Schwindel schwappte wie eine Welle über Krasus hinweg. Der Angriff erfolgte so unvermittelt, dass er ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Nur Momente zuvor hatte er sich wegen seiner großen Nähe zu Korialstrasz wieder wie er selbst gefühlt, und der Drache trug ihn gerade mit hoher Geschwindigkeit in die ungefähre Richtung, in der Cenarius’ Lichtung lag. Aber sie waren ihr noch nicht so nahe, dass der Halbgott sie hätte bemerken können. Die Entschlossenheit, den Nachtelf zu finden, den Nozdormu ihm gezeigt hatte, verlieh Krasus zusätzliche Kraft. Deshalb traf ihn das plötzliche Schwindelgefühl so unvorbereitet, dass er beinahe von Korialstrasz’ Nacken gestürzt wäre.
Der Drache verlagerte sein Gewicht im letzten Moment, doch Krasus’ jüngeres Ich wirkte ebenfalls verstört.
»Fühlst du dich immer noch nicht besser?«, rief der Drache.
»Ich … erhole mich.« Krasus blickte in den Nachthimmel und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Er durchsuchte seine lückenhafte Erinnerungen und fand schließlich eine mögliche Antwort. »Mein Freund, kennst du die Hauptstadt der Nachtelfen?«
»Zin-Azshari? Ich kenne sie ein wenig.«
»Flieg dorthin.«
»Aber deine Suche …«
Krasus ließ sich nicht von seinem Entschluss abbringen. »Wir müssen sofort dorthin! Es ist von allergrößter Wichtigkeit.«
Sein jüngeres Ich murmelte etwas, das verärgert klang, wandte sich aber in die Richtung von Zin-Azshari. Krasus lehnte sich vor und erwartete die ersten Hinweise auf die legendäre Stadt. Wenn seine Erinnerung ihn nicht trog – und das war keineswegs sicher – symbolisierte Zin-Azshari den schöpferischen und kulturellen Höhepunkt der Nachtelfen-Zivilisation, eine riesige, pulsierende Metropole, wie es sie in dieser Form wohl kein zweites Mal gab.
Die Opulenz der uralten Stadt interessierte ihn jedoch nicht. Krasus dachte nur daran, dass Zin-Azshari nahe der legendären Quelle der Ewigkeit gelegen hatte.
Und es war diese Quelle, die ihn anzog. Obwohl Krasus sich nicht mehr daran erinnerte, wo die Brennende Legion zuerst in die Welt gestürmt war, hatte sein Verstand nicht gelitten, und es gab einige deutliche Hinweise auf jenen Ort.
In jener Zeit ging die Macht von der Quelle aus, und die Dämonen brauchten sie, um in die Reiche zu gelangen, die sie zu zerstören trachteten.
Deshalb war es sehr wahrscheinlich, dass sich das Portal, das die Brennende Legion zur Passage benutzte, in unmittelbarer Nähe der größten jemals gefundenen Quelle reiner Magie befand.
Sie schossen durch den Nachthimmel. Korialstrasz legte rasch Meile um Meile zurück. Dennoch vergingen Stunden, wertvolle Stunden, die sich die Welt vielleicht nicht leisten konnte.
Schließlich rief der Drache: »Wir werden Zin-Azshari bald erreichen. Was erhoffst du dir dort zu sehen?«
Die Frage war eigentlich, was er hoffte, dort nicht zu sehen, doch das konnte Krasus seinem Begleiter nicht verständlich machen. »Ich weiß es nicht.«
Vor ihnen tauchten zahllose Lichter auf. Er stutzte. Bestimmt beleuchteten die Nachtelfen einen Teil ihrer Stadt, aber die Lichter wirkten übertrieben für ein Volk aus nachtaktiven Geschöpfen. Selbst eine Stadt wie Zin-Azshari hätte nicht so hell sein sollen.
Als die beiden sich näherten, bemerkten sie, dass die Helligkeit nicht von Fackeln oder Kristallen rührte, sondern von riesigen Bränden, die überall in der Hauptstadt der Nachtelfen tobten.
