen Stoßzähnen, die aus seinem Unterkiefer nach oben ragten. Er hatte die breite Nase und die dichten, buschigen Augenbrauen eines Orcs, und seine dunkle Haarmähne hing zwischen den Schultern herab. In einer fleischigen Hand hielt Gaskai eine riesige Streitaxt, während die andere um den Riemen seines Ziegenlederrucksacks geschlossen war. Wie Brox war auch er in einen dicken Fellmantel gekleidet, unter dem er einen Leder-Kilt und Sandalen trug, die mit Stoff umwickelt waren, um die Körperwärme zu bewahren. Die Orcs waren ein hartgesottenes Volk, das in jedem Element überleben konnte. Aber in diesen unwirtlichen Bergen hier mussten selbst sie alles tun, um sich zu wappnen.

Auch Brox war ein stolzer Krieger, aber die Zeit hatte ihm Wunden geschlagen, wie kein anderer Feind es vermocht hätte. Er war mehrere Zoll kleiner als Gaskai, was teilweise an seinem vom Alter gebeugten Rücken lag. Die Mähne des Kriegsveteranen war dünn geworden und begann zu ergrauen. Narben und Altersfalten suchten sein breites, bulliges Gesicht heim, und im Unterschied zu seinem jugendlichen Gefährten war der ständige Ausdruck von Eifer auf seinem Gesicht einem nachdenklichen Misstrauen und stets gegenwärtigen Erschöpfung gewichen.

Seine abgenutzte Streitaxt fest umklammert, stapfte Brox durch den tiefen Schnee. »Die sind dorthin unterwegs, wohin wir auch wollen.«

»Woher weißt du das?«

»Wo sollten die sonst hin?«

Da er kein Gegenargument fand, hielt Gaskal den Mund und gab Brox die Chance, über den Grund nachzudenken, der sie beide an diesen trostlosen Ort geführt hatte.

Er war nicht dabei gewesen, als der alte Schamane bei Thrall erschien und um eine sofortige Audienz ersuchte. Aber er hatte Details dieser Begegnung erfahren. Natürlich hatte Thrall ihn sofort ausgeschickt, denn er hatte großen Respekt vor den alten Wegen und betrachtete Kalthar als einen weisen Berater. Wenn Kalthar ihn sofort zu sprechen wünschte, musste es dafür einen sehr guten Grund geben.

Oder einen sehr schlechten.


Zwei von Thralls Wachen stützten den gebrechlichen Kalthar, als er eintrat und auf dem Boden vor dem hoch aufragenden Kriegshäuptling Platz nahm. Aus Respekt vor dem alten Schamanen setzte sich Thrall ebenfalls auf den Boden, damit sich ihre Augen auf gleicher Höhe treffen konnten. Über Thralls gekreuzten Beinen lag der riesige Kriegshammer mit dem schweren Kopf seit Generationen die Geißel aller Feinde der Horde. Der neue Kriegshäuptling der Orcs war breitschultrig, muskulös und für seine Stellung relativ jung. Doch niemand stellte Thralls Fähigkeiten als Anführer in Frage. Er hatte die Orcs aus den Lagern, in denen man sie wie Vieh zusammengepfercht hatte, befreit und ihnen ihre Ehre und ihren Stolz zurückgegeben.

Er hatte einen Pakt mit den Menschen geschlossen und es der Horde so erst ermöglicht, ein neues Leben zu beginnen. Das Volk sang bereits Lieder über ihn, die man von Generation zu Generation weiterreichen würde.

In seine schwarze, mit Symbolen verzierte Rüstung gekleidet, die er zusammen mit dem riesigen Hammer von seinem Vorgänger, dem legendären Orgrim Doomhammer, geerbt hatte, senkte der Höchste aller Krieger den Kopf und fragte demütig: »Wie kann ich Euch zu Diensten sein, großer Schamane, der Ihr mich mit Eurer Gegenwart ehrt?«

