13

Er hat einen starken Geist, eine starke Seele und einen starken Körper, sagte eine ebenso mächtige wie zornige Stimme in Rhonins Kopf.

Zu anderen Zeiten … bemerkenswerte Qualitäten, antwortete eine zweite, ruhigere Stimme, die ansonsten mit der Ersten identisch zu sein schien.

Die Wahrheit wird sich zu erkennen geben, beharrte die Erste. Es ist mir stets gelungen, sie zu finden

Rhonin schien außerhalb seines Körpers zu schweben, aber er wusste nicht, wo. Er fühlte sich, als hinge er zwischen Leben und Tod, Schlaf und Erwachen, Dunkelheit und Licht … nichts erschien ihm richtig, nichts erschien ihm völlig falsch.

Es reicht!, meldete sich eine dritte Stimme, die ihm bekannt vorkam. Er hat schon genug durchlitten. Lasst ihn zu mir zurückkehren … für den Augenblick.

Und plötzlich erwachte Rhonin im Tal des Cenarius.

Die Sonne stand hoch über ihm, aber er konnte nicht sagen, ob es wirklich Mittag war oder ob ihm der magische Ort nur etwas vorgaukelte.

Rhonin versuchte sich zu erheben, aber sein Körper gehorchte ihm noch immer nicht.

Er hörte, wie sich etwas bewegte und sah den gehörnten Waldgott vor sich.

»Ihr seid voller Kraft, Magier Rhonin«, donnerte Cenarius’ Stimme. »Ihr habt mich überrascht, was selten geschieht … und was noch wichtiger ist, Ihr habt Eure Geheimnisse für Euch behalten, wie dumm das auch sein mag.«

»Es … es gibt nichts … das ich Euch verraten könnte.« Es verwunderte Rhonin, dass sein Mund ihm gehorchte.

»Das werden wir sehen. Wir werden erfahren, was Eurem Begleiter widerfahren ist und warum Ihr, der Ihr nicht hier sein solltest, doch hier seid.« Der Gesichtsausdruck des Halbgottes wurde milder. »Aber jetzt möchte ich, dass Ihr Euch ausruht. Das habt Ihr verdient.«

Er strich mit der Hand über Rhonins Gesicht … und der Magier schlief ein.


Krasus selbst hätte liebend gern gewusst, wo er war. Die Höhle, in der er erwacht war, weckte keine Erinnerung in ihm. Er nahm kein anderes Wesen wahr, auch keines seiner eigenen Art, und das beunruhigte ihn. Hatte der Wächter ihn nur hierher gebracht, um ihn loszuwerden? Wollte er, dass Krasus hier starb?

Die Gefahr, dass Letzteres eintreten würde, war groß. Schmerz und Erschöpfung nagten an dem hageren Körper des Drachenmagiers. Krasus fühlte sich, als habe jemand einen Teil aus ihm herausgerissen. Sein Gedächtnis war immer noch voller Lücken, und er befürchtete, dass seine Schwäche weiter zunehmen würde, ihm nur noch wenig Zeit blieb.

Nein! Ich werde mich nicht der Verzweiflung hingeben! Nicht ich! Er zwang sich zum Aufstehen und sah sich um. Für einen Menschen oder einen Orc wäre die Höhle absolut dunkel gewesen, aber Krasus vermochte das Innere fast so gut zu erkennen, als läge es im Licht des Tages. Er sah gewaltige, spitz zulaufende Stalaktiten und Stalagmiten, Risse und Vorsprünge in den Wänden und bemerkte sogar die kleinen blinden Echsen, die über den Fels huschten.

Leider entdeckte er keinen Ausgang.

»Ich habe keine Zeit für diese Spiele!«, zischte er in den leeren Raum hinein. Seine Worte hallten von den Wänden wider, schienen ihn mit jedem Echo verhöhnen zu wollen.

Etwas musste ihm entgangen sein. Man hatte ihn gewiss aus einem ganz bestimmten Grund hierher gebracht … aber aus welchem?

Dann erinnerte sich Krasus an die Bräuche seines Volks, Bräuche, die auf Nicht-Drachen äußerst grausam wirken konnten. Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Der Magier richtete sich auf und drehte sich langsam im Kreis, ohne auch nur einmal zu blinzeln. Gleichzeitig rezitierte er eine rituelle Begrüßung, geschrieben in einer Sprache, die älter als die Welt war. Er wiederholte die Grußformel dreimal und betonte die Nuancen in einer Weise, die nur jemand kennen konnte, der die Sprache in ihrer Urform erlernt hatte.