»Die Stadt steht in Flammen!«, rief Korialstrasz. »Was könnte ein solches Inferno ausgelöst haben?«
»Wir müssen tiefer gehen«, war Krasus’ einzige Antwort.
Der rote Drachen neigte sich vor und fiel um einige hundert Fuß, bis Einzelheiten sichtbar wurden. Farbenfrohe, helle Gebäude brannten lichterloh, einige zerfielen bereits. Gärten voller Skulpturen und große Baumhäuser wurden zu Scheiterhaufen.
Und überall in den Straßen lagen Tote.
Man hatte sie brutal abgeschlachtet, ohne Mitgefühl für die Alten, die Kranken oder die Jungen. Viele waren in Gruppen gestorben, während andere offensichtlich einzeln gejagt worden waren. Außer der Bevölkerung von Zin-Azshari waren auch die Kadaver von Tieren zu sehen, vor allem die großer Nachtsäbel. Auch sie waren hingemetzelt worden.
»Hier fand ein Krieg statt!«, stieß der Leviathan hervor. »Nein, kein Krieg. Ein Massaker!«
»Das ist das Werk der Brennenden Legion«, flüsterte Krasus.
Korialstrasz hielt auf das Stadtzentrum zu. Seltsamerweise nahmen die Schäden ab, je mehr sie sich einem Gebäude näherten, das wie ein Palast aussah. Einige von Mauern umgebene Teile des Zentrums wirkten sogar völlig unberührt.
»Weißt du etwas über diese Bereiche der Stadt’?«, fragte Krasus seinen Begleiter.
»Ein wenig. Ich glaube, die Anwesen, die durch Mauern mit dem Palast der Königin verbunden sind, gehören denen, die man ›Hochgeborene‹ nennt. Sie gelten als die Höchsten der Nachtelfen und stehen alle irgendwie im Dienst ihrer Majestät Azshara.«
»Dreh eine Runde darüber.«
Korialstrasz folgte seiner Bitte. Krasus betrachtete die Gegend und fand seinen Verdacht erhärtet. Die Anwesen, in denen die königlichen Hochgeborenen lebten, waren von der monströsen Katastrophe vollständig verschont geblieben.
»Im Nordwesten bewegt sich etwas, Krasus.«
»Flieg dorthin. Schnell!«
Er musste seinen Begleiter nicht ermuntern, denn Korialstrasz suchte ebenso sehr nach Antworten wie er. Das war auch nicht verwunderlich, wenn man bedachte, dass sie ein und die selbe Person waren.
Nun sah auch Krasus, was der Drache mit seiner überlegenen Sehkraft vor ihm bemerkt hatte. Wimmelnde Bewegung ergoss sich wie ein Heer von Heuschrecken über die Stadt. Korialstrasz ging noch tiefer, um einzelne Gestalten unterscheiden zu können.
Für Krasus war es die Rückkehr des Bösen.
Die Brennende Legion marschierte durch Zin-Azshari und hinterließ ein Bild des Grauens. Gebäude fielen bei ihrem Angriff. Da gab es die großen, brutalen Feiwachen mit ihren Streitkolben und Schilden. Infernale ohne Verstand brachen durch Steinmauern und sonstige Hindernisse. In ihrer Nähe schwebten große, geflügelte Wesen mit brennenden grünen Schwertern, Rüstungen aus Lava und tönernen Füßen … die Wächter der Verdammnis.
An der Spitze der Horde sah Krasus die hundeartigen Feibestien, die der Legion stets vorauseilten. Sie wirkten besonders aktiv. Ihre Nasen reckten sich nicht nur schnuppernd in die Höhe, auch ihre gefährlichen Tentakel peitschten unablässig.
Und dann sah der Magier, was die Legion jagte.
Flüchtlinge liefen durch das Zentrum der Stadt. Familien und einzelne Nachtelfen kämpften sich verzweifelt durch die engen Gassen. Hinter ihnen befand sich ein kleiner Trupp bewaffneter Soldaten und in Roben gehüllter Gestalten – die Krasus für die legendäre Mondgarde hielt –, die gemeinsam versuchten, die Dämonen aufzuhalten.