»Indem Ihr nur zuhört«, erwiderte Kalthar. »Und indem Ihr wirklich zuhört.«

Der Kriegshäuptling mit dem ausgeprägten Kinn lehnte sich vor. Seine erstaunlichen und seltenen blauen Augen – die von den Seinen als ein Zeichen des Schicksals betrachtet wurden – verengten sich vor angespannter Erwartung. Auf seinem Weg vom Sklaven und Gladiator zum Herrscher hatte Thrall den Pfad des Schamanen studiert und selbst schamanische Künste gemeistert. Er begriff sofort, dass Kalthar einen triftigen Grund haben musste, so zu sprechen, er zischte leicht. Die Königin zog ihre Finger zurück. Auf ihrem perfekten Gesicht lag ein merkwürdig zufriedener Ausdruck. »Warum habt Ihr die Quelle dann nicht von diesen äußeren Störungen getrennt? Das würde Eure Arbeit wesentlich vereinfachen.«

Lord Xavius öffnete den Mund, um ihr zu erklären, weshalb der Charakter der Zauber, die die Hochgeborenen wirkten, dies nicht zuließ, begriff dann jedoch, dass er kein wirklich gutes Gegenargument zu ihrem Einfall hatte. The ein einzelnes Medaillon, auf dem golden eine Axt und ein Hammer eingraviert waren. Seine Augen verrieten die rasche Auffassungsgabe und die Intelligenz, die ihn als einen fähigen Anführer auswiesen. Als er sich bewegte, tat er dies nicht mit tierischer Orc-Kraft, sondern mit einer fließenden Geschmeidigkeit und Haltung, die besser zu einem Menschen oder einem Elf gepasst hätten.

»Das riecht nach Magie«, knurrte er. »Nach mächtiger Magie. Etwas für Zauberer … vielleicht.«

»Möglicherweise wissen sie schon davon«, erwiderte Kalthar. »Aber wir können es uns nicht leisten, auf sie zu warten, großer Kriegshäuptling.«

Thrall verstand. »Ihr wollt, dass ich jemanden an den Ort entsende, den Ihr geschaut habt?«

»Das würde mir am klügsten erscheinen. So könnten wir zumindest in Erfahrung bringen, womit wir es genau zu tun haben.«

Der Kriegshäuptling rieb sich das Kinn. »Ich glaube, ich weiß, wen ich entsenden werde. Einen guten Krieger.« Er blickte die Wachen an. »Brox! Bringt sofort Brox zu mir!«


Und so war Brox in seine Mission eingeweiht worden. Thrall hatte großen Respekt vor Brox, denn der ältere Krieger war ein Held des letzten Krieges, der einzige Überlebende einer Schar tapferer Krieger, die einen wichtigen Pass gegen die Dämonen gehalten hatten. Mit seiner Streitaxt hatte Brox die Schädel von mehr als einem Dutzend der feurigen Feinde gespalten. Sein letzter Kamerad starb gerade als lebende Fackel, als endlich Verstärkung eintraf und die Lage rettete. Blutverschmiert und einsam inmitten des Gemetzels stehend, erschien Brox den Ankömmlingen wie eine Vision aus den alten Geschichten ihres Volkes. Sein Name wurde fast ebenso hoch verehrt wie der von Thrall.

Aber es war mehr als der Name des Veteranen, was ihm den Respekt des Kriegshäuptlings eingetragen und Thrall dazu bewegt hatte, sich für ihn zu entscheiden. Thrall wusste, dass Brox, wie er selbst, ein Krieger war, der nicht nur mit seinem Arm, sondern auch mit seinem Verstand focht. Der Orc-Herrscher konnte keine Armee in die Berge entsenden. Er musste die Mission einem oder zwei geschickten Kriegern anvertrauen, die ihm dann ihre Erkenntnisse vermitteln konnten.

Gaskal wurde ausgewählt, um Brox zu begleiten, weil er immer wieder sein Geschick im Kampf und seinen absoluten Gehorsam bewiesen hatte. Der jüngere Orc gehörte zu der neuen Generation, die in relativem Frieden mit den anderen Völkern aufwachsen würde. Brox war froh, diesen fähigen Krieger an seiner Seite zu haben.

Der Schamane hatte den Weg durch die Berge so perfekt beschrieben, dass das Paar seinem Zeitplan weit voraus war. Nach Brox’ Einschätzung musste ihr Ziel direkt hinter dem nächsten Kamm liegen … genau dort, wo Drache und Reiter verschwunden waren.