Wenn er damit nicht die Aufmerksamkeit seiner Wächter erregte, wusste er auch nicht mehr weiter.

»Es spricht die Sprache derer, die Himmel und Erde an ihren Platz rückten«, donnerte jemand. »Die, die uns erschaffen haben.«

»Es muss zu uns gehören«, sagte ein anderer, »denn es gehört sicherlich nicht zu ihnen.«

»Wir müssen mehr erfahren.«

Und plötzlich erschienen sie wie aus dem Nichts rund um die kleine Gestalt … Vier gewaltige rote Drachen setzten sich neben Krasus. Ihre weltumspannenden Flügel falteten sie würdevoll hinter ihnen zusammen. Sie betrachteten den Magier, als sei er ein kleiner, aber schmackhafter Krümel Nahrung.

Wenn sie glaubten, damit seine scheinbar primitiven Sinne erschrecken zu können, so lagen sie damit erneut falsch.

»Sicherlich einer von uns«, murmelte ein schwerer männlicher Drache, dessen Geschlecht an seinem Schuppenkamm zu erkennen war. Er schnaubte und schickte Rauchwolken in Krasus’ Richtung.

»Dasss isst der Grund, ausss dem ich ihn herbrachte«, entgegnete ein kleinerer Leviathan bitter. »Dasss … und ssseine ständigen Klagen …«

Krasus, den der Rauch nicht störte, wandte sich gelassen an ihn. »Wenn du die Vernunft gebraucht hättest, die dir der Schöpfer gegeben hat, dann hättest du mich und die Dringlichkeit meiner Warnung sofort erkannt! Wir hätten uns den chaotischen Rückzug aus dem Reich des Waldgottes sparen können.«

»Ich bin mir immer noch nicht sssicher, dasss es kein Fehler war, dich hierher zu bringen!«

»Wo ist hier?«

Alle vier Drachen legten überrascht den Kopf zurück, und einer der beiden weiblichen antwortete. »Wenn du wirklich zu uns gehörst, kleiner Drache, dann sollte dir dieser Ort so vertraut sein wie dein Nest …«

Krasus verfluchte seine fehlende Erinnerung. Es konnte sich nur um einen Ort handeln. »Dann bin ich in den Heimathöhlen? Im Reich der geliebten Alexstrasza, der Königin des Lebens?«

»Du wolltest hierher kommen«, erinnerte ihn der kleinere Drache.

»Aber …«, unterbrach ihn der zweite weibliche Drache. Sie war jünger und schlanker als die anderen. »Kommt er von hier aus auch noch weiter?«

»Er kommt so weit, wie er wünscht«, mischte sich eine neue Stimme ein. »Wenn er mir eine einfache Frage beantworten kann.«

Die vier Leviathane und Krasus drehten sich um und entdeckten einen fünften und offensichtlich wesentlich älteren Drachen, der plötzlich hinter ihnen saß. Im Gegensatz zu den beiden anderen männlichen Drachen verfügte er über einen prächtigen Schuppenkamm, der vom Kopf bis über die Schultern verlief. Er übertraf das Gewicht der anderen Drachen um mehrere Tonnen, und allein schon seine Klauen waren bereits größer als die kleine Gestalt in der Mitte zwischen den Giganten.

»Wenn du trotz der Verkleidung, die du trägst, wirklich zu uns gehörst«, donnerte der Drachen, »musst du wissen, wer ich bin.«

Der Magier kämpfte mit seiner lückenhaften Erinnerung. Natürlich wusste er, wer das war, aber der Name fiel ihm einfach nicht ein. Sein Körper verkrampfte sich, und sein Blut schien zu kochen, während er gegen den Nebel in seinem Geist ankämpfte. Krasus wusste, dass er den Namen des Riesen nennen musste, sonst würde man ihn verstoßen, und er würde die anderen niemals vor der Gefahr warnen können, die seine Anwesenheit in dieser Zeit möglicherweise darstellte.

Und dann, nach einer gewaltigen Anstrengung, stieß er den Namen, den er so gut wie seinen eigenen hätte kennen sollen, endlich hervor. »Du bist Tyranastrasz … Tyran, der Gelehrte, Gefährte von Alexstrasza!«

Der Stolz in seiner Stimme, als er sich an Namen und Titel des dunkelroten Riesen erinnerte, musste deutlich hörbar gewesen sein, denn Tyranastrasz lachte lauthals auf – beinahe wie ein Mensch.

