7

Die Nachtelfen wurden nervös, und in Rhonins Augen machte sie das zu einer noch größeren Bedrohung.

Es hatte viel mit der Region des Waldes zu tun, in die sie soeben einritten. Rhonin fand, dass sich diese Gegend anders anfühlte als die dunklen Gebiete, die sie bisher durchquert hatten. Hier schienen die Nachtelfen nicht die Herren zu sein, sondern unerwünschte Eindringlinge.

Der Morgen näherte sich rasch. Er und Krasus, der immer noch bewusstlos zu sein schien, lagen gefesselt über dem Rücken eines Panthers, und Rhonin fühlte sich, als würde ihm jeder etwas zu heftige Schritt der großen Katze fast die Rippen brechen. Aber er zwang sich, keinen Laut von sich zu geben, keinen Muskel zu rühren, damit die Nachtelfen nicht merkten, dass er bereits wach war.

Doch welchen Unterschied hätte es gemacht, wenn sie es wüssten? Er hatte bereits mehrmals versucht, einen Zauber zu weben, aber all seine Bemühungen hatten ihm nur schädelspaltende Kopfschmerzen eingetragen. Die Nachtelfen hatten ein kleines, smaragdgrünes Amulett um seinen Hals gelegt, ein vollkommen harmlos aussehendes Ding, das die Quelle seines Frustes war. Wann immer er versuchte, sich auf einen Zauber zu konzentrieren, wurden seine Gedanken vollkommen durcheinander gewirbelt, und seine Schläfen pochten. Er konnte nicht einmal den Talisman von seinem Hals schütteln. Die Nachtelfen hatten ihn gut gesichert. Auch Krasus trug ein solches Amulett, obwohl es nicht den Eindruck machte, als hätten die Nachtelfen irgendetwas von ihm zu befürchten. Rhonin hatte wie sie gesehen, was jedes Mal passiert war, wenn sein früherer Mentor versucht hatte, ihm im Kampf beizustehen. Krasus hatte seine Kräfte sogar noch weniger unter Kontrolle als Rhonin – eine Erkenntnis, die den jungen Zauberer über die Maßen verstörte.

»Dies ist nicht der Pfad, auf dem wir gekommen sind«, knurrte der narbengesichtige Anführer, den seine Untergebenen mit Varo’then ansprachen. »Hier stimmt etwas nicht …«

»Aber wir haben den gleichen Weg genommen wie vorher, mein Hauptmann«, antwortete einer der anderen Nachtelfen. »Wir sind nirgendwo vom Pfad abgewich …«

»Sieht das am Horizont vielleicht aus wie die Turmspitzen von Zin-Azshari?«, schnappte Varo’then. »Ich sehe nur Bäume, nichts als Bäume und noch mehr Bäume, Koltharius … und außerdem hat dieses Grünzeug etwas an sich, das mir überhaupt nicht gefällt! Obwohl wir einfach nur zurückgeritten sind, bewegen wir uns aus irgendwelchen Gründen ganz woanders hin als zur Hauptstadt!«

»Sollen wir kehrtmachen? Unseren Weg zurückverfolgen?«

Rhonin konnte das Gesicht des Hauptmanns nicht sehen, aber er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von dessen unzufriedenem Ausdruck. »Nein … nein … noch nicht …«

Doch während Varo’then noch nicht bereit war, den Pfad aufzugeben, machte sich Rhonin zunehmend Sorgen um sein eigenes Wohl. Mit jedem Schritt, der sie tiefer in den dichten, sich um sie schließenden Wald führte, fühlte der Zauberer eine immer stärker werdende Präsenz, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte. Auf gewisse Weise erinnerte sie ihn an die Art, wie er Krasus empfand, wenn der Drachenmagier Kontakt mit ihm aufnahm.

Doch dies hier war mehr … viel mehr.

Aber was?

»Die Sonne ist fast aufgegangen«, murmelte einer der Soldaten und klang dabei wenig begeistert.

Nach dem, was Rhonin bisher in Erfahrung gebracht hatte, konnten die Nachtelfen bei Tageslicht aktiv sein, mochten es aber ganz und gar nicht. Auf irgendeine Weise schwächte es sie. Sie waren Geschöpfe der Magie – auch wenn sie als Einzelwesen wenige einsetzen mochten –, aber ihre Magie war offenbar an die Nacht gebunden. Wenn Rhonin sich nur von dem Amulett hätte befreien können, sobald die Sonne aufging, wären, das spürte er, die Chancen sofort anders verteilt.

