15

Die Feibestien preschten durch den verzauberten Wald. Ihre Nüstern blähten sich, als der Geruch von Magie stärker wurde.

Doch als eine von ihnen über einen vermodernden Baumstamm hinwegsetzen wollte, griffen die Äste eines anderen Baumes nach ihren Beinen und hielten sie fest. Die Tatzen einer weiteren Feibestie versanken im plötzlich schlammig gewordenen Boden. Eine Dritte kollidierte mit einem vorschnellenden Busch, dessen rasiermesserscharfe Dornen sogar ins von dicker Haut umgebene Fleisch des Dämons drangen, es aufrissen und ihm immense Schmerzen zufügten.

Der Wald erwachte zum Leben, um sich und seinen Herrn zu verteidigen. Der Angriff der fünf Feibestien geriet ins Stocken … war jedoch noch nicht gescheitert. Gewaltige Klauen rissen die Äste aus ihren Stämmen. Eine andere Kreatur zog den im Sumpf gefangenen Dämon heraus, bevor sie selbst ihren Weg fortsetzte. Hunger und Wut verliehen dem Dämon, der im Buschwerk zappelte, solche Kräfte, dass er durch die Dornen brach, ohne sich länger um die blutenden Wunden zu kümmern.

Die Jäger, daran gab es kaum noch einen Zweifel, würden ihre Beute nicht davonkommen lassen …


»Shan’do? Was ist passiert?«

Der Halbgott sah seinen Schüler an. In seinem Blick lag kein Vorwurf. »Die Hunde, von denen du gesprochen hast … sie sind dir hierher gefolgt.«

»Gefolgt? Das kann nicht sein. Es war nur einer übrig und er …«

Brox unterbrach ihn. Seine rumpelnde Stimme hatte nichts annähernd Beruhigendes. »Die Feibestien … sie sind dunkle Magie. Wo es eine gab … können weitere entstehen, falls sie etwas zu fressen bekommen … Das habe ich gesehen …«

»Ein enger Freund und treuer Wächter ist einer von ihnen zum Opfer gefallen«, antwortete Cenarius, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem dichten Wald zuwandte. »In ihm wohnte uralte, mächtige Magie. Das Böse fühlte sich davon angezogen.«

Der Orc nickte. »Also sind aus einer viele geworden.« Brox griff instinktiv hinter sich, aber seine geliebte Streitaxt hing nicht über seinem Rücken. »Ich habe nichts, womit ich kämpfen könnte.«

»Du wirst bewaffnet werden. Suche rasch nach einem Ast, der die Länge deiner Lieblingswaffe hat. Malfurion – hilf mir.«

Brox folgte der Aufforderung. Er zeigte dem Halbgott und dem Nachtelf einen dicken Ast, den er auf Cenarius’ Bitte vor Malfurion ablegte.

»Knie davor nieder, mein Schüler. Du ebenfalls, Krieger. Malfurion, lege deine Hände auf den Ast, Krieger, lege deine auf die seinen.« Der Waldgott wartete, bis sie ihm gehorcht hatten, dann befahl er: »Krieger, denke jetzt nur noch an die Waffe, an nichts anderes. Nur noch daran! Wir müssen schnell handeln. Malfurion, du musst deinen Geist öffnen und seine Gedanken in deine fließen lassen. Ich werde dir weiterhelfen, wenn das geschehen ist.«

Der Nachtelf befolgte den Befehl. Er reinige seine Gedanken, wie sein Shan’do es ihn gelehrt hatte, und tastete nach einer Verbindung mit dem Orc.

Fast augenblicklich spürte er eine urweltliche Kraft, die in seinen Geist stieß. Malfurion hätte sie beinahe zurückgeworfen, beruhigte sich dann jedoch. Er akzeptierte Brox’ Gedanken und wartete ab, wie das Bild, an das der Krieger dachte, Gestalt annahm.

Siehst du die Waffe, mein Schüler?, sagte Cenarius’ Stimme. Fühlst du sie und die Muster ihrer Entstehung?

Das tat Malfurion. Er fühlte auch die enge Verbindung zwischen dem Orc und seiner Waffe. Sie war mehr als nur ein Werkzeug, sie war Teil des Kriegers.

Führe deine Hand über das Holz und behalte das Bild in deinem Kopf. Folge den natürlichen Mustern und verwandele sie in die gewünschte Form …

Brox’ Hände lagen immer noch auf den seinen, als der Nachtelf begann, seine Finger über das Holz zu führen. Er spürte, wie es unter seiner Berührung weich wurde und sein Aussehen veränderte.