»Du gehörst tatsächlich zu uns, auch wenn ich dich nicht erkenne. Der, der dich herbrachte, hat mir einen Namen genannt, aber er ist offensichtlich falsch, denn bei uns wird ein Name nur ein einziges Mal vergeben.«

»Er ist nicht falsch«, beharrte der Drachenmagier. »Und ich kann dir auch erklären, warum er es nicht ist.«

Alexstraszas Gefährte schüttelte sein mächtiges Haupt. Rauch kräuselte sich aus seinen Nüstern empor. »Die Erklärung, die du genannt hast, wurde uns berichtet, doch sie ist so unglaublich, dass sie nicht wahr sein kann. Was du sagst, gehört ins Reich von Nozdormu, dem Zeitlosen. Aber selbst er wäre nicht so unvorsichtig die Dinge zu tun, die du unterstellst.«

»Er ist ganz einfach verwirrt«, sagte der Beobachter aus dem Wald. »Einer von uns, aber verletzt durch eine Waffe oder einen Unfall.«

»Vielleicht …« Tyranastrasz überraschte die anderen Drachen, als er den Kopf neigte, bis er fast auf einer Höhe mit Krasus war. »Aber da du mich erkannt hast, ist meine Frage beantwortet. Du gehörst zum Schwarm und hast daher das Recht, die innersten Bereiche des Nests zu betreten. Komm mit! Ich bringe dich zu der, die diese Sache klären kann, denn sie kennt ihren Schwarm, so wie sie all ihre Kinder kennt. Sie wird dich erkennen und daher auch die Wahrheit …«

»Du wirst mich zu Alexstrasza bringen?«

»Zu wem sonst? Klettere auf meinen Hals, wenn du dazu in der Lage bist.«

Trotz seiner körperlichen Schwäche gelang es Krasus problemlos, nach oben zu klettern. Die Hoffnung, endlich Hilfe zu finden, trieb ihn ebenso sehr an wie die Aussicht, seine Geliebte wieder zu sehen, selbst, wenn sie ihn nicht erkennen sollte.

Der riesige Drache trug Krasus durch ein Labyrinth aus Tunneln und Kammern, die er hätte erkennen sollen, die ihm aber fremd erschienen. Ab und zu regte sich eine Erinnerung, aber es war nie genug, um den Magier zufrieden zu stellen. Selbst die anderen Drachen des roten Schwarms, denen sie auf ihrem Flug begegneten, waren ihm nicht mehr vertraut, obwohl er sie einst alle gekannt hatte.

Er wünschte sich, er wäre wach gewesen, als der Beobachter ihn hierher brachte. Vielleicht hätte die Landschaft rund um die Höhle des roten Schwarms seine Erinnerungen geweckt.

Außerdem gab es sicher keinen großartigeren Anblick als den der Drachen auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Die gewaltigen Berge noch einmal zu sehen und die großen Löcher in den Wänden der Klippen, von denen jedes in Alexstraszas Reich führte. Zahllose Jahrhunderte waren seitdem vergangen, und Krasus hatte das Ende des Zeitalters der Drachen stets bedauert.

Sollte es mir gelingen, sie zu überzeugen, wird sie mir das Land der Drachen vielleicht ein letztes Mal zeigen … bevor sie entscheidet, was mit mir geschieht.

Tyranastrasz’ gewaltiger Körper glitt mühelos durch die hohen glatten Tunnel. Krasus fühlte einen Stich der Eifersucht, denn er war gezwungen, mit seiner Geliebten in diesem schwachen sterblichen Körper zu sprechen. Er mochte die niederen Völker und genoss es, Zeit mit ihnen zu verbringen, aber nun, da vielleicht seine Existenz auf dem Spiel stand, hätte er sein wahres Aussehen bevorzugt.

Ein helles, aber dennoch angenehmes Licht erschien plötzlich vor ihnen. Das rötliche Leuchten wärmte Krasus innerlich und äußerlich, als sie sich ihm näherten. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, daran, wie er gelernt hatte, nicht nur auf der Erde, sondern auch am Himmel aufzuwachsen. Flüchtige Erinnerungen an sein Leben tanzten in seinen Gedanken, und zum ersten Mal seit seiner Ankunft in dieser Zeit fühlte sich der Drachenmagier beinahe wie er selbst.