Er versicherte sich, dass niemand hinsah, und schüttelte verstohlen den Kopf. Das Amulett schwang hin und her, aber es wollte nicht abgleiten. Schließlich versuchte Rhonin, seinen Kopf hoch zu werfen, und hoffte, auf diese Art das verdammte Ding lösen zu können. Es bestand die Gefahr, dass sein Tun von den Nachtelfen bemerkt wurde, aber dieses Risiko musste er eingehen.

Im Dämmerschein, der den Morgen ankündigte, starrte ihn aus dem Buschwerk, an dem sie gerade vorbei ritten, ein Gesicht an.

Nein, korrigierte er sich, das Gesicht war Teil des Gebüschs. Blätter und Zweige bildeten die Gesichtszüge und bildeten sogar einen üppigen Bart. Die Augen waren Beeren, und eine Lücke im Grün sah aus wie ein schelmisch grinsender Mund.

Das Antlitz verschwand ebenso schnell wieder, wie es erschienen war, und Rhonin fragte sich, ob er sich das grüne Wesen nur eingebildet hatte. Ein Lichtspiel? Er verneinte dies. Dafür war es zu detailliert gewesen.

Und doch …

Das Kratzen, mit dem ein Schwert aus seiner Scheide gezogen wurde, erregte Rhonins Aufmerksamkeit. Weitere Klingen scharrten. Einer nach dem anderen machten sich die Nachtelfen für einen Kampf bereit, über den sie noch nichts wussten, außer dass er kommen würde. Auch die Großkatzen spürten, dass sich Ärger anbahnte. Sie beschleunigten ihren bereits schnellen Schritt, und ihre Nackenhaare sträubten sich. Sie entblößten ihre tückischen Zähne.

Plötzlich zeigte Varo’then nach rechts. »Da lang! Da lang! Schnell!«

In diesem Moment explodierte der Wald vor Leben.

Riesige, dicht mit Blättern bewachsene Äste schwangen herab und raubten den Reitern die Sicht. Büsche sprangen auf und verwandelten sich in kleine, behände Gestalten mit stumm grinsenden Gesichtern aus Grün. Der Waldboden schien nach den Klauen der Panther zu schnappen, und mehr als ein Reiter stürzte aus dem Sattel. Die Nachtelfen schrien verwirrt und versuchten, sich zu organisieren. Doch damit verstärkten sie nur das Chaos.

Ein leises Stöhnen hallte durch den Wald. Rhonin erhaschte nur einen kurzen Blick, doch er war sich sicher, dass einer der riesigen Bäume sich nieder gebeugt und mit seiner dicht belaubten Krone zwei Nachtelfen und deren Reittiere fortgefegt hatte.

Flüche bellten auf, als Varo’then versuchte, das Kommando über seine Truppe zurückzuerlangen. Jene Elfen, die noch auf ihren Panthern saßen, hieben verzweifelt nach den sie umschwärmenden Buschwesen und bemühten sich, ihre Reittiere unter Kontrolle zu halten. Den riesigen Katzen gefiel das, womit sie es hier zu tun hatten, offenbar überhaupt nicht, und oft wichen sie zurück, während ihre Reiter versuchten, sie vorwärts zu treiben.

Varo’then rief etwas, und plötzlich schossen grelle, violette Energietentakel durch das Holz. Ein Strahl traf einen der Buschgeister und verwandelte die zwergenhafte Kreatur sofort in eine lebende Fackel. Doch das Wesen lief trotz der scheinbar tödlichen Bedrohung unbekümmert weiter und zog eine brennende Spur hinter sich her.

Nur wenige Sekunden später begann der Wind, der vorher fast unhörbar gewesen war, zu heulen und zu brüllen, als habe ihn der Angriff der Nachtelfen in wilde Wut versetzt. Er blies mit solcher Vehemenz, dass Erde, abgebrochene Äste und Zweige sowie lose Blätter durch die Luft zu wirbeln begannen und den Elfen die Sicht nahmen. Die Flammen am Leib des Waldgeistes wurden erstickt, doch das Geschöpf schenkte dieser wundersamen Rettung ebenso wenig Beachtung wie zuvor der Gefahr und huschte weiter um die Beine der panischen Katzen herum. Ein riesiger, herumfliegender Ast schmetterte den Nachtelfen, der direkt neben Varo’then ritt, zu Boden.