Nach und nach entstand eine Axt mit breiter Klinge, die komplett aus Eichenholz bestand. Malfurion sah zu, wie sie Gestalt annahm und spürte Zufriedenheit darüber, dass er eine gute, starke Waffe erschuf, genau wie jene, die er bei seiner Gefangennahme durch die Nachtelfen verloren hatte …

Er spannte sich an. Das waren die Gefühle des Orc, nicht seine eigenen. Malfurion drängte sie rasch zurück und konzentrierte sich auf die letzten Schritte seiner Arbeit – die Krümmung des Stiels, die Schärfe der Klinge.

Die Aufgabe ist vollbracht, sagte Cenarius. Kehre zu mir zurück

Der Nachtelf und der Orc unterbrachen ihre Verbindung. Einen Augenblick lang starrten sie einander an. Malfurion fragte sich, ob Brox auch seine Gedanken wahrgenommen hatte, aber das grünhäutige Wesen gab nicht zu erkennen, ob dies geschehen war.

Zwischen ihnen lag eine blank polierte Waffe, so wie Brox sie sich gewünscht hatte. Der Nachtelf bezweifelte jedoch, dass sie mehr als zwei Hiebe überstehen würde.

Der Waldgott hob die Hände, als habe er diesen Gedanken gelesen – und die Axt lag plötzlich auf seinen Handflächen. Cenarius betrachtete sie mit seinen goldenen Augen.

»Sie soll stets ihr Ziel finden und ihren Herrn immer schützen. Sie soll im Namen von Leben und Gerechtigkeit geschwungen werden. Sie soll ihrem Herrn Kraft schenken, so wie er ihr Kraft gibt.«

Während er diese Worte sprach, entstand eine blaue Aura rund um die Axt. Das Licht wurde von der Axt aufgesogen. Sie begann bläulich zu schimmern.

Der Halbgott reichte dem Orc die Axt. »Sie gehört dir. Sie wird dir gute Dienste erweisen.«

Der Orc nahm die Axt mit geweiteten Augen entgegen und schwang sie probeweise. »Die Balance … perfekt! Das Gefühl … wie ein Teil meines Arms. Aber sie wird zerbrechen …«

»Nein«, antwortete der Waldgott. »Außer Malfurions Können hat sie jetzt auch meinen Segen erhalten. Du wirst feststellen, dass sie stärker als jede von Menschen geschmiedete Axt ist. Das garantiere ich dir.«

Der Nachtelf griff nach keiner Waffe und wünschte sich auch keine, wie Brox sie trug. Obwohl er wusste, dass die dämonischen Kreaturen sich von Magie und Zauberei ernährten, setzte er immer noch auf seine Zauber, nicht auf Waffen, die er nur mittelmäßig zu führen verstand. Er hatte bereits einen Plan, wie er seine Talente einsetzen konnte, ohne dass es ihm zum Nachteil gereichte.

Und so stellte das Trio sich dem Feind.

Die Alpträume aus Rhonins Vergangenheit kehrten zurück, um ihn zu quälen, ihn zu jagen, und dieses Mal wurden sie Realität. Feibestien, die Boten der Brennenden Legion, hatten die Dimension der Sterblichen erreicht. Die endlosen Reihen der gehörnten Feuerdämonen konnten folglich nicht mehr weit sein.

Krasus hatte dem rothaarigen Magier drastisch vor Augen geführt, was geschehen würde, wenn er weiter in die Vergangenheit eingriff. Was wie ein Sieg aussah, konnte sehr wohl das Ende der bisherigen Zukunft bedeuten. Wenn Rhonin wirklich die Leben derjenigen, die er liebte, schützen wollte, so unternahm er am besten gar nichts mehr.

Doch als die erste Feibestie auf die Lichtung sprang, vergaß er sämtliche hehren Vorsätze.

Donner krachte rund um den Halbgott, als er den Feibestien entgegen trat. Seine Hufe erschütterten den Boden und rissen ihn an manchen Stellen sogar auf. Wenn er die Hände zusammenschlug, schossen Blitze daraus hervor.

Doch nicht nur das, denn plötzlich stieg eine Miniatursonne aus seinen Händen empor und schoss auf den vordersten Dämon zu. Vielleicht testete der Halbgott seinen Gegner nur oder er unterschätzte dessen Widerstandskraft, denn die Feibestie ließ ihre Tentakel vorschnellen … und absorbierte Cenarius’ Zauber mühelos.

Die Feibestie zögerte, leuchtete auf … und plötzlich standen dort, wo gerade noch eine gewesen war, zwei.

Sie griffen den Hirschgott an, schlugen nach ihm und versuchten seine starke Magie aus ihm herauszuziehen. Mit einer Hand hielt Cenarius den ersten auf. Der Dämon wand sich und schnappte nach dem Arm, der ihn in der Luft festhielt. Der zweite stürzte sich jedoch auf seine Schulter; die Tentakel tasteten nach dem Fleisch des Halbgottes. Die drei Kämpfer stürzten in einem Gerangel aus Gliedern nach hinten.