Sie erreichten die Quelle des majestätischen Leuchtens. Es war der Eingang zu einer gewaltigen Höhle. Tyranastrasz kniete nieder, senkte den Kopf und sprach: »Mit deiner Erlaubnis, mein Leben, meine Liebe …«

»Immer«, antwortete eine Stimme, die ebenso fein, wie machtvoll klang. »Für dich bin ich immer da.«

Erneut spürte Krasus einen Stich der Eifersucht, doch er wusste, dass die Sprecherin ihn ebenso sehr geliebt hatte, wie den Leviathan, auf dem er ritt. Die Königin des Lebens schenkte diese Liebe nicht nur ihren Gefährten, sondern dem ganzen Schwarm. In Wahrheit liebte sie sogar alle Wesen dieser Welt, obwohl es sie nicht davon abhielt, die zu zerstören, die den Rest bedrohten.

Und das war etwas, das er gegenüber Rhonin absichtlich nicht erwähnt hatte. Bereits früh hatte Krasus erkannt, dass man weitere Störungen der Zeitlinie vermutlich beheben konnte, indem man die Objekte entfernte, die nicht hinein gehörten.

Um zu verhindern, dass sich die Geschichte noch stärker veränderte, musste Alexstrasza vielleicht ihn und den menschlichen Magier töten.

Als er und Tyranastrasz die Höhle betraten, verschwanden alle Sorgen über sein Schicksal aus Krasus’ Gedanken, denn er stand derjenigen gegenüber, die auf ewig über sein Herz und seine Seele herrschen würde.

Das angenehme Leuchten, das jede Ecke und jeden Spalt der großen Höhle erfüllte, ging von dem schimmernden roten Drachen aus. Alexstrasza war die Größte ihrer Art, doppelt so gewaltig wie der Riese, auf dem Krasus ritt. Trotzdem spürte man die angeborene Sanftheit, die ihren mächtigen Körper erfüllte. Noch während Krasus sie betrachtete, zog die Königin des Lebens ein zerbrechliches Ei unter ihrem Körper hervor und legte es in einen rauchenden Spalt, wo sie es sorgfältig sicherte.

Sie war von zahlreichen Eiern umgeben, die aus ihrem letzten Gelege stammten. Jedes war rund einen Fuß hoch – was groß war, wenn man es mit normalen Eiern verglich und winzig, wenn man die betrachtete, die sie gelegt hatte. Krasus zählte drei Dutzend. Nur die Hälfte davon würde schlüpfen und eine weitere Hälfte würde sterben, bevor sie ausgewachsen war. Doch das war der Weg des Drachen – auf einen harten Anfang folgte ein Leben voll von Ruhm und Wundern.

Rund um die Eier wuchsen blühende Pflanzen, die es unterirdisch und bei diesen Bedingungen eigentlich nicht hätte geben dürfen. Krasus sah Efeugewächse an den Wänden und ausgedehnte Teppiche aus purpurnen Blumen. Goldene Dahlien zierten eine Seite des Nests, während Rosen und Orchideen den Bereich umgaben, wo Alexstrasza saß. Jede Pflanze blühte und wurde genährt von der Anwesenheit der Königin des Lebens.

Ein kristallklarer Bach floss durch die Höhle und kam so nah an die Königin heran, dass sie jederzeit, wenn ihr danach war, einen Schluck daraus trinken konnte. Das sanfte Plätschern sorgte für eine ruhige und gelassene Stimmung in dem unterirdischen Reich.

Krasus’ Drache senkte den Kopf, damit sein winziger Reiter absteigen konnte. Der Drachenmagier ließ Alexstrasza nicht aus den Augen, als er den Höhlenboden betrat und niederkniete.

»Meine Königin …«

Aber sie sah nicht ihn an, sondern den großen Drachen, der ihn hierher gebracht hatte. »Tyranastrasz … würdest du uns für eine Weile allein lassen?«

Wortlos verließ der Leviathan den Raum. Die Königin des Lebens wandte ihren Blick Krasus zu, schwieg jedoch. Er kniete vor ihr und wartete auf ein Zeichen des Erkennens, erhielt aber keines.