Während sie sich näherten, versuchte ein Angehöriger der Mondgarde, einen Zauber zu weben. Doch als er sich ohne Deckung vor die Angreifer stellte, fiel auch er ihnen zum Opfer. Eine Feibestie sprang vor und landete unmittelbar vor ihm. Ihre Tentakel schossen mit ungeheurer Geschwindigkeit vor. Sie hefteten sich an die Brust des Zauberers und hoben ihn in die Luft.
Bevor ihm jemand zu Hilfe eilen konnte, wurde dem sich windenden Mondgardisten seine magische Kraft entrissen. Zurück blieb nur eine tote, verdorrte Hülle.
Der rote Drache brüllte. Selbst wenn Krasus es gewollt hätte, hätte er sein jüngeres Ich nicht von einem Angriff abhalten können. Außerdem ließen seine Erinnerungen an ähnliche Massaker den Magier schweigen. Zu viele waren bereits durch die Brennende Legion gestorben. Zwar war Korialstrasz nur wegen Krasus’ Einmischung an diesen Ort gelangt, aber das interessierte den Magier nicht mehr. Er hatte versucht, weitere Störungen der Zeitlinie zu verhindern, doch nun war es genug.
Die Zeit des Widerstands war gekommen.
Als Korialstrasz an den vorderen Rängen der dämonischen Armee vorbei flog, stieß er eine große Stichflamme hervor. Die Feuerlanze verschlang nicht nur die Feibestie, die den Zauberer getötet hatte, sondern viele Angehörige des Rudels, das ihr folgte. Winselnd zogen sich die wenigen Überlebenden mit versengtem Fell zurück.
Viele vergingen sofort. Einige der stärkeren Feiwachen kämpften sich durch die Flammen, brachen jedoch schwer verwundet zusammen. Ein brennender Infernaler versuchte, das Drachenfeuer zu ersticken und rannte, als das nicht gelang, kopfüber in ein Gebäude. Nur Sekunden später brach auch er zusammen.
Selbst die Brennende Legion hatte der reinen Macht eines Drachen nichts entgegen zu setzen, doch das machte sie keineswegs wehrlos. Aus ihren Rängen stiegen plötzlich mehrere Wächter der Verdammnis auf. Krasus bemerkte sie als Erster, erkannte die Gefahr und sprach einen Zauber.
Starke Winde brandeten gegen die vorderen Dämonen und schleuderten sie gegen andere. Die Wächter kollidierten miteinander und gerieten ins Straucheln.
Korialstrasz atmete ein zweites Mal aus.
Fünf der geflügelten Dämonen stürzten als brennende Geschosse zu Boden und richteten weiteren Schaden unter der Legion an.
Die anderen Wächter sammelten sich. Weitere stiegen auf und verdoppelten ihre Zahl.
Korialstrasz wollte sich ihnen stellen, aber Krasus spürte erste Zeichen der Schwäche. Alexstrasza hatte erklärt, dass sie zusammen beinahe komplett seien – aber eben doch nicht ganz. Der ständige Einsatz brauchte ihre Stärke schneller auf als sie gedacht hatten. Der Drache flog bereits langsamer, obwohl es ihm selbst nicht auffiel.
»Wir müssen weg!«, sagte Krasus.
»Und den Kampf aufgeben? Niemals!«
»Die Flüchtlinge sind dank unserer Hilfe entkommen!« Die Verzögerung hatte ausgereicht, um den Nachtelfen die Flucht ins Umland zu ermöglichen. Krasus war sich sicher, dass die Legion sie nicht mehr erreichen würde. »Wir müssen die Neuigkeiten denen überbringen, die mehr ausrichten können. Wir müssen unseren eigentlichen Weg fortsetzen!«
Krasus bedauerte, dass er so handeln musste, denn in seinem Herzen wollte er all diese Dämonen zu Asche verbrennen. Doch noch während er dies dachte, stiegen bereits weitere in den Himmel auf, um gegen den Drachen zu kämpfen.