Das haben sie noch nie getan! Rhonin hatte noch nie einer Feibestie gegenüber gestanden, aber er hatte ihre Kadaver untersucht und alle Informationen gesammelt, die er über sie bekommen konnte. Selten war er auf Geschichten gestoßen, in denen sich die Feibestien vermehrten, aber wenn, dann hatte es geheißen, sie müssten sich große Mengen Magie einverleiben, um dies zu bewerkstelligen. Auch sollte es ein langsamer und schwieriger Prozess sein. Das muss an der uralten Magie liegen, die der Halbgott und der Wald benutzen … sie ist so reich und mächtig, dass die Bestien durch sie noch furchtbarer werden.

Ihn schauderte, als er daran dachte, dass Magie stets sein bester Helfer gewesen war. Zwar konnte er auch mit der Hand kämpfen, aber er verfügte über keine Waffe und bezweifelte, dass Cenarius ihm eine geben würde. Gegen diese Ungeheuer wäre er jedoch selbst mit einem Schwert chancenlos geblieben. Er brauchte seine Magie.

Als Cenarius ihn und Krasus zu dem Ring gebracht hatte, war es ihm nicht gelungen, einen Zauber zu wirken. Der Waldgott hatte einen Bann um seinen Geist gelegt, um die Macht seiner beiden »Gäste« unter Kontrolle zu halten. Allerdings hatte Rhonin gespürt, wie der Bann wich, als Cenarius die Gefahr erkannte, in der sie alle schwebten. Der Halbgott wollte dem Zauberer nicht wirklich schaden. Er hatte nur aus Sorge um seinen Wald und seine Welt gehandelt.

Doch selbst wenn er Krasus Warnungen in den Wind schlug, war nicht klar, was er mit seinen Kräften überhaupt ausrichten konnte. Die Dämonen würden sicherlich nach seiner Magie lechzen, so wie sie nach der Magie aller Magier gegiert hatten, die sie im künftigen Krieg gegen die Legion ausgesaugt hatten.

Die Feibestien bedrängten ihre Gegner und näherten sich Rhonin mehr und mehr. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und die Worte der Macht lagen ihm auf der Zunge.

Und dennoch hielt er sich weiter zurück …


Während Cenarius und die Zwillings-Feibestien zu Boden gingen, sprangen zwei weitere auf Brox zu. Der kräftige Krieger stellte sich ihnen mit einem solch urgewaltigen Kriegsschrei entgegen, dass eine der Bestien kurz zögerte. Der Orc nutzte dies zu seinem Vorteil und schlug hart nach seinem Gegner.

Die verzauberte Axt grub sich tief in die Vordertatze der Feibestie und trennte drei Klauen mit solcher Leichtigkeit ab, als habe er nur die Luft geteilt. Die faulig grüne Flüssigkeit, die bei vielen Dämonen das Blut ersetzte, spritzte über den Boden und verbrannte die Grashalme wie Säure.

Die verletzte Feibestie stieß ein Jaulen aus und taumelte zur Seite, aber ihr Kampfgenosse preschte weiter und warf sich auf den Orc. Brox, der noch versuchte, nach seinem Schlag das Gleichgewicht zurück zu gewinnen, konnte sich gerade noch retten, indem er den Schaft der Axt in die Brust des vorspringenden Angreifers rammte.

Die Feibestie stieß ein monströses Stöhnen aus, wurde aber nicht langsamer. Sie prallte gegen Brox und begrub ihn beinahe unter ihrem riesigen Körper.

Der Nachtelf sah sich währenddessen einem Monster gegenüber, das gierig mit seinen vampirischen Tentakeln nach ihm griff. Malfurion konzentrierte sich und versuchte, wie Cenarius zu denken. Von ihm hatte er gelernt, die Natur als Waffe und Freund zu betrachten.

In Anlehnung an die Begegnung mit dem Halbgott erschuf Malfurion aus dem Wind einen brüllenden Wirbelsturm, der die Feibestie sofort einhüllte. Die Tentakel schwangen wild hin und her und suchten nach Magie. Doch Malfurions Zauber hatte lediglich die natürliche Kraft des Windes verstärkt, daher fand der Dämon nur wenig Nahrung.

Mit einer Geste seiner rechten Hand bat er die umstehenden Bäume, ihm all die Blätter zu schenken, die sie entbehren konnten. Er benötigte nur die Stärksten, diese aber in großer Zahl – und rasch.

Aus den Kronen der übergroßen Wächter fielen Hunderte von Blättern, alle, die sie ihm schenken konnten. Malfurion benutzte eine weitere Brise, um die Blätter auf den Wirbelsturm zuzutreiben.