Schließlich ertrug Krasus die Stille nicht mehr und keuchte: »Meine Königin, meine Welt, wie kann es sein, dass gerade du mich nicht erkennst?«

Sie betrachtete ihn durch zusammengekniffene Augen, bevor sie antwortete. »Ich weiß, was ich fühle und ich weiß, was ich spüre. Aus diesen Gründen habe ich über die Geschichte, die du den anderen erzählt hast, ernsthaft nachgedacht. Ich habe bereits beschlossen, was geschehen muss, doch zuerst möchte ich mit einem anderen reden, dessen weise Ansichten mir ebenso lieb wie meine eigenen sind … Ah! Hier kommt er bereits!«

Aus einem anderen Gang trat ein männlicher Drache, der nur etwas kleiner als Tyranastrasz war. Der Neuankömmling bewegte sich behäbig, als wäre jeder Schritt mit großen Anstrengungen verbunden. Sein Körper war lang gezogen und zeigte verblichene rötliche Schuppen. Seine Augen waren trüb und auf den ersten Blick erschien er wesentlich älter als Alexstraszas Gefährte – bis der Magier erkannte, dass es nicht das Alter war, das den Drachen beugte, sondern eine unbekannte Krankheit.

»Du … hast mich gerufen, Alexstrasza?«

Als Krasus den geschwächten Giganten sprechen hörte, drehte sich seine Welt. Er kam auf die Füße und stolperte zurück, konnte sein Entsetzen nicht verbergen.

Die Königin des Lebens bemerkte seine Reaktion, obwohl ihr Blick sich weiter auf den Neuankömmling richtete. »Ich habe um deine Anwesenheit gebeten. Vergib mir, wenn dich der Weg zu sehr angestrengt hat.«

»Es gibt … nichts, das ich nicht für dich tun würde, mein Leben, meine Welt.«

Sie zeigte auf den Magier, der da stand, als habe ihn der Blitz getroffen. »Dies ist – wie nennst du dich?«

»Kor … Krasus, meine Königin, Krasus …«

»Krasus? Also wollen wir dich so nennen …« Ihr Tonfall klang belustigt, so als amüsiere sie sich über seine spontane Namenswahl. Sie wandte sich wieder an den erkrankten Leviathan. »Und das, Krasus, ist einer meiner geliebtesten Untertanen, mein neuester Gefährte und einer, auf dessen Weisheit ich mich bereits stark stütze. Da du zu uns gehörst, ist dir sein Name vermutlich bekannt. Er heißt Korialstrasz …«


Sie ritten entlang des gewundenen Waldpfads. Malfurion glaubte mittlerweile, dass sie alle möglichen Verfolger abgeschüttelt hatten. Er hatte einen Weg gewählt, der sie über Felsen und andere Gebiete führte, in denen die Tatzen der Katzen kaum Spuren hinterlassen würden. Er hoffte, mögliche Verfolger damit in die Irre geführt zu haben. Das bedeutete zwar, dass sie mehr Zeit benötigen würden, um zu dem Ort zu gelangen, an dem er sich immer mit Cenarius traf, aber Malfurion hatte beschlossen, dieses Risiko einzugehen. Er wusste immer noch nicht, was der Waldgott denken würde, wenn er von den Taten seines Schülers erfuhr.

Als sie sich dem Treffpunkt näherten, zügelte Malfurion seine Katze. Brox folgte seinem Beispiel etwas ungeschickter.

»Wir halten?«, grunzte der Orc. Er sah sich um, entdeckte jedoch nur Bäume. »Hier?«

»Fast. Nur noch ein paar Minuten. Die Eiche wird bald in Sicht kommen.«

Obwohl er seinem Ziel so nah war, spannte sich der Elf noch stärker an. Einmal glaubte er, Blicke zu spüren, die sie beobachteten, aber als er hinsah, war da nichts außer Wald. Die Erkenntnis, dass sich sein Leben für immer verändert hatte, erschütterte ihn noch immer. Wenn die Mondgarde ihn identifizierte, riskierte er den Bann, die schlimmste Strafe, die man einem Nachtelf außer dem Tod zufügen konnte. Sein Volk würde sich von ihm abwenden und ihn wie einen Toten behandeln, obwohl er noch lebte. Niemand würde sich mit ihm beschäftigen oder auch nur seinen Blick erwidern.

Noch nicht einmal Tyrande oder Illidan.