Brox’ Griff um die Axt schloss sich fester. Die Orcs hatten sich zum Frieden bekannt, aber er und Gaskai würden, wenn nötig, kämpfen – selbst, wenn dies ihren sicheren Tod bedeuten mochte.

Der alte Krieger unterdrückte das grimmige Lächeln, das sich ihm beim letzten Gedanken um den Mund hatte legen wollen. Ja, er wäre bereit, bis zum Tod zu kämpfen. Denn Brox litt unter einem schrecklichen Gefühl der Schuld, die seit jenem Tag im Pass an seiner Seele nagte.

Sie waren alle getötet worden, alle außer Brox, und er konnte es nicht verstehen. Er fühlte sich schuldig, weil er noch am Leben – weil er nicht tapfer mit seinen Kameraden gestorben war. Für ihn war der Umstand, dass er weiterlebte, ein Quell ewiger Schande. Er hatte nicht, wie die anderen, sein Bestes gegeben. Seit dieser Zeit hatte er gewartet und auf eine Gelegenheit gehofft, seine Schuld einzulösen. Seine Schuld einzulösen … und zu sterben.

Nun hatte das Schicksal ihm vielleicht die ersehnte Chance geliefert.

»Weiter!«, befahl er Gaskai. »Wir können sie erreichen, bevor sie es sich bequem gemacht haben!« Jetzt erlaubte er sich ein breites Grinsen, das sein Kamerad als typische Orc-Begeisterung auffassen würde. »Und wenn sie uns irgendwelchen Ärger machen, werden sie meinen, es mit der ganzen Horde zu tun bekommen zu haben!«

Während die Insel der vergangenen Nacht wie ein unheilvoller Ort erschienen war, fühlte sich der Bergpass, in den sie nun hineinsanken, einfach falsch an. Das war das treffendste Wort, das Rhonin einfiel, um die Gefühle zu beschreiben, die ihn durchströmten. Was auch immer sie suchten … es hätte nicht existieren dürfen. Es war, als habe das Gewebe der Realität selbst einen schrecklichen Fehler begangen …

Dieses Gefühl war ungeheuer intensiv, und der Zauberer, der sich jedem nur vorstellbaren Alptraum gestellt hatte, wollte fortan nur noch eines: dass der Drache sofort umkehrte. Er sagte jedoch nichts und erinnerte sich daran, wie er schon auf der Insel seine Unsicherheit zum Ausdruck gebracht hatte. Vielleicht bereute Korialstrasz ja bereits, dass er ihn mitgenommen hatte.

Das rote Ungetüm bog seine Schwingen, als es auf die Erde niederging. Seine gigantischen Pranken sanken in den Schnee und suchten einen möglichst sicheren Bereich zum Landen.

Rhonin klammerte sich fest am Nacken des Drachen. Er fühlte jede Vibration und hoffte, dass seine Hände ihn nicht im Stich lassen würden. Sein Rucksack schlug gegen seinen Rücken, prügelte auf ihn ein.

Endlich kam Korialstrasz zum Stehen. Das reptilische Gesicht wandte sich dem Zauberer zu. »Geht es dir gut?«

»Den … den Umständen entsprechend!«, keuchte Rhonin. Er war früher schon auf Drachen geflogen, aber noch nie eine so weite Strecke.

Entweder wusste Korialstrasz, dass sein Passagier noch erschöpft war, oder auch der Drache selbst benötigte eine Pause nach dem gewaltigen Flug. »Wir werden ein paar Stunden hier bleiben, unsere Kräfte sammeln. Ich nehme keine Veränderung in den Emanationen des … Phänomens wahr. Wir sollten genug Zeit haben, uns zu erholen. Das ist jetzt wahrscheinlich das Klügste.«

»Was das angeht, werde ich mich nicht mit dir streiten«, antwortete Rhonin und glitt vom Rücken des Giganten.