Mit einem Aufschrei spie Korialstrasz eine weitere Feuerlanze aus. Sie vernichtete drei Wächter der Verdammnis und ließ die anderen ausweichen. Anschließend drehte sich der rote Drache um und flog davon. Trotz seiner Erschöpfung ließ er die Legion weit hinter sich zurück.
Als sie wieder am Palast vorbei flogen, bemerkte Krasus zu seinem Entsetzen, dass weitere Dämonen aus den Toren stürmten. Verstörender aber war noch der Anblick der Nachtelfen-Wachen, die auf den Türmen standen und sich nicht um die Not der Bürger zu kümmern schienen.
Krasus hatte eine solche Gleichgültigkeit im Angesicht von so viel Entsetzen schon einmal gesehen. Während des zweiten Krieges hatte es Nachtelfen gegeben, die ebenso gleichgültig gewirkt hatten. Sie erstarren unter dem wachsenden Einfluss der Dämonen! Die Lords der Legion müssen nahe sein – wenn nicht sogar schon hier.
Falls dem tatsächlich so war, fürchtete er um die Zukunft der Welt … und um ihre Vergangenheit.
Furchtbare Geräusche störten ihre Ruhe. Azshara hatte befohlen, man solle Musik aufspielen, um diese unangenehmen Klänge zu übertönen, aber das war den Harfen und Flöten nicht gelungen. Schließlich erhob sie sich und machte sich, begleitet von ihrer neuen Leibwache, auf den Weg durch den Palast.
Sie begegnete nicht etwa Lord Xavius zuerst, sondern Hauptmann Varo’then. Der Hauptmann fiel auf ein Knie und legte seine Faust auf sein Herz.
»Wundervollste Majestät …«
»Mein lieber Hauptmann, was ist die Ursache dieses ungebührlichen Lärms?«
Der narbenübersäte Nachtelf sah sie mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck an. »Vielleicht sollte ich Euch das besser zeigen.«
»Nun gut.«
Er führte sie auf einen Balkon, von dem aus das Zentrum der Stadt zu überblicken war. Azshara benutzte ihn sonst nur für öffentliche Reden. Sie bevorzugte die Aussicht auf ihre extravaganten Gärten oder die Quelle der Ewigkeit.
Doch der Anblick, der sich der Königin nun bot, war nicht der gewohnte. Azsharas goldene Augen nahmen das Bild der Stadt auf, sahen die zerstörten Häuser, die endlosen Feuer und die Leichen auf den Straßen. Sie blickte zu ihrer Rechten, wo die von Mauern umschlossenen Anwesen der Hochgeborenen unbeschadet standen.
»Erklärt mir das, Hauptmann Varo’then.«
»Der Berater hat mir gesagt, dass sie sich als unwürdig erwiesen hätten. Um eine vollkommene Welt zu errichten, muss alles Unvollkommene hinweggespült werden.«
»Und die dort unten waren in Lord Xavius’ Augen nicht … vollkommen?«
»So sah es der enge Vertraute des Erhabenen, der Himmelskommandant Mannoroth.«
Azshara hatte den beeindruckenden Mannoroth nur kurz gesprochen und war wie ihr Berater von dem hohen Diener des Erhabenen überwältigt gewesen.