Darin kämpfte sich die Feibestie vor, näherte sich unaufhaltsam ihrer Beute. Der Wirbelsturm glich sich jedem ihrer Schritte an und behielt den Dämon in seiner Mitte.

Die Blätter wurden in den Wirbelsturm gesogen. Ihre Zahl wurde rasch größer, und sie bewegten sich immer schneller. Die Feibestie beachtete sie zuerst nicht, denn für den mächtigen Dämon waren sie kaum mehr als ein wenig Dreck im Wind. Dann aber schnitt das erste Blatt in seine Schnauze und hinterließ eine klaffende Wunde.

Die wütende Bestie schlug danach, doch im gleichen Moment schnitten weitere Blätter in seine Tatze, seine Beine und den übrigen Körper. Der hundertfach verstärkte Wind verlieh jedem Blatt die Wirkung einer Klinge. Sie schnitten in das Fleisch der Kreatur, wo immer sie es berührten. Grüne Flüssigkeit tropfte über den Leib des Dämons, lief über seine Beine und raubte ihm die Sicht.

Cenarius und seine Angreifer hatten sich im Kampf weit von den anderen entfernt. Das Kreischen der Dämonen fand seine Antwort im majestätischen Gebrüll des Waldgottes. Er ergriff den Vorderlauf der Feibestie, die an ihm hing und brach ihr mit einem einzigen Ruck den Knochen. Der Dämon heulte auf. Seine Tentakel lösten sich und peitschten hin und her als Reaktion auf die Schmerzen.

Cenarius hatte ein Problem zumindest vorübergehend gelöst und konzentrierte sich auf das zweite. Sein Gesicht verdunkelte sich, und sein stechender Blick war voller Zorn. Plötzlich schoss ein Lichtstrahl aus seinen Augen und hüllte den Dämon ein. Die Tentakel der Bestie tasteten gierig nach dem Licht, sogen es auf und warteten auf mehr.

Doch dies war kein Zauberer oder Magier, dessen Energie man einfach stehlen konnte. Cenarius, der jetzt von einer mächtigen blauen Aura umgeben war, führte seinen Angriff ungerührt weiter, fütterte seinen Feind und gab ihm, was er wollte … aber viel zu schnell und in so großen Mengen, dass selbst der Dämon nicht alles in sich aufzunehmen vermochte.

Die Feibestie begann anzuschwellen und blähte sich auf, als fülle man einen Sack mit Wasser. Für einen Moment schien sie sich teilen zu wollen … doch die Kräfte, die sie in sich aufgenommen hatte, erwiesen sich zu gewaltig.

Der monströse Hund explodierte, und übel riechende Fleischstücke regneten auf die Lichtung nieder.


Bislang war das Glück Rhonin hold gewesen. Keine Feibestie hatte ihn als Opfer auserkoren. Er stand weiterhin im Zentrum des Rings und hoffte, dass dessen Macht ihm die Entscheidung über den Einsatz seiner Magie abnehmen würde.

Rhonin beobachtete, wie Brox eine Kreatur vernichtete, die ihn beinahe zerquetscht hätte. Der erfahrene Krieger schien die Situation trotz zweier Angreifer unter Kontrolle zu haben. Doch noch während der menschliche Magier Brox zusah, war ihm ein schrecklicher Gedanke gekommen. Rhonin hatte begriffen, dass man ihn und Krasus möglicherweise töten musste, wenn es nicht gelang, sie in ihre angestammte Zeit zurückzuverpflanzen. Damit sollten weitere Veränderungen der Zeitlinie verhindert werden.

Nur hatte niemand bedacht, dass auch ein einzelner Orc-Krieger in diese Zeitperiode geschleudert worden war …

Rhonin begann über eine andere Art Zauber nachzudenken, während er auf den Rücken des Orcs starrte. Da der Kampf tobte, würde der Zauber, mit dem er womöglich eine weitere Gefahr für die Zeitlinie erschuf, vielleicht niemandem auffallen. Krasus hätte ihn sicher darin bestärkt, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte – dass in diesem Moment Brox eine weitaus größere Gefahr für die gesamte Welt darstellte als die Dämonen …

Aber seine Hand zitterte, und Rhonin schob den Zauber, den er bereits halb gesponnen hatte, in die tiefsten Abgründe seines Geistes zurück. Er schämte sich. Brox’ Volk war zu einem wertvollen Verbündeten geworden, und dieser Orc kämpfte nicht nur, um sich selbst zu retten, sondern auch für andere, inklusive dem Zauberer.