»Formiert euch neu!«, schrie der narbengesichtige Hauptmann. »Formiert euch neu, und zieht euch zurück! Schneller, verdammt!«

Eine blättrige Hand legte sich auf Rhonins Mund, und er blickte wieder in das erstaunliche Pflanzengesicht. Hinter sich spürte er, wie Hände seine Beine packten und ihnen einen heftigen Schubs versetzten, der den Magier nach vorne dem Waldboden entgegen schickte.

Der Panther bemerkte dies und brüllte. Mehr der kleinen Strauchgestalten wimmelten um die Bestie herum und versetzten sie in Angst. Während die Welt um Rhonin herum durcheinanderwirbelte, fiel sein Blick auf Varo’then, der sich auf seinem Reittier umdrehte, um zu schauen, was hinter ihm vor sich ging. Der Elf mit dem brutalen Gesicht fluchte, als er erkannte, dass man versuchte, ihm die Gefangenen zu stehlen. Doch bevor er eine Hand heben konnte, um die Pflanzenkreaturen aufzuhalten, griffen weitere Zweige nach ihm, wickelten sich um Arme und Gesicht des Hauptmanns und machten ihn blind.

Die Buschwesen fingen Rhonin auf, bevor er Gefahr lief, mit dem Kopf voran auf den Boden zu schlagen. Schweigend packten sie ihn wie einen Rammbock und trugen ihn in den dichten Wald. Rhonin hoffte, dass auch Krasus befreit worden war, aber er konnte nichts erkennen außer der blättrigen Gestalt direkt vor ihm. Trotz ihrer geringen Größe waren diese Wesen offenbar sehr stark.

Dann schnitt ihnen zur Bestürzung des Zauberers ein einzelner Nachtelf auf einem fauchenden Panther den Weg ab. Der Zauberer erkannte den Soldaten, den man Koltharius nannte. Der Elf trug einen verzweifelten Ausdruck auf seinem Gesicht, als wäre Rhonins Entkommen das Schlimmste, was ihm passieren könnte. Und nach dem Wenigen, was der Magier von dem brutalen Hauptmann mitbekommen hatte, zweifelte er auch nicht daran, dass dies tatsächlich der Fall war.

Ohne ein einziges Wort zu verschwenden, drängte der Nachtelf sein Tier vorwärts. Die Elfen, die Rhonin kannte – vor allem seine eigene geliebte Vereesa –, waren Wesen, die der Natur den allergrößten Respekt entgegenbrachten. Aber Koltharius’ Volk schien sich kein bisschen um die Bewohner des Waldes zu scheren. Die Klinge des Nachtelfen hieb mit ungezügelter Wut auf die Äste und Sträucher ein, die ihm den Weg versperrten. Nichts würde ihn von seiner Beute abhalten.

So zumindest glaubte er wohl. Riesige, schwarze Vögel ließen sich plötzlich aus den Baumkronen auf ihn herab fallen, umflatterten den Nachtelf und hackten unbarmherzig nach seinen silbernen Augen. Koltharius schlug wütend um sich, aber er trennte nicht eine einzige Schwanzfeder von einem seiner geflügelten Angreifer.

Dermaßen abgelenkt war der Soldat von diesem letzten Angriff, dass er nicht bemerkte, wie sich eine weitere Gefahr aus der Erde erhob. Die Bäume, durch die er hindurch musste, erhoben sich um mehr als zwei Fuß, als würden sie ihre Wurzeln strecken.

Koltharius’ von den Vögeln fast in den Wahnsinn getriebenes Reittier achtete nicht auf den Weg.

Zuerst kam die flinke Katze leicht aus dem Gleichgewicht, dann stolperte sie, als ihre Krallen sich mehr und mehr in den Wurzeln verstrickten. Ein schmerzhaftes Jaulen entrang sich ihrer Kehle, als sie zur Seite stürzte. Ihr Reiter versuchte, sich festzuhalten, doch damit verschlimmerte er nur seine Lage.

Der riesige Panther wand sich, und Koltharius geriet zwischen die Katze und zwei riesige Baumstämme, die den Nachtelf erbarmungslos zerquetschten. Seine Rüstung zerknüllte wie Papier unter der gewaltigen Kraft. Dem Panther erging es unter dem Angriff der Wurzeln, die sich um seinen Hals schlangen, wenig besser, und mit einem trockenen Knacklaut brach sein Genick.