Die Königin nickte: »Wenn Mannoroth sagt, es müsse geschehen, dann muss es geschehen. Für ein ruhmreiches Ziel müssen Opfer gebracht werden. Das habe ich stets gesagt.«
Varo’then neigte den Kopf. »Eure Weisheit ist grenzenlos.«
Die Königin nahm dieses Kompliment mit der gleichen königlichen Gelassenheit entgegen, mit der sie die vielen anderen Komplimente, die sie täglich erhielt, hinnahm. Mit einem Blick auf das Massaker unter ihr, fragte Azshara: »Wird es noch lange dauern? Wird auch der Erhabene bald eintreffen?«
»Das wird er, meine Königin … und man sagt, dass Mannoroth ihn Sargeras nennt.«
»Sargeras …« Königin Azshara spürte den Namen auf ihrer Zunge und auf ihren Lippen. »Sargeras … ein trefflicher Name für einen Gott.« Sie legte eine Hand auf ihre Brust. »Ich hoffe, man wird mir früh genug Bescheid geben, wenn er zu uns kommt. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn ich ihn nicht selbst begrüßen könnte.«
»Ich werde persönlich darauf achten, dass man Euch so früh wie möglich informiert«, versicherte Varo’then und verbeugte sich. »Vergebt mir, meine Königin, aber die Pflicht ruft mich.«
Sie entließ ihn mit einer lässigen Handbewegung, war immer noch fasziniert vom Anblick der Stadt und dem wahren Namen des Gottes. Der Hauptmann ließ sie mit ihrer Leibwache allein.
In ihrer Phantasie stellte sich Azshara die neue Welt vor, die auf den Grundmauern der alten entstehen würde. Eine noch großartigere Stadt, ein wahres Monument ihres Ruhmes. Sie würde nicht mehr den Namen Zin-Azshari tragen, auch wenn dies eine noble Geste ihres Volks gewesen war. Nein, das nächste Mal würde sie einfach Azshara genannt werden. Das war Königin Azsharas Domizil sehr viel angemessener. Sie sprach es zweimal laut aus und genoss den Klang des Wortes. Sie hätte diese Änderung bereits vor langer Zeit durchsetzen sollen, doch das war jetzt nicht mehr wichtig.
Dann kam ihr ein weiterer, interessanterer Gedanke. Natürlich war sie die Vollkommenste ihres Volkes, aber es gab da einen, der noch ruhmreicher, noch gewaltiger war … und schon bald würde er eintreffen.
Sein Name war Sargeras.
»Sargeras«, flüsterte sie. »Sargeras, der Gott …« Ein beinahe kindliches Lächeln huschte über ihr Gesicht. »… und seine Gemahlin Azshara …«
Im Abstand von nur wenigen Minuten trafen Boten in Black Rook Hold ein. Alle wollten sofort mit dem Herrn der Festung sprechen, denn jeder brachte wichtige Neuigkeiten.
Und mit jeder Nachricht, die Lord Ravencrest erhielt, wurde die Lagebeschreibung düsterer.
Die Zauberei war den Nachtelfen praktisch gestohlen worden. Sogar die Begabtesten vermochten nur noch wenig auszurichten. Hinzu kam, dass Zauber, die darauf beruhten, dass der Quelle ständig Kraft entzogen wurde, plötzlich nicht mehr funktionierten, was mancherorts katastrophale Folgen hatte. Allenthalben brach Panik aus. Man konnte nichts weiter tun, als gegen das Chaos anzukämpfen.
Vom wichtigsten Ort des Landes, der Region rund um Zin-Azshari, hatte man nichts gehört.
Bis zu dieser Stunde.
Der Bote, der von den Wachen eingelassen wurde, konnte kaum noch stehen. Seine Rüstung hatte man ihm teilweise vom Körper gerissen, und blutige Wunden übersäten seinen Körper. Er taumelte vor Lord Ravencrest und kniete nieder.
»Hat er Speise und Trank bekommen?«, fragte der Adlige. Als niemand eine Antwort wusste, erteilte er einem Soldaten, der an der Tür stand, einen entsprechenden Befehl. Nur Sekunden später erhielt der Ankömmling zu essen und zu trinken.
Zu den ungeduldig Wartenden zählten auch Rhonin und seine Gefährten. Sie waren zwar keine Gefangenen mehr, konnten ihren neuen Status jedoch schwer einschätzen. Keine Verbündeten wohl, aber auch keine Außenseiter. Der Zauberer hatte sich zum Schweigen entschlossen und hielt sich im hinteren Teil des Raumes auf. Damit wollte er dafür sorgen, dass er nicht erneut wie ein Gefangenen behandelt wurde.
»Kannst du jetzt sprechen?«, fragte Ravencrest den Boten, nachdem er ein paar Früchte gegessen und fast einen halben Schlauch voll Wasser ausgetrunken hatte.