Krasus’ Worte drängten Rhonin dazu, sich Brox’ rasch zu entledigen und sich später Gedanken über die Konsequenzen zu machen. Doch je länger Rhonin zusah, wie der Orc neben dem Nachtelf – einem weiteren verbündeten Volk der Zukunft – kämpfte, desto mehr bedauerte Rhonin seinen Moment geistiger Umnachtung. Seine Gedanken erschienen ihm so furchtbar wie die Gräueltaten, die die Brennende Legion in seiner Zeit begangen hatte.

Doch Rhonin konnte nicht mehr länger zusehen, ohne selbst zu handeln …

»Es tut mir Leid, Krasus«, murmelte er und begann einen neuen Zauber zu weben. »Wirklich Leid.«

Unter seiner Kapuze nahm der Magier einen tiefen Atemzug und starrte eine der Feibestien an, die gegen den Orc kämpfte. Er dachte an die Beschwörungen, die ihm gegen die unmenschlichen Diener der Legion geholfen hatten. Er musste so schnell handeln, dass den Feibestien keine Gelegenheit blieb, die Macht aus seinem Zauber zu ziehen.

Weit zu seiner Rechten war es Cenarius mittlerweile gelungen, seinen zweiten Gegner abzuschütteln. Mit seiner gebrochenen Vorderpfote konnte der Dämon sich nicht länger festhalten. Die Muskeln des Halbgottes spannten sich, als er sich zurücklehnte und die Bestie über seinen Kopf hob. Mit einem Triumphschrei warf er sie hoch über die Baumwipfel hinweg tief in den wartenden Wald hinein.

Rhonin wob seinen Zauber.

Er hatte gehofft, die Feibestie, auf die er sich konzentrierte, durch einen magischen Schlag zu verletzen und Brox den Rest überlassen zu können. Doch was Rhonin stattdessen auslöste, übertraf seine kühnsten Erwartungen.

Eine unsichtbare donnernde Wand, die die Luft selbst zum Erzittern brachte, entstand vor ihm und raste wie der Wind auf sein Ziel zu. Sie wurde größer, während sie sich bewegte und hüllte bereits einen Lidschlag später die gesamte Lichtung ein.

Brox und der Nachtelf bemerkten nichts davon, doch die drei Dämonen, die ihr im Weg standen, wurden von der Gewalt, die Rhonin entfesselt hatte, völlig überrascht. Die Feibestien konnten nicht mehr reagieren, hatten nicht genügend Zeit, um ihre Tentakel einzusetzen. Sie waren wie Zweige in einem brüllenden Feuer.

Die Wand überrannte sie, und die Dämonen verbrannten. Der Zauber löste sie komplett auf, bis nichts übrig blieb außer Aschewolken. Einem Dämon gelang es noch, ein wildes Heulen auszustoßen, doch danach hörte man nur mehr das Rauschen des Windes, der die Überreste der Monster durch die Luft wirbelte.

Stille senkte sich über die Lichtung.

Brox ließ seine Axt fallen. Augen und Mund waren in ungläubigem Staunen aufgerissen. Malfurion starrte auf seine Hände, als seien sie in irgendeiner Weise dafür verantwortlich. Dann sah er zu Cenarius, als erwarte er dort eine Antwort zu finden.

Rhonin blinzelte einige Male. Er konnte kaum glauben, dass er für diesen Zauber gesorgt hatte. Erst jetzt fiel dem Magier der kurze Kampf gegen die bewaffneten Nachtelfen ein, bei dem Krasus so verstörend schwach gewesen war und Rhonin Zauber vollbrachte, die er niemals für möglich gehalten hätte.

Doch jede Freude über den unerwarteten Sieg verging, als er plötzlich entsetzliche Schmerzen in seinem Rücken spürte. Es fühlte sich an, als würde sein Innerstes herausgerissen, als würde ihm die Seele heraus gesogen.

Gesogen? Trotz der Schmerzen begriff Rhonin plötzlich, was geschah. Eine weitere Feibestie musste unbemerkt hinter ihm aufgetaucht sein und ihn angreifen.

Rhonin wusste, was mit den Zauberern geschehen war, denen die Feibestien die Magie gestohlen hatten. Er erinnerte sich an die ausgetrockneten, leeren Hüllen, die man zur Untersuchung nach Dalaran gebracht hatte.

Auch er würde bald so aussehen …

Doch obwohl er bereits in die Knie gegangen war, leistete Rhonin Widerstand. Mit aller Macht, die ihm zur Verfügung stand, musste ihm doch die Flucht vor dieser Bestie gelingen!

Flucht … das war der einzige Gedanke in seinem von Schmerzen gepeinigten Geist. Rhonin wollte nur noch dem Schmerz entfliehen, irgendwohin, wo er in Sicherheit war.