Der Wind blies schroff durch die Berge, und die hohen Spitzen warfen viel Schatten. Aber mit ein wenig Magie und im Schutze eines Felsüberhangs gelang es dem Zauberer, sich warm genug zu halten. Während er seinen steif gewordenen Körper streckte, schritt Korialstrasz auf den vor ihnen liegenden Pass zu und erkundete das Gelände. Das Ungetüm verschwand in einiger Entfernung, wo der Pfad sich hinter einer Kurve fortsetzte.

Die Kapuze über den Kopf gezogen, döste Rhonin. Dieses Mal waren seine Gedanken von guten Bildern erfüllt … wahren Bildern von Vereesa und der bevorstehenden Geburt. Der Zauberer lächelte und dachte an seine Rückkehr. Bald war er eingeschlafen.


Er erwachte durch sich nähernde Geräusche. Zu Rhonins Überraschung war es nicht der Drache Korialstrasz, der zu ihm zurückkehrte, sondern die in fließende Gewänder gehüllte Gestalt von Krasus.

Als Antwort auf die Frage in den geweiteten Augen des Menschen erklärte der Drachenmagier: »Es gibt mehrere instabile Stellen in der Nähe. In dieser Gestalt besteht weniger Gefahr, sie zum Kollabieren zu bringen. Ich kann mich jederzeit wieder verwandeln, falls dies notwendig werden sollte.«

»Hast du irgendetwas gefunden?«

Das nicht perfekt elfische Gesicht runzelte die Stirn. »Ich fühle den Aspekt der Zeit. Er ist hier, und doch ist er es nicht. Es ist verwirrend.«

»Sollten wir anfangen …«

Noch bevor Rhonin seinen Satz vollenden konnte, hallte ein schrilles Heulen durch die Bergkette. Der Laut ging dem Zauberer durch Mark und Bein, und selbst Krasus wirkte aufs Höchste beunruhigt.

»Was war denn das?«, keuchte Rhonin.

»Ich weiß es nicht.« Der Drachemagier richtete sich auf. »Wir sollten weitergehen. Unser Ziel ist nicht mehr fern.«

»Fliegen wir nicht?«

»Ich spüre, dass das, wonach wir suchen, in einem schmalen Pass zwischen den nächsten Bergen liegt. Ein Drache würde da nicht hinein passen, zwei schlichte Wandersleute schon.«

Krasus übernahm die Führung, und sie brachen in nordöstlicher Richtung auf. Rhonins Gefährte schien die Kälte nicht zu spüren, aber er, der Mensch, musste die Schutzzauber auf seiner Kleidung verstärken. Trotzdem fühlte er die Unwirtlichkeit des Landes auch weiterhin auf seinem Gesicht und an den Händen.

Es dauerte nicht lange, und sie erreichten den Anfang jenes Passes, von dem Krasus gesprochen hatte. Jetzt sah Rhonin, was der andere gemeint hatte. Der Pass war wenig mehr als ein enger Korridor. Ein halbes Dutzend Männer hätten Seite an Seite durch ihn hindurch marschieren können, ohne sich beengt zu fühlen, aber ein Drache hätte kaum seinen Kopf hineinzuquetschen vermocht, ganz zu schweigen von seinem riesigen Leib.

Die hohen Steilwände woben noch dunklere Schatten, und Rhonin fragte sich, ob sie nicht irgendeine Form von Licht benötigten, um diesen Weg sicher zu bewältigen.

Krasus schritt ohne Zögern weiter. Er war sich seines Zieles gewiss und marschierte immer zügiger, als könne er es kaum noch erwarten.

Der Wind heulte durch die Schlucht und wurde lauter und schriller, je weiter sie gingen. Rhonin musste sich anstrengen, um mit seinem früheren Mentor Schritt zu halten.

»Sind wir bald da?«, rief er schließlich.

»Bald. Es liegt nur …«

Krasus schwieg für einen Moment.

»Was ist?«

Der Drachenmagier lauschte konzentriert in sich hinein und runzelte der Stirn. »Es ist nicht … nun, es ist nicht mehr exakt dort, wo es eigentlich sein sollte.«

»Du meinst, es hat sich bewegt

»Davon gehe ich aus.«

»Ist es normal, dass es sich bewegt?«, fragte der Zauberer mit dem Feuerschopf und lugte den dunklen Pfad hinab, der vor ihnen lag.