»Ja … vergebt mir, Herr … dass ich vorher nicht dazu in der Lage war.«
»Wenn ich deinen Zustand betrachte, kann ich kaum glauben, dass du es überhaupt bis hierher geschafft hast …«
Der Nachtelf, der vor ihm kniete, warf einen Blick auf die anderen Versammelten. Rhonin bemerkte den gehetzten Ausdruck in seinen Augen. »Ich kann selbst kaum glauben, dass ich hier bin … Milord.« Er hustete. »Milord – ich komme, um euch von etwas … etwas zu berichten, das ich … für das Ende der Welt halte.«
Seine stammelnde Art zu sprechen und sein leiernder Tonfall unterstrichen noch das Grauen seiner Worte. Tödliche Stille erfüllte die Kammer. Rhonin dachte an das, was Malfurion gesagt hatte. Es hat begonnen. Selbst Malfurion hatte nicht verstanden, was er damit zum Ausdruck hatte bringen wollen, spürte nur, dass etwas Furchtbares im Anmarsch war.
»Was soll das heißen?«, drängte Ravencrest und beugte sich vor. »Bringst du schlechte Nachrichten aus Zin-Azshari? Wer hat dir aufgetragen, uns von dieser Gefahr zu berichten?«
»Milord, ich komme aus Zin-Azshari.«
»Unmöglich!«, unterbrach Latosius. »Man würde drei bis fünf Nächte brauchen, um hierher zu gelangen, und Zauber stehen nicht zur Verfügung.«
»Ich weiß besser, was zur Verfügung steht als du!«, raunzte der Soldat, ohne auf den höheren Rang des Mondgardisten zu achten. An Lord Ravencrest gewandt, sagte er: »Ich wurde geschickt, um Hilfe zu erbitten. Alle, die noch dazu in der Lage waren, haben ihre Kräfte zusammengeschlossen, um mich hierher zu bringen. Sie sind vermutlich bereits tot …« Er schluckte. »Ich habe vielleicht als Einziger überlebt …«
»Die Stadt, Junge! Was ist mit der Stadt?«
»Milord … Zin-Azshari liegt in Schutt und Asche. Die Stadt wurde von blutdürstigen Ungeheuern überrannt, von Kreaturen wie aus einem Alptraum.«
Die Schilderung der Geschehnisse sprudelte aus dem Boten heraus, wie Blut aus einer nicht zu verschließenden Wunde. Die Nachtelfen der Hauptstadt waren ebenso wie alle anderen von dem plötzlichen und unerklärlichen Verlust ihrer Kräfte überrascht worden. Viele waren zum Palast gezogen, um eine Erklärung zu verlangen. Hunderte hatten sich schließlich dort versammelt.
Und dann war aus den Toren des Palasts warnungslos eine endlos scheinende Horde monströser Krieger gestürmt, einige mit Hörnern, andere mit Flügeln, die sich begierig auf die wartende Menge stürzte. Innerhalb von Sekunden starben Dutzende. Panik breitete sich aus, und viele wurden von anderen, die zu fliehen versuchten, niedergetrampelt.
»Wir sind gerannt, Milord, wir alle. Ich kann nur für die sprechen, die in meine Richtung liefen, doch selbst die stärksten Krieger blieben nicht stehen.«
Doch die Dämonenhorde folgte ihnen, berichtete der Bote weiter, und meuchelte, wer ihnen unter die Klauen kam. Kleineren Gruppen gelang die Flucht aus der Stadt, doch selbst dort hetzten die Ungeheuer sie weiter.
Niemand unterbrach den Entkräfteten. Niemand behauptete, er leide unter Wahnvorstellungen. Sie alle lasen die Wahrheit in seinen Augen und in seiner Stimme.
Der Bote beschrieb dann, wie er hierher gelangt war. Einige Mondgardisten und Offiziere hatten über eine mögliche Verteidigung oder einen Schlachtplan diskutiert. Man hatte entschieden, dass Black Rook Hold informiert werden musste, und das Los war auf diesen Soldaten gefallen.