Wie durch einen Nebel hörte er die Stimmen des Orcs und des Nachtelfs. Die Angst, die er empfand, schloss jetzt auch die anderen ein. Mit all der Magie, die der Dämon aufsog, würden auch sie keine Chance mehr gegen ihn haben.

Flucht … nur danach trachtete Rhonin. Irgendwohin

Dann verschwand der Schmerz, wurde abgelöst von einer schweren, aber angenehmen Taubheit, die seinen Körper warm und wohlig ausfüllte. Rhonin akzeptierte die unerwartete Veränderung dankbar, ließ zu, dass die Vorboten des Todes ihn einhüllten …

… und verschlangen.


Nicht zum ersten Mal schlich Tyrande durch die stillen Gänge des großen Tempels, vorbei an den zahllosen Kammern der schlafenden Altardiener, den Meditationsräumen und den Orten der öffentlichen Anbetung. Sie ging auf ein Fenster in der Nähe des Haupteingangs zu. Das helle Sonnenlicht blendete sie beinahe, aber sie zwang sich, den leeren Platz, der dahinter lag, mit ihren Blicken abzusuchen.

Sie drehte gerade den Kopf, als ein metallisches Geräusch sie vor einer herannahenden Wächterin warnte. Das ernste Gesicht der Nachtelfin wurde sanfter, als sie Tyrande erkannte.

»Du wieder! Schwester Tyrande … du solltest wirklich in deinem Quartier bleiben und etwas ruhen. Du hast seit Tagen kaum geschlafen, und jetzt bringst du dich auch noch in Gefahr. Deinem Freund wird nichts geschehen. Da bin ich ganz sicher.«

Die Wächterin meinte Illidan, um den sich Tyrande auch sorgte. Wirklich Angst hatte sie jedoch, dass Illidan mit seinem Bruder und dem glücklosen Orc zurückkehren würde. Die Novizin glaubte nicht, dass Malfurions Zwilling ihn je verraten würde, aber wenn Lord Ravencrest die beiden fasste, würde auch er nichts unternehmen können.

»Ich kann nichts dafür, Schwester, ich bin einfach ruhelos. Bitte vergib mir.«

Die Wächterin lächelte verständnisvoll. »Ich hoffe, er begreift, wie viel er dir bedeutet. Die Zeit für deine Wahl ist bald gekommen, richtig?«

Diese Worte bereiteten Tyrande größere Sorgen, als sie sich eingestehen wollte. Ihre Gedanken und Reaktionen, seit die drei Broxigar befreit hatten, waren mehr als nur ein vager Hinweis darauf, wen sie bevorzugte. Aber sie traute dem noch nicht ganz. Ihre Sorge galt sicherlich nur dem Freund, den sie seit frühester Kindheit kannte.

So musste es sein …

Sie hörte, wie Metall gegen Metall schlug und Nachtsäbel fauchten. Tyrande drängte sich an der irritierten Wächterin vorbei und trat auf die Außentreppe von Elunes Tempel.

Staub bedeckt ritten Lord Ravencrests Männer auf den Platz. Der Adlige, der einen Umhang trug, wirkte entspannt, sogar erfreut über etwas, aber die Gesichter der meisten Soldaten waren ernst, und sie sahen sich immer wieder an, als teilten sie ein furchtbares Geheimnis.

Von Malfurion oder Broxigar war nichts zu sehen.

An Lord Ravencrests Seite tauchte Illidan auf. Er ritt hoch aufgerichtet und stolz, wirkte höchst zufrieden, und wenn seine Zufriedenheit darauf beruhte, dass es ihm gelungen war, seinen Zwillingsbruder vor der Gefangennahme zu retten, konnte Tyrande ihm das nicht übel nehmen.

Die junge Priesterin lief, ohne recht zu wissen, was sie tat, die Stufen hinab. Lord Ravencrest entdeckte sie, und er machte Illidan auf sie aufmerksam. Der bärtige Kommandant flüsterte Malfurions Bruder etwas zu und hob seine Hand.

Die Soldaten hielten an. Illidan und Ravencrest lenkten ihre Tiere auf Tyrande zu.

»Nun, wenn das nicht die Schönste von Mutter Monds eifrigen Dienerinnen ist!«, rief der Kommandant aus. »Wie interessant, dass Ihr unsere Rückkehr trotz der späten Stunde abgewartet habt.« Er musterte Illidan, dessen Gesichtsausdruck verschämt wirkte. »Sehr interessant, denkst du nicht auch?«

»Ja, Milord.«

»Wir müssen uns nach Black Rook Hold aufmachen, Schwester, aber ich denke, ich kann euch beiden ein paar Augenblicke Zeit geben, wie?«

Tyrande spürte, wie sich ihre Wangen verdunkelten, als Ravencrest seinen Panther zu den anderen zurücklenkte. Illidan stieg rasch ab, kam zu ihr und nahm ihre Hände in die seinen.