»Du unterliegst dem Irrtum, dass ich genau wüsste, was uns erwartet, Rhonin. Ich weiß und verstehe nur wenig mehr als du selbst.«

Das gefiel dem Menschen überhaupt nicht. »Also, was schlägst du vor, sollen wir tun?«

Die Augen des Drachenmagiers glühten in einem inneren Feuer, als er über die Frage nachsann. »Wir gehen weiter. Das ist alles, was wir tun können.«

Aber nach nur kurzer Strecke stießen sie auf eine neue Art von Hindernis, eines, das Krasus aus der Luft nicht hatte erkennen können. Der Pass gabelte sich in zwei Richtungen, und obwohl es möglich war, dass die beiden Schluchten sich irgendwo voraus wieder verbanden, konnte das Paar nicht sicher davon ausgehen.

Krasus betrachtete beide Wege. »Sie verlaufen beide in der Nähe unseres Ziels, aber ich kann nicht spüren, welcher Pfad näher liegt. Wir werden sie beide versuchen müssen.«

»Trennen wir uns?«

»Ich würde es vorziehen, wenn wir dies vermeiden könnten, aber ja, wir müssen uns trennen. Wir werden beide fünfhundert Schritt weit unserem Pfad folgen, dann drehen wir um und treffen uns wieder hier. Hoffentlich haben wir dann herausgefunden, welcher Weg der Erfolgversprechendere ist.«

Rhonin nahm den Korridor zur Linken und folgte Krasus’ Anweisungen. Während er die Schritte abzählte, kam er bald zu dem Schluss, dass sein Weg Potenzial hatte. Nicht nur wurde der Pass vor ihm immer breiter, der Zauberer meinte auch, die Störung klarer als jemals zuvor spüren zu können. Obwohl Krasus’ magische Sinne schärfer als die seinen waren, hätte selbst ein Novize das Abnorme wahrnehmen können, das die vor ihm liegende Region durchdrang.

Trotz seiner Zuversicht kehrte Rhonin noch nicht um. Die Neugierde trieb ihn weiter.

Er hatte jedoch kaum mehr als einen weiteren Schritt getan, als er etwas Neues fühlte, etwas reichlich Verstörendes dazu. Rhonin hielt inne und versuchte zu bestimmen, was sich an der Anomalie plötzlich anders anfühlte.

Sie bewegte sich. Aber das war nicht alles.

Sie bewegte sich auf ihn zu … und zwar überaus schnell!

Er fühlte sie, bevor er sie sah. Es war, als würde alle Zeit zusammengepresst, dann gestreckt, dann wieder gequetscht … Rhonin fühlte sich alt, jung – und jeden Augenblick seines Lebens dazwischen. Überwältigt zögerte der Zauberer.

Und die Finsternis vor ihm löste sich in einem Kaleidoskop schillernder Farben auf, von denen er manche noch nie zuvor gesehen hatte. Eine ständige Explosion elementarer Energie erschütterte sowohl die leere Luft, als auch den festen Stein und erhob sich zu phantastischer Höhe. Rhonins begrenzter Geist erschien das Phänomen wie eine hoch aufragende, feurige Blume, die blühte, verwelkte und wieder erblühte … und mit jedem Aufblühen wurde sie größer.

Als sich das Phänomen näherte, kam der Magier schließlich wieder zu Sinnen. Er wirbelte herum und rannte los.

Geräusche dröhnten in seinen Ohren. Stimmen, Musik, Donner, Vögel, Wasser … alles.

Trotz seiner Furcht, dass es ihn einholen würde, fiel das rätselhafte Schauspiel hinter ihm zurück. Aber Rhonin hörte nicht auf zu laufen. Er fürchtete, dass es jederzeit vorstürmen und ihn verschlingen könnte.

Krasus hatte die letzte Verschiebung gewiss ebenfalls gespürt. Mit Sicherheit eilte er bereits zu Rhonin. Gemeinsam würden sie einen Wegen finden, um …

Ein schreckliches Heulen hallte durch den Pass.

Eine riesige, achtbeinige Wolfsgestalt stürzte auf Rhonin herab.