»Sie haben mich gewarnt, sagten, der Zauber würde vielleicht nicht wirken wie geplant. Im schlimmsten Fall wäre ich auf dem Grund der Quelle oder wieder in der Stadt heraus gekommen …« Er hob die Schultern. »Ich sah keine Alternative …«
Unter größten Anstrengungen hatten die Zauberer ihr Werk begonnen. Er hatte in der Mitte gestanden, während sie ihre letzten Kräfte sammelten. Die Welt hatte sich um ihn herum aufgelöst …
… und im Verschwinden sah er noch, wie monströse Hunde die Gruppe ansprangen …
»Ich bin nördlich von hier gelandet, Milord, verletzt, aber lebend. Einige Zeit verging, bis ich einen Außenposten fand, wo ich einen Nachtsäbel erhielt … und dann bin ich so schnell wie möglich hierher geritten.«
Schockiert ließ sich Ravencrest zurücksinken. »Und der Palast? Liegt der Palast auch in Trümmern? Sind alle dort getötet worden?«
Der Bote zögerte, dann sagte er: »Milord, es standen Wachen auf den Mauern. Sie beobachteten die Leute, bevor sich die Tore öffneten … und sie beobachteten die Monster, als sie herauskamen und uns abschlachteten.«
»Die Königin würde das niemals erlauben!«, rief ein Offizier. Einige nickten zustimmend, aber die meisten behielten ihre Meinung dazu für sich.
Der Kommandant hatte seine eigenen Ansichten über die Bedeutung der Botschaft. Mit grimmigem Gesichtsausdruck murmelte er: »Es ist also ganz so, wie wir dachten. Dies muss das Werk der Hochgeborenen sein.«
»Sie können doch nicht so wahnsinnig sein!«, widersprach Latosius. »Es stimmt, dass ihre Zauberer glauben, selbst der Mondgarde überlegen zu sein, aber sie sind immer noch Nachtelfen wie wir!«
»Das mag sein, aber ihre Arroganz kennt keine Grenzen!« Ravencrest schlug mit der Faust auf die Armlehne seines steinernen Sitzes. »Und vergesst nicht, dass die Hochgeborenen auf den Befehl von Lord-Berater Xavius hören!«
Rhonin hatte den Namen schon früher gehört, aber der Hass, mit dem er jetzt ausgesprochen wurde, überraschte ihn. Er beugte sich zu Malfurion hinab. »Wer ist dieser Xavius?«
Malfurion hatte sich mit der Hilfe seines Zwillingsbruders bereits etwas erholt. Mit Brox’ Unterstützung konnte er sich jetzt auf den Beinen halten. »Er flüstert der Königin Dinge ein. Er ist ihr engster Vertrauter und ein Rivale von Lord Ravencrest. Ich selbst zweifle nicht daran, dass Xavius eine zentrale Rolle spielt, aber das könnte er nicht ohne Azsharas Zustimmung. Sogar die Hochgeborenen verehren sie.«
»Das werden sie niemals glauben«, bemerkte Illidan. »Vergiss das erst einmal. Lass sie im Glauben, der Berater stecke dahinter. Letztes Endes werden ihre Entscheidungen die selben sein.«
Obwohl Rhonin Illidan nicht traute stimmte er mit dessen Einschätzung überein.
Und es schien, als habe man bereits entschieden, wer der Böse in diesem Spiel war. Ravencrest stand auf und begann Befehle zu brüllen. Seine Offiziere setzten ihre Helme so entschlossen auf, als wollten sie sofort der Hauptstadt entgegen reiten.