»Sie sind in Sicherheit, Tyrande … und Lord Ravencrest hat sich meiner angenommen! Wir haben eine furchtbare Bestie bekämpft, und ich habe verhindert, dass sie ihn verletzt. Mit meiner Macht habe ich sie vernichtet!«

»Malfurion ist entkommen? Da bist du dir sicher?«

»Natürlich, natürlich«, entgegnete er aufgeregt und wehrte weitere Fragen über seinen Bruder ab. »Verstehst du nicht, dass ich endlich meine Bestimmung gefunden habe? Die Mondgarde hat mich fast ignoriert, aber ich habe ein Monster getötet, das drei von ihnen niederstreckte, unter anderem einen ihrer höchsten Zauberer!«

Sie wollte wissen, was er über Malfurion und den Orc erfahren hatte, aber es war deutlich zu erkennen, dass Illidan nur über sein eigenes Glück grübelte. Tyrande konnte es verstehen, denn sie hatte beobachtet, wie er hart, aber erfolglos für die ruhmreiche Zukunft gerackert hatte, die ihm prophezeit worden war. »Ich freue mich so für dich. Ich hatte befürchtet, die langsamen Fortschritte von Cenarius’ Lehren würden dich frustrieren, aber wenn es dir gelungen ist, Lord Ravencrest zu beschützen, als es seinen eigenen Soldaten nicht gelang, dann …«

»Du missverstehst mich! Ich habe nicht diese langsamen, schwerfälligen Zauber benutzt, die uns Malfurions verehrter Shan’do immer wieder beizubringen versuchte. Ich habe gute, traditionelle Nachtelfen-Magie eingesetzt … und das sogar bei Tageslicht! Es war unglaublich!«

Dass er so schnell vom druidischen Weg abgewichen war, überraschte Tyrande nicht sehr. Auf der einen Seite war sie froh, dass er in einem so gefährlichen Moment zu sich gefunden hatte, auf der anderen Seite war das nur ein weiteres Zeichen für die zunehmenden Unterschiede zwischen den Zwillingen.

Auch darüber musste ihr ohnehin schon überforderter Geist nachdenken.

Hinter Illidan räusperte sich Lord Ravencrest höflich.

Malfurions Bruder setzte sich in Bewegung. »Ich muss gehen, Tyrande! Man wird mir mein Quartier in der Festung zeigen, und dann soll ich dabei helfen, einen größeren Trupp zusammenzustellen, der die toten Bestien und die ganzen Leichen zurückbringt.«

»Leichen?« Sie hatte es zunächst so verstanden, dass einige Mondgardisten ihr Leben gegen ein Ungeheuer verloren hatten, und erst jetzt dämmerte ihr, dass nur Ravencrests Trupp zurückkehren würde. Der Trupp, der davor Malfurion verfolgt hatte, war offenbar vollständig aufgerieben worden.

Der Gedanke daran ließ Tyrande erschaudern … erst recht, da Malfurion ebenfalls dort draußen gewesen war.

»Die anderen Bestien haben die Verfolger beinahe komplett niedergemetzelt. Tyrande, hast du das nicht begriffen?« Illidans Stimme klang beinahe hämisch. Das wachsende Entsetzen in ihrem Gesicht ignorierte er völlig. »Die Zauberer sind sofort gestorben, haben niemandem geholfen. Nur zwei Kämpfer überlebten den Kampf gegen die anderen Ungeheuer, aber ich konnte eine Kreatur mit zwei simplen Zaubern zur Strecke bringen!« Er schien vor Stolz regelrecht aufzublühen. »Dabei konnten diese Monster Magie aussaugen!«

Der Adlige räusperte sich erneut. Illidan führte rasch ihre Hände an seine Lippen und küsste sie leicht. Dann ließ er Tyrande los und stieg auf seinen Nachtsäbel.

»Ich wollte mich deiner würdig erweisen«, murmelte Illidan plötzlich. »Schon sehr bald.«

Er wendete den Panther und ritt zu dem wartenden Kommandanten. Ravencrest versetzte Illidan einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. Er blickte er über seine Schulter zu Tyrande. Dann nickte der Adlige Malfurions Zwilling zu und zwinkerte.

Tyrande versuchte immer noch das Gehörte zu verarbeiten, als der bewaffnete Trupp bereits in Richtung Black Rook Hold aufgebrochen war. Illidan sah ein letztes Mal zurück, bevor er der Sicht entschwand. Seine Blicke aus goldenen Augen waren intensiv. Es fiel Tyrande nicht schwer, die Begierde darin zu entdecken.