Rhonins Retter liefen weiter, als sei nichts geschehen. Noch ein paar weitere Minuten lang hörte der Zauberer den Kampf der Nachtelfen, aber dann verschwanden die Geräusche zuletzt in der Ferne, als habe Varo’then seiner geschlagenen Truppe schließlich den Rückzug befohlen.

Weiter und weiter trugen ihn die kleinen Kreaturen. Er bemerkte eine Bewegung zu seiner Rechten und erkannte etwas, das die bewegungslose Gestalt des Drachenmagiers zu sein schien. Offenbar wurde er in der gleichen Weise getragen wie Rhonin.

Was mochten ihre Retter mit ihnen vorhaben? Hatte man sie den Händen der Nachtelfen entrissen, um sie einem vielleicht noch schrecklicheren Schicksal zuzuführen?

Die Waldgeister wurden langsamer und kamen schließlich am Rande einer Lichtung zum Halt. Obwohl dies aufgrund des niedrigen Sonnenstandes eigentlich hätte unmöglich sein sollen, erhellten die zarten Ausläufer des Tageslichts bereits den Bereich. Unsichtbare Singvögel zwitscherten fröhlich. Myriaden von Blumen in hundert Farben blühten in üppiger Fülle, und hohes Gras wiegte sanft im Wind, als wolle es den Neuankömmlingen lockend zuwinken.

Wieder rückte ein Gesicht aus Blättern in sein Blickfeld. Die Lücke des Mundes weitete sich zu einem breiten Lachen, und zu seiner Überraschung erkannte Rhonin eine kleine, vollkommen weiße Blume, die darin blühte.

Eine Pollenwolke schoss vor und legte sich auf Nase und Mund des Menschen.

Rhonin hustete. Sein Blick verschwamm. Er fühlte, wie die Geschöpfe sich wieder bewegten und ihn ins Sonnenlicht trugen. Doch bevor ein einziger Strahl sein Gesicht berühren konnte, verlor der Zauberer das Bewusstsein.


Rhonin hatte es nicht bemerkt, aber Krasus war während der meisten Zeit nicht bewusstlos gewesen. Schwach, ja, fast bereit, sich der Finsternis zu überlassen, durchaus – aber der Drachenmagier hatte gegen die körperliche und mentale Schwäche angekämpft, und mochte er auch nicht gesiegt haben, so hatte er doch auch keine Niederlage erlitten.

Krasus hatte die buschähnlichen Beobachter ebenfalls bemerkt und sofort als Diener des Waldes erkannt. Mit Sinnen, die noch immer sensibler waren als die seines menschlichen Gefährten, hatte Krasus begriffen, dass die Nachtelfen mit Absicht an diesen Ort gelenkt worden waren. Irgendeine Macht wollte etwas von den Soldaten, und es bedurfte keiner allzu großen logischen Anstrengung, um anzunehmen, dass es sich dabei um ihn und Rhonin handelte.

Und so hatte sich der Drachenmagier während des gesamten Kampfes vollkommen still verhalten. Er hatte sich gezwungen, nichts zu tun, als der Trupp angegriffen wurde und die Kreaturen des Waldes ihn und Rhonin unter den Augen der Elfen mit sich nahmen. Krasus spürte keine Bosheit in ihren Befreiern, aber das bedeutete nicht, dass dem Paar kein späterer Schaden erwachsen konnte. Während der gesamten Reise durch den Wald war der Drachenmagier im Geheimen wachsam geblieben und hatte sich der Hoffnung hingegeben, dieses Mal eine größere Hilfe sein zu können als bei der letzten Auseinandersetzung.

Aber als sie die sonnenbeschienene Lichtung erreicht hatten, zeigte sich, dass er sich verkalkuliert hatte. Das Buschgesicht war zu schnell erschienen, hatte ihn zu unerwartet angehaucht. Wie Rhonin verlor auch Krasus das Bewusstsein.

Aber anders als Rhonin schlief er nur wenige Minuten.

Als er erwachte, fand er zu seiner allergrößten Verblüffung einen kleinen, roten Vogel, der auf seinem Knie hockte. Dieser freundliche Anblick überraschte den Drachenmagier so sehr, dass er aufkeuchte. Der winzige Vogel flog erschreckt auf und verschwand in den Zweigen über dem Magier.