»Alle Angehörigen der Mondgarde, alle Zauberer mit ernstzunehmenden Fähigkeiten sollen sich so schnell wie möglich hier versammeln! Garo’thal! Entsende Boten zu jedem militärischen Posten und jedem Kommandanten. Wir müssen die Verteidigung organisieren – und tun, was getan werden muss!«
Latosius antwortete: »Wir müssen die Kontrolle über die Quelle zurück gewinnen. Waffen allein werden gegen diesen Feind nicht ausreichen. Ihr habt den Boten gehört!«
Der bärtige Adlige sah den Mondgardisten durchdringend an. »Ich hoffe, ich werde Zauberkraft erhalten, vor allem von Eurem Orden, aber wenn dem nicht so sein sollte, muss ich wohl mit den Waffen vorlieb nehmen müssen, oder?«
Plötzlich trat Illidan vor. »Milord, vielleicht kann ich Euch helfen. Ich verfüge noch über ein wenig Magie.«
»Prächtig! Die brauchen wir. Zin-Azshari muss gerächt und die Königin aus den Händen der Hochgeborenen befreit werden!«
Rhonin konnte nicht länger schweigen. Er hatte gesehen, was die Brennende Legion anzurichten vermochte. Obwohl sich all dies hier in seiner Vergangenheit abspielte, war er nicht in der Lage, den Unbeteiligten zu spielen, wie Krasus es erhofft hatte. Er spürte in sich immer noch das Vermögen, Zauber zu weben.
»Milord Ravencrest!«
Der Adlige sah ihn an, schien aber nicht zu wissen, was er mit Rhonin anfangen sollte. »Was willst du?«
»Ihr braucht einen Zauberer. Ich biete mich Euch an.«
Ravencrest wirkte unschlüssig.
Daraufhin ließ der Zauberer eine blaue Lichtkugel über seiner linken Handfläche entstehen. Es kostete ihn mehr Kraft als sonst, aber nicht so viel, dass es aufgefallen wäre.
Der Zweifel verschwand aus dem Gesicht des Kommandanten. »Gut, du bist uns willkommen.« Aus den Augenwinkeln schien er zu bemerken, dass Latosius widersprechen wollte. »Vor allem, da uns sonst nur wenig Vergleichbares angeboten wurde …«
»Wenn der Zauber, der uns von der Quelle trennt, beseitigt würde …«
»Wofür man Magie in beträchtlichem Maße brauchte, nicht wahr?«, fiel Ravencrest Latosius ins Wort. »Und wenn ihr über die verfügtet, Mondgarde, gäbe es das ganze Problem nicht!«
Als Malfurion dem Streit lauschte, sanken seine Hoffnungen. Solche Streitigkeiten halfen ihnen nicht weiter. Sie mussten handeln, aber da sie Lord Ravencrests Truppen kaum mit Magie unterstützen konnten, sah die Zukunft finster aus. Wenn nur …
Seine Augen weiteten sich. Vielleicht konnte er etwas tun.
So wie vor ihm schon Rhonin und sein Bruder, trat nun auch Malfurion nach vorne. Ravencrest musterte ihn ungläubig.
»Und was willst du jetzt? Willst du behaupten, dass du wie dein Bruder noch über Zauberei gebietest? Ich würde dich trotz deiner Verbrechen willkommen heißen …«
»Ich kann Euch keine Zauberei anbieten, wie Ihr sie kennt, Lord Ravencrest, wohl aber Magie anderer Art. Ich biete euch an, was mich mein Shan’do Cenarius lehrte.«
Latosius lachte spöttisch auf. »Ist das ein Witz? Die Lehren eines mythischen Halbgottes?«
Doch Ravencrest lehnte Malfurions Angebot nicht sofort ab. »Glaubst du wirklich, dass du uns helfen könntest?«
Der junge Nachtelf zögerte, dann sagte er: »Ja, aber nicht hier. Ich muss mich dafür an einen ruhigeren Ort begeben.«
Die Augenbrauen des Adligen zogen sich zusammen. »Ruhiger?«
Malfurion nickte. »Ich muss zum Tempel der Elune.«
»Der Tempel von Mutter Mond? An die hatte ich gar nicht gedacht. Wir brauchen natürlich ihre Unterstützung bei dieser Krise. Aber was willst du dort ausrichten?«
Malfurion Stormrage versuchte seine Unsicherheit zu verbergen. »Ich werde den Zauber beseitigen, der unsere Magier von der Quelle der Ewigkeit abschottet.«