Er hatte seine Vergehen verschlimmert, als er es den Verfolgern überließ, sich den dämonischen Kreaturen zu stellen, die Brox »Feibestien« nannte. Sollte eine Feibestie einen Verfolger getötet oder verwundet haben, würde es Malfurion unmöglich sein, seine Taten wieder gutzumachen … und, was noch schlimmer war, er würde die Verantwortung für den Tod Unschuldiger tragen. Aber was hätte er sonst tun können? Seine einzige andere Möglichkeit wäre Brox’ Auslieferung an die Mondgarde gewesen … und damit auch an Black Rook Hold.

Die Eiche, die er suchte, tauchte vor ihnen auf und hinderte Malfurion, länger über seine wachsenden Schwierigkeiten nachzudenken. Jeder andere hätte in dieser Eiche einfach nur einen Baum gesehen, aber für Malfurion war es ein uralter Wächter, einer, der Cenarius länger als die meisten gedient hatte. Dieser hohe Baum mit seinem breiten Stamm und der furchenreichen Rinde hatte gesehen, wie der Wald um ihn herum wuchs. Er hatte unzählige anderer seiner Art überlebt und Tausende Generationen kurzlebiger Tiere beobachtet.

Die Eiche erkannte Malfurion, als er sich näherte, und trotz des fehlenden Winds bewegten sich die Blätter ihrer mächtigen Krone. Das war die uralte Sprache aller Bäume, und der Nachtelf fühlte sich geehrt, dass Cenarius ihm schon früh beigebracht hatte, zumindest ein wenig davon zu verstehen.

»Brox … ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

»Ich schulde dir viel. Sprich.«

Malfurion zeigte auf die Eiche. »Steig ab und geh zu diesem Baum. Lege deine Handfläche auf den knorrigen Bereich des Stammes.«

Der Orc hatte sichtlich keine Ahnung, weshalb das von ihm verlangt wurde, aber da es Malfurion war, der ihn bat, gehorchte er sofort. Er reichte dem Nachtelf seine Zügel und trottete zu dem Wächter. Der mächtige Krieger musterte den Stamm sorgfältig, dann legte er seine Hand auf das Stück, das Malfurion hervorgehoben hatte.

Dann drehte er den Kopf und sah seinen Begleiter an. »Und was soll ich j …«

Er keuchte überrascht, als seine Hand in die Rinde einsank, als habe sich diese in Schlamm verwandelt. Brox wollte sie herausziehen, aber Malfurion befahl ihm geistesgegenwärtig, sich nicht zu bewegen.

»Unternimm nichts! Bleib einfach nur stehen. Der Baum lernt von dir. Deine Hand kribbelt nur ein wenig, sonst geschieht dir nichts.«

Er erklärte Brox nicht, was das Kribbeln bedeutete. Winzige Äste des Wächters bohrten sich in das Fleisch des Orcs. Indem sich die Eiche für einen kurzen Moment mit Brox verband, las sie in ihm. Pflanze und Tier verschmolzen miteinander. Die Eiche würde sich für immer an Brox erinnern, egal, wie viele Jahrhunderte vergingen.

Die Halsschlagader des Orcs pochte heftig und verriet seine wachsende Angst. Trotzdem blieb Brox so regungslos wie die Eiche stehen und starrte auf die Stelle, wo seine Hand verschwunden war.

Sie wurde so plötzlich frei gelassen, dass er einen überraschten Schritt zurück machte. Brox bewegte seine Finger, schien sie sogar sicherheitshalber zu zählen.

»Der Weg ist jetzt frei für uns«, verkündete Malfurion.

Brox stieg wieder auf, und der Nachtelf ritt an der Eiche vorbei. Als er auf einer Höhe mit dem Wächter war, bemerkte Malfurion eine leichte Veränderung der Luft. Ohne Erlaubnis wären er und Brox eine Ewigkeit lang geritten, ohne die Lichtung zu finden. Nur diejenigen, die Cenarius zu sprechen wünschte, konnten dem Weg hinter den Wächtern folgen.

Die Veränderungen in der Landschaft wurden deutlicher, als die beiden weiter ritten. Eine kühle Brise erfrischte sie. Vögel hüpften umher und sangen in dem umgebenden Geäst. Die Bäume selbst schüttelten sich fröhlich und begrüßten vor allem den Nachtelf – der sie verstehen konnte. Beide begannen sich so wohl zu fühlen, dass Malfurion sogar ein Lächeln im Gesicht des Orcs zu erkennen glaubte.