Mit großer Vorsicht studierte Krasus seine Umgebung. Allem Anschein nach lagen er und Rhonin in der Mitte einer mystischen Lichtung, einem Bereich starker Magie, der mindestens so alt war wie die Drachen. Dass die Sonne so hell schien, dass die Blumen, das Gras und die Vögel einen solchen Frieden ausstrahlten, war kein Zufall. Dies war das persönliche Allerheiligste eines Wesens, das Krasus eigentlich hätte kennen müssen – und doch wollte ihm nicht einfallen, wer es sein mochte.

Und das war ein Problem, über das er seinem Kameraden nicht alles gesagt hatte. In Krasus’ Erinnerung klafften gigantische Lücken. Er hatte die Nachtelfen als das erkannt, was sie waren, doch andere Dinge, viele von ihnen vollkommen banal, waren verschwunden. Wenn er versuchte, sich auf sie zu konzentrieren, fand der Drachenmagier nichts als Leere. Er war so schwach im Geiste geworden wie er es auch in seinem Körper war.

Aber warum? Warum hatten seine Fähigkeiten so viel stärker gelitten als die von Rhonin? Mochte der Mensch auch ein Magier von beeindruckenden Fähigkeiten sein, so war er doch immer noch ein leicht verwundbarer Sterblicher. Wenn irgendjemand von ihrem wilden Flug durch Zeit und Raum schwer hätte geschwächt sein sollen, so hätte es eigentlich der Geringere der beiden Reisenden sein müssen.

In dem Augenblick, als er dies dachte, übermannte Krasus ein Gefühl der Schuld. Was auch immer der Grund dafür sein mochte, dass Rhonin das Chaos besser überstanden hatte, brachte es nur erbärmliche Schande über Krasus, wenn er sich wünschte, ihr Schicksal wäre vertauscht. Rhonin hatte sich bereits mehrmals beinahe für seinen früheren Mentor geopfert.

Trotz seiner großen Schwäche und des anhaltenden Schmerzes kam Krasus auf die Beine. Von den Geschöpfen, die sie hierher gebracht hatten, war nichts zu sehen. Wahrscheinlich waren sie wieder Teil des Waldes geworden und widmeten sich den Bedürfnissen ihrer grünen Welt, bis ihr Herr ihnen das nächste Mal eine besondere Aufgabe erteilte. Dass sie nur die Einfachsten der Waldwächter gewesen waren, darüber war sich Krasus vollkommen im Klaren. Die Nachtelfen stellten eine relativ armselige Bedrohung für den Wald dar.

Aber was wollte die Macht, die hier herrschte, von zwei verirrten Wanderern?

Rhonin schlief noch immer tief und fest, und wenn er an seine eigene Reaktion auf die Pollen dachte, dann rechnete Krasus nicht damit, dass er so bald wieder erwachen würde. Da keine offensichtliche Bedrohung in Sicht war, ließ er den Menschen schlafen und entschied sich, die Grenzen ihrer Freiheit auszuloten.

Das dichte Blumenfeld umgab das weiche, offene Gras wie einen Zaun, und es schien, als neige sich die gleiche Anzahl an Pflanzen nach innen wie nach außen. Krasus näherte sich den Blumen und beobachtete sie misstrauisch.

Als er bis auf einen Schritt an sie herangetreten war, wandten sie ihm die Köpfe zu und öffneten ihre Blätter ganz.

Sofort trat der Drachenmagier zurück … und die Blumen nahmen wieder ihr normale Erscheinung an. Eine Wand aus effektiven Wächtern. Er und Rhonin waren vor jeder Gefahr, die von außen kommen mochte, geschützt, während man sie gleichzeitig davon abhielt, dem Wald irgendwelchen Schaden zuzufügen.

In seiner gegenwärtigen Verfassung dachte Krasus nicht einmal darüber nach, über die Blumen hinweg zu springen. Zudem hatte er ohnehin den Verdacht, dass er, täte er dies, nur einen weiteren, versteckten Wächter wecken würde – und wahrscheinlich einen, der weniger zurückhaltend war.