Wäre er jemand anderes gewesen, als der Mann, der er war, der Zauberer hätte hier und jetzt den Tod gefunden und wäre die Beute einer wilden, säbelzahnbewehrten Kreatur mit vier flammend grünen Augen geworden, die ihre acht Tatzen in ihn grub. Das monströse Wolfswesen warf ihn zu Boden, doch Rhonin, dessen Kleidung durch Magie vor den Elementen geschützt war, erwies sich als widerstandsfähig. Die Klauen schlugen in einen Mantel, den sie eigentlich sofort hätten zerfetzen müssen …

… nur um eine Kralle einzubüßen, die prompt abbrach.

Graues Fell sträubte sich im Nacken der Bestie. Sie heulte enttäuscht auf. Rhonin ergriff seine Chance beim Schopf und wob einen einfachen, aber effektiven Zauber, der ihm schon in der Vergangenheit gute Dienste geleistet hatte.

Eine Kakophonie von Licht explodierte vor den Smaragdaugen der Kreatur. Das Tier wurde sofort geblendet und zuckte erschreckt zurück, während es erfolglos nach den blitzenden Mustern schlug.

Rhonin kroch außer Reichweite und kam wieder auf die Beine. Er hatte keine Möglichkeit zu fliehen. Damit hätte er der Bestie nur den Rücken zugekehrt, und sein Schutzzauber verlor bereits an Kraft. Noch ein paar weitere Schläge dieser Pranken und die Krallen würden dem Zauberer das Fleisch von den Knochen schälen.

Feuer hatte bei dem Ghoul auf der Insel funktioniert, und Rhonin sah keinen Grund, warum ein so altbewährter Zauber ihm nicht auch hier gute Dienste leisten sollte. Er murmelte die Worte …

… die jedoch unerklärlicherweise rückwärts aus seinem Mund drangen. Schlimmer noch, Rhonin erkannte zu seinem Entsetzen, dass er sich rückwärts bewegte und vor die Klauen der geblendeten Bestie zurückkehrte.

Die Zeit hatte sich um ihre eigene Achse gedreht … aber wie?

Die Antwort materialisierte etwas weiter den Pass hinab. Krasus’ Anomalie hatte ihn eingeholt.

Geisterhafte Bilder flatterten an Rhonin vorbei. Ritter, die in die Schlacht ritten. Eine Hochzeit. Ein Sturm auf dem Meer. Orcs, die um ein Feuer herum Kriegsgesänge anstimmten. Seltsame Wesen, die im Kampf ineinander verkrallt waren.

Plötzlich konnte er sich wieder vorwärts bewegen. Rhonin schoss aus der Reichweite der Bestie, dann wirbelte er herum, um sich ihr wieder zu stellen. Dieses Mal zögerte er nicht und wob seinen Zauber.

Die Flammen schossen in Gestalt einer mächtigen Pranke vor, aber als sie sich der monströsen Kreatur näherten, verlangsamten sie … hielten an, gefroren in der Zeit.

Fluchend begann Rhonin einen neuen Zauber.

Der achtbeinige Schrecken sprang um das gefrorene Feuer herum und brüllte, als er auf den Menschen zu stürmte.

Rhonin schleuderte den Zauber.

Die Erde unter der Abscheulichkeit explodierte, ein Sturm von Schmutz erhob sich in die Luft und bedeckte die Wolfskreatur. Sie brüllte ein weiteres Mal, und trotz der enormen Kräfte, gegen die sie angehen musste, kämpfte sie sich weiter auf den Magier zu.

Um Beine und Rumpf des Tiers bildete sich eine Kruste. Sein Maul schloss sich fest, als eine Schicht felsenharter Erde es versiegelte. Eines nach dem anderen verschwanden die grünen Augen unter einem Staubmantel.

Nur wenige Fuß vor ihrem Opfer kam die Kreatur zum Stehen. Hätte ein Unbeteiligter sie betrachtet, so hätte er den Eindruck gewinnen können, es mit einer perfekt modellierten Statue zu tun zu haben, nicht mit dem Monster selbst.

In diesem Moment erfüllte Krasus’ Stimme Rhonins Schädel.