Sie zog ihren Umhang enger um sich und eilte in den Tempel zurück. Die Wächterin, mit der sie auch vorhin schon gesprochen hatte, erwartete sie im Inneren.

»Verzeih mir, Schwester. Ich habe einiges von dem gehört, was draußen gesagt wurde. Ich trauere um die Leben, die bei der erfolglosen Jagd verloren gingen, aber ich möchte auch deinen Freund zu der strahlenden Zukunft beglückwünschen, die vor ihm liegt. Lord Ravencrest muss großen Respekt vor ihm haben, wenn er ihn zu sich holt. Man kann wohl kaum eine bessere Partie machen, oder?«

»Nein … nein, ich denke nicht.« Als Tyrande auffiel, wie sie klang, fügte sie rasch hinzu: »Vergib mir, Schwester, meine Erschöpfung fordert wohl doch ihren Tribut. Ich sollte zu Bett gehen.«

»Das ist nur allzu verständlich, Schwester. Zumindest weißt du, dass angenehme Träume auf dich warten.«

Doch als Tyrande zu ihrem Zimmer eilte, vermutete sie, dass ihre Träume alles andere als angenehm sein würden. Sie war natürlich froh über die Nachricht, dass Malfurion und Broxigar die Flucht gelungen war und dass offenbar niemand Malfurion mit der Angelegenheit in Verbindung brachte. Auch freute es sie, dass Illidan sich selbst gefunden hatte, etwas, das sie fast nicht mehr erhofft hatte.

Sie machte sich jedoch Sorgen, weil sie den Eindruck hatte, dass Illidan bereits eine Entscheidung bezüglich einer gemeinsamen Zukunft getroffen hatte, während Tyrande noch längst nicht so weit war. Schließlich gab es da auch noch Malfurion und ihre unklaren Gefühle ihm gegenüber.

All dies hing jedoch letztlich von der Frage ab, ob es Malfurion gelingen würde, dem wachsamen Auge der Mondgarde und dem von Lord Ravencrest zu entgehen. Wenn sie die Wahrheit erfuhren, bedeutete dies für Malfurion wahrscheinlich Black Rook Hold.

Und noch nicht einmal Illidan würde es schaffen, seinen Bruder von dort zurückzuholen.


Weder die Bäume, noch das Unterholz hatten den Sturz der Feibestie verhindern können. Der dämonische Hund war vom Halbgott in die Lüfte geschleudert worden und außerstande, sich aus eigener Kraft zu retten.

Doch dem stets so unberechenbaren Zufall gelang, was niemand sonst vermocht hätte. Cenarius hatte seinen bösartigen Gegner so weit wie möglich fortgeschleudert und war davon ausgegangen, dass dessen Aufprall den Rest besorgen würde. Wäre die Feibestie auf einem Felsen oder dem Boden gelandet, oder wäre sie gegen den Stamm einer mächtigen Eiche geprallt, hätte sie augenblicklich ihr Leben eingebüßt.

Wie sich jedoch herausstellte, hatte der Waldgott sie in eine Richtung geworfen, in der ein so tiefer See lag, dass selbst die Geschwindigkeit der Feibestie nicht ausreichte, um sie den Grund erreichen zu lassen.

Der Aufstieg zur Oberfläche vollbrachte beinahe, was dem Fall nicht gelungen war. Dem Dämon gelang es nur knapp, ans Ufer zu kriechen. Ein Vorderlauf hing nutzlos herab, als die Feibestie zu einer schattigen Mulde hinkte und sich dort mehrere Minuten lang ausruhte.

Als der Dämon sich, so gut dies bei seinen Wunden möglich war, erholt hatte, hob er seine Nase und suchte nach einer bestimmten Witterung. Als er fand, wonach er gesucht hatte, richtete er sich auf. Langsam, aber stetig hinkte er dem Ursprung des Geruchs entgegen. Selbst aus dieser Entfernung konnte die Feibestie die Kraft spüren, die von der Quelle der Ewigkeit ausging. Dort würde sie die Magie finden, die sie zur Heilung benötigte. Sogar ihren verletzten Lauf würde sie dort retten können.

Die Feibestien waren nicht wirklich die schlichten Ungeheuer, für die Brox und Rhonin, die sie immerhin noch aus ihrem eigenen Krieg kannten, sie hielten. Kein Wesen, das dem Herrn der Brennenden Legion diente, war ganz ohne Verstand, sah man einmal von den Infernalen, diesen zerstörerischen Riesen ab. Die Dämonenhunde waren ein Teil ihres Herrn, und was sie wussten, wusste auch Hakkar.

Und von diesem einsamen Überlebenden erfuhr der Herr der Hunde nun viel über die, die dem Eintreffen der Legion im Wege standen.

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