Er sah nur eine Möglichkeit. Um seine Kräfte zu schonen, setzte er sich und kreuzte die Beine. Dann atmete Krasus tief ein, studierte die Lichtung ein letztes Mal … und sagte in die Luft hinein:

»Ich möchte mit Euch sprechen.«

Der Wind nahm seine Worte auf und trug sie in den Wald, wo sie mehrmals widerhallten. Die Vögel wurden still. Das Gras hörte auf, sich zu wiegen.

Dann kam der Wind zurück … und mit ihm eine Antwort.

»Und also werden wir sprechen.«

Krasus wartete. In der Ferne hörte er das leise Klappern von Hufen, als sei in diesem wichtigen Augenblick zufälligerweise ein Tier vorbei gekommen. Er runzelte die Stirn, als das Klappern lauter wurde, näher kam. Dann bemerkte er eine schattenhafte Gestalt, die aus dem Wald trat. Ein Reiter mit einem gehörnten Helm auf einem monströsen Pferd?

Doch dann, als die Erscheinung sich den Blumenwächtern näherte und das Licht der Sonne sie ganz erfasste, konnte der Drache in sterblicher Gestalt nur mit offenem Mund starren – wie ein staunendes Menschenkind. Es war ein imposanter Anblick.

»Ich kenne Euch …«, begann Krasus. »Ich kenne Euch …«

Doch der Name, wie so viele andere Erinnerungen, wollte sich ihm nicht offenbaren. Er konnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob er diesem mythischen Wesen schon einmal begegnet war, und das sagte viel über das Ausmaß der Lücken in seinem Geist aus.

»Ich kenne Euch nicht«, sprach die hoch aufragende Gestalt, deren Rumpf einem Nachtelfen glich, während die untere Hälfte die eines Hirsches war. »Aber ich muss sagen, Ihr habt meine Neugier geweckt …«

Auf vier starken Beinen schritt das majestätische Geschöpf durch die Mauer der Blumen, die ihm den Weg frei machten, wie treue Hunde es für ihren Herrn getan hätten. Einige der Blüten und Gräser streichelten sogar sanft und liebevoll seine Beine.

»Ich bin Cenarius …«, stellte er sich der um einiges schmächtigeren Gestalt vor, die vor ihm saß. »Dies ist mein Reich.«

Cenarius … Cenarius … Fetzen von Erinnerungen flatterten wie Lumpen im Wind durch Krasus’ angegriffenen Geist. Ein paar schlugen Wurzeln, doch die meisten lösten sich einfach in Nichts auf. Cenarius. Von dem die Elfen und anderen Waldbewohner erzählten. Kein Gott, aber … fast. Also ein Halbgott. Auf seine eigene Art so stark wie die Großen Aspekte.

Allein, da war mehr, noch so viel mehr. Doch, so sehr er sich auch anstrengte, der Drachenmagier bekam nichts davon zu fassen.

Seine Bemühungen mussten sich auf seinem Gesicht abzeichnen, denn Cenarius’ strenge Züge wurden etwas freundlicher. »Es geht Euch nicht gut, Reisender. Vielleicht solltet Ihr noch ein wenig länger ausruhen.«

»Nein.« Krasus zwang sich auf die Beine und stand hoch und aufrecht vor dem Halbgott. »Nein … ich möchte jetzt sprechen.«

»Wie Ihr wünscht.« Die Gottheit mit dem riesigen Geweih legte ihren bärtigen Kopf auf die Seite und studierte den Gast. »Ihr seid mehr als Ihr zu sein scheint, Reisender. Ich erkenne Spuren von Nachtelf in Euch, doch da ist noch mehr, viel mehr. Ihr erinnert mich fast an … aber nein, das ist nicht sehr wahrscheinlich.« Die riesige Gestalt zeigte auf Rhonin. »Und er dort ist anders als jedes Geschöpf, das man innerhalb und außerhalb meines Reiches antrifft.«

»Wir kommen von weit her und haben uns, um ehrlich zu sein, verirrt, großer Cenarius. Wir wissen nicht, wo wir sind.«

Zur Überraschung des Magiers rief dieser Satz ein tiefes, donnerndes Lachen in der gewaltigen Brust des Halbgottes hervor. Cenarius’ Heiterkeit brachte noch mehr Blumen zum Erblühen, rief Singvögel in die Zweige der Bäume, die die Lichtung umstanden, und beschwor eine weiche Frühlingsbrise, die Krasus’ Wange streichelte wie eine Geliebte.