Eine Barriere aus dichtem Wald verstellte ihnen plötzlich den Weg. Brox sah Malfurion an, der ihm bedeutete abzusteigen. Nachdem beide ihre Tiere verlassen hatten, führte Malfurion den Orc zu einem schmalen Trampelpfad, den man auf den ersten Blick zwischen den Bäumen nicht hatte erkennen können. Mehrere Minuten lang folgten sie dem Weg, bis sie eine helle, offene Lichtung fanden, die mit hohem weichen Gras und bunten Blumen bewachsen war.

Die Lichtung des Waldgottes.

Doch die Gestalt, die inmitten eines Blumenkreises stand, hätte man nie mit Cenarius verwechseln können. Sie hatte gesessen, sprang jedoch auf, als sie die beiden Neuankömmlinge bemerkte. Die merkwürdigen Augen des Mannes musterten vor allem Brox, so als wisse er genau, was ein Orc war.

»Du …«, murmelte der Fremde an den grünhäutigen Krieger gewandt. »Du solltest hier nicht sein …«

Brox missverstand die Bemerkung. »Ich gehöre zu ihm, Magier … und brauche deine Erlaubnis nicht.«

Doch der Feuerschopf – zu welchem Volk er gehörte, war Malfurion noch unklar – schüttelte den Kopf, machte einen Schritt auf den Orc zu und zögerte dann doch am Rand des Rings. Mit einem merkwürdigen Blick auf die Blumen – die ihn ebenfalls zu mustern schienen – stieß der Fremde hervor: »Dies ist nicht deine Zeit! Dich sollte es hier überhaupt nicht geben.«

Er bewegte die Hand auf den Nachtelf zu, dem die Geste bedrohlich erschien. Malfurion erinnerte sich an das Wort »Magier« und bereitete schnell einen eigenen Zauber vor. Er hoffte, dass Cenarius’ Druidenzauber an diesem heiligen Ort mächtiger sein würden als die Magie des Fremden.

Plötzlich donnerte es im Himmel, und aus der leichten Brise wurde ein stürmischer Wind. Brox und Malfurion wurden einige Schritte zurückgestoßen, und der Magier wurde beinahe in die Luft gerissen, so heftig stieß man ihn vom Rand des Ringes weg.

»In meinem Reich wird es so etwas nicht geben!«, verkündete Cenarius’ Stimme.

In der Nähe des Blumenbeets wirbelte der starke Wind Blätter, Staub und andere Dinge des Waldes auf, schleuderte sie umher und erschuf einen Wirbelsturm. Die kleine Windhose wurde größer und größer, bis die Blätter und Äste zu einer gewaltigen Gestalt verschmolzen.

Die Luft beruhigte sich, als Cenarius vortrat und Malfurion und die anderen betrachtete.

»Von dir hätte ich Besseres erwartet«, bemerkte er ruhig und mit einem Blick auf den Nachtelf. »Aber dies sind seltsame Zeiten.« Er sah Brox an. »Und wie es scheint, werden sie mit jeder vergehenden Stunde seltsamer.«

Der Orc knurrte Cenarius an. Malfurion brachte ihn rasch zum Schweigen. »Dies ist der Herr des Waldes, der Halbgott Cenarius … der, zu dem ich dich bringen wollte, Brox.«

Brox entspannte sich ein wenig und zeigte dann auf den Magier in seinem Umhang. »Und der? Ist das auch ein Halbgott?«

»Er ist Teil des Rätsels«, antwortete Cenarius. »Und du scheinst zum gleichen Rätsel zu gehören.« An das Wesen im Ring gewandt, fügte er hinzu: »Du hast den Neuankömmling erkannt, mein Freund Rhonin.«

Der Magier schwieg.

Der Halbgott schüttelte sichtlich enttäuscht den Kopf. »Ich will dir nichts tun, Rhonin, aber es ist zu viel geschehen, das mich und die anderen verstört und nicht hierher zu gehören scheint. Du und dein verschwundener Begleiter und jetzt dieser …«

»Sein Name ist Brox«, half Malfurion aus.

»Dieser Brox«, fügte Cenarius hinzu. »Ein weiteres Wesen, das selbst ich noch nie gesehen habe. Und wie ist Brox hierher gelangt, mein Schüler? Ich nehme an, es gibt eine verstörende Geschichte über ihn zu erzählen.«

Der Nachtelf nickte und begann sofort von seiner Orc-Rettungsaktion zu berichten. Dabei nahm er jede Schuld auf sich. Tyrande und Illidan erwähnte er kaum.