Endlich!, rief der Drachenmagier. Rhonin … die Störung wächst! Sie hat dich fast erreicht!

Von der fürchterlichen Bestie abgelenkt, hatte der Zauberer nicht mehr auf die Anomalie geachtet. Als er dies nun tat, weiteten sich seine Augen.

Sie füllte einen Raum aus, der zehn Mal höher und zweifellos auch zehn Mal breiter war als der Pass. Massiver Fels bedeutete ihr nichts. Die Störung strich einfach durch ihn hindurch, als existiere er nicht. Doch in ihrem Gefolge veränderte sich die Landschaft. Einige der Felsen sahen verwitterter aus, während andere Abschnitte wirkten, als seien sie gerade erst nach den titanischen Wehen einer vulkanischen Geburt erkaltet. Die schlimmsten Verwandlungen schienen dort stattzufinden, wo die Ränder der feurigen Blume einander berührten.

Rhonin wollte nicht daran denken, was mit ihm geschehen würde, wenn dieses Ding auch in Kontakt mit ihm geriet.

Er begann wieder zu rennen.

Die Bewegungen und das Wachstum des Phänomens haben sich plötzlich viel schneller erhöht, aber ich weiß nicht, warum, sprach Krasus weiter in seinem Kopf. Ich fürchte, ich werde dich nicht rechtzeitig erreichen. Du musst einen Teleporationszauber weben!

Meine Zauber funktionieren nicht immer so, wie sie sollten!, erwiderte Rhonin. Die Anomalie bringt sie durcheinander!

Wir werden in Verbindung bleiben! Das sollte helfen, deine Magie zu stärken! Ich werde dich zu mir führen, damit wir gemeinsam vorgehen können!

Rhonin hatte wenig Lust, sich an Orte zu teleportieren, die er noch nie gesehen hatte, und das Risiko einzugehen, in einem Berg eingeschlossen zu enden. Doch wenn Krasus mit ihm verbunden war, würde die Aufgabe erheblich leichter werden.

Er konzentrierte sich auf Krasus und stellte sich das Bild des Drachenmagiers vor. Der Zauber begann sich zu formen. Rhonin fühlte, wie sich die Welt um ihn verschob.

Die feurige Blume wuchs plötzlich auf fast das Doppelte ihrer vorherigen Größe an.

Zu spät erkannte Rhonin, warum. Sie reagierte auf den Einsatz von Magie … seiner Magie! Er wollte den Zauber abbrechen, aber es war bereits zu spät.

Krasus! Brich die Verbindung ab! Brich sie ab, bevor auch du …

Die Anomalie verschlang ihn.

Rhonin?

Aber Rhonin konnte nicht antworten. Er wirbelte herum und herum, wurde wie ein Blatt im Sturm hin und her geschleudert. Mit jeder Umdrehung flog er schneller. Erneut attackierten ihn Geräusche und Bilder. Er sah die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft und erkannte jeden dieser Abschnitte als das, was er war. Er fing einen Blick auf die versteinerte Bestie auf, als sie wild an ihm vorbei segelte und von etwas verschlungen wurde, das man nur als einen Strudel aus Zeit beschreiben konnte.

Andere Dinge flogen an ihm vorüber, willkürliche Objekte und sogar Geschöpfe. Ein ganzes Schiff mit zerfetzten Segeln, dessen Rumpf in der Nähe des Bugs eingedrückt war, schoss dahin und verschwand. Ein Baum, auf dem noch immer ein Schwarm Vögel saß, folgte. In der Ferne streckte ein Krake, der von der Spitze seines Kopfes bis zum Ende seiner Tentakel gut fünfzig Fuß maß, einen seiner Fangarme nach ihm aus, um Rhonin mit sich zu reißen, aber dann verschwand auch er wie alles andere.

Von irgendwoher erklang noch einmal Krasus’ schwacher Ruf. Rhonin

Der junge Zauberer seinerseits rief den Namen des Drachenmagiers, erhielt aber keine Antwort.

Der Strudel füllte sein gesamtes Blickfeld aus. Und als er ihn in sich hinein sog, galten Rhonins letzte Gedanken Vereesa und den Kindern, die er niemals kennen lernen würde.

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