Doch Cenarius, der viel weiser und älter als sein Schüler war, erkannte einen Großteil der Wahrheit. »Ich sagte bereits, dass das Schicksal dir und deinem Bruder unterschiedliche Wege auferlegt hat. Ich glaube, dass ihr diese Kreuzung nun erreicht habt, auch wenn ihr es nicht wisst.«

»Ich verstehe nicht, was …«

»Darüber reden wir ein anderes Mal.« Der Halbgott ging plötzlich an Malfurion und Brox vorbei und blickte in den Wald. Rund um die Lichtung begannen die Baumkronen voller Wut zu erzittern. »Wir haben keine Zeit mehr. Ihr solltet euch besser bereit halten … auch du, Freund Rhonin.«

»Ich?«, fragte der Zauberer.

»Was ist los, Shan’do?« Malfurion spürte die Wut der Bäume.

Der sonnendurchflutete Himmel donnerte, und der Wind wurde erneut stärker. Ein Schatten fiel über Cenarius’ majestätisches Antlitz, ein dunkler Schatten, der selbst Malfurion vor seinem Lehrer zurückweichen ließ.

Der Herr des Waldes streckte seine Arme aus, als wolle er jemanden umarmen, den niemand außer ihm sehen konnte. »Wir werden gleich angegriffen … und ich befürchte, dass ich euch nicht alle beschützen kann.«


Die einsame Feibestie folgte der Spur, wie es kein Tier und kein Reiter vermocht hätte. Sie witterte nicht den Geruch ihrer Beute, sondern die Magie, die in ihr wohnte. Die Energie, die man Magie nannte, war Nahrung, ebenso wie Fleisch und Blut … und wie alle anderen ihrer Art war die Feibestie stets hungrig.

Sterbliche Wesen hätten die Magie des Wächters nicht bemerkt, aber dem Dämon fiel sie sofort auf. Er stürzte sich voller Gier auf sein unbewegliches Ziel. Die furchtbaren Tentakel schlugen wie Peitschen aus und trafen den dicken Stamm.

Die Eiche tat ihr Bestes, um gegen den unbekannten Feind zu bestehen. Wurzeln griffen nach den Pfoten, aber die Feibestie wich ihnen aus. Lose Äste stürzten von hoch oben herab und prallten von der dicken Haut des Monsters ab.

Als die Eiche bemerkte, dass das, was sie versuchte, keine Wirkung zeigte, stieß sie einen seltsam klagenden Schrei aus, der immer heller wurde. Schon bald hatte er eine Höhe erreicht, die für die meisten Wesen unhörbar war.

Doch für die Feibestie war dies ein furchtbarer Laut. Der Dämon jaulte und versuchte, seinen Kopf in die Erde zu stecken. Gleichzeitig jedoch weigerte er sich, den Wächter loszulassen. Die beiden Wesen kämpften …

Am Ende erwies sich die Feibestie als stärker. Der Eiche wurde die Magie immer weiter entzogen, und sie fiel mehr und mehr in sich zusammen. Schließlich starb sie – so wie es mit der Mondgarde geschehen war –, nachdem sie Tausende von Jahren den Pfad erfolgreich bewacht hatte.

Die Feibestie schüttelte ihren Kopf und zog die Luft durch die Nüstern. Die Tentakel zuckten gierig vor, aber der Dämon verließ seine Position nicht. Er war durch die Magie der Eiche gewachsen und jetzt doppelt so groß wie zuvor.

Dann kam es zur Verwandlung. Eine tiefschwarze Aura umgab die Feibestie und hüllte sie vollständig ein. Darin gefangen wand sich der Dämon, als versuchte er, vor sich selbst zu fliehen.

Und je stärker er dies versuchte, desto mehr veränderte er sich. Ein Kopf erschien, dann zwei, drei, vier … schließlich fünf. Jedes Haupt zog heftiger und stärker am Körper, bis breite Hälse, kräftige Schultern und muskulöse Oberkörper und Beine zum Vorschein kamen.

Durch die reiche Magie des uralten Wächters wurde aus der einzelnen Feibestie ein Rudel. Die Anstrengung schwächte die Dämonen vorübergehend, doch sie erholten sich innerhalb weniger Augenblicke. Das Wissen, dass vor ihnen noch mehr Nahrung und noch mehr Macht lag, spornte sie an.

Das Rudel der Feibestien stürmte der Lichtung entgegen.

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