»Dann habt Ihr Euch tatsächlich mächtig verlaufen! Wo könntet Ihr wohl sein, mein Freund? Wo sonst könntet Ihr sein als in Kalimdor

Kalimdor. Das zumindest machte Sinn. Wo sonst würde man Nachtelfen in solcher Anzahl antreffen? Aber die Erklärung des Waldherren beantwortete nur ein paar wenige von Krasus’ vielen Fragen. »So nahm ich es auch an, hoher Herr, doch –«

»Ich spürte eine beunruhigende Veränderung in der Welt«, unterbrach ihn Cenarius. »Ein Ungleichgewicht, eine Verschiebung, eine … Falschheit. Ich suchte ihren Ursprung auf … und obwohl ich keine Antworten auf meine Fragen fand … so fand ich dort eine Spur, die mich zu Euch und Eurem Begleiter führte.« Er trat ein weiteres Mal an Krasus vorbei, um den schlafenden Rhonin zu mustern. »Zwei Wanderer von Nirgendwo. Zwei verlorene Seelen aus dem Nichts. Zwei Rätsel, von denen mir lieber wäre, es hätte sie niemals gegeben.«

»Und doch habt Ihr uns aus der Gefangenschaft befreit …«

Der Waldherr gab ein Schnauben von sich, das des stärksten Hirsches würdig gewesen wäre. »Die Nachtelfen werden immer arroganter. Sie nehmen sich, was ihnen nicht gehört. Sie gehen dort hin, wo man sie nicht haben will. Sie glauben, dass alles unter ihre Herrschaft fällt. Obwohl sie nicht wirklich in mein Reich eingedrungen waren, entschied ich mich, sie hierher zu locken, um ihnen eine Lektion in Sachen Demut und Manieren zu erteilen.« Er lächelte grimmig. »Und sie machten es mir einfacher, indem sie das, was ich wünschte, direkt hierher brachten.«

Krasus fühlte, wie seine Beine unter ihm nachgeben wollten. Die Anstrengung des Stehens erwies sich als enorm. Doch er war entschlossen, seiner Schwäche nicht nachzugeben. »Auch sie schienen unsere plötzliche Ankunft bemerkt zu haben.«

»Zin-Azshari mangelt es nicht an eigener Magie. Schließlich liegt die Stadt direkt am Quell.«

Der Drachenmagier schwankte, doch dieses Mal nicht vor Schwäche. Cenarius hatte zwei Worte ausgesprochen, die abgründige Furcht in Krasus’ Herz weckten.

»Zin… Zin-Azshari?«

»Ja, Sterblicher! Die Hauptstadt der Nachtelfen, die an den Ufern des Quells der Ewigkeit liegt! Wisst Ihr nicht einmal das?«

Krasus ließ sich zu Boden sinken, und es kümmerte ihn nicht, dass er dem Halbgott damit seinen Zustand verriet. Er hockte im Gras und versuchte, die schwindelerregende Wahrheit zu begreifen.

Zin-Azshari.

Die Quelle der Ewigkeit.

Er kannte diese Namen, so lückenhaft seine Erinnerung auch geworden sein mochte. Manche Legenden waren von solch epischer Größe, dass man Krasus’ Geist vollkommen hätte auslöschen müssen, damit er sie hätte vergessen können.

Zin-Azshari und die Quelle der Ewigkeit.

Der erste Name: das Zentrum eines Imperiums der Zauberei, eines Reiches, das von den Nachtelfen regiert wurde. Wie dumm war er gewesen, dass er dies nicht schon während ihrer Gefangennahme erkannt hatte. Zin-Azshari war über viele Jahrhunderte hinweg das Zentrum der Welt gewesen.

Der zweite Name: die Quelle der Ewigkeit. Ein Ort der puren Magie, das unendlich tiefe Reservoir der Macht, von dem die Magier und Zauberer zu allen Zeiten nur in ehrfürchtigem Flüsterton sprachen. Der Quell war das Zentrum der magischen Kräfte der Nachtelfen gewesen und hatte ihnen erlaubt, Zauber zu weben, die selbst den Drachen Respekt einflößten.

Doch beide lagen in der Vergangenheit … weit in der Vergangenheit. Weder Zin-Azshari, noch der wundersame und mächtige Quell existierten in der Gegenwart. Sie waren vor langer, langer Zeit in einer Katastrophe untergegangen, die … die …

Und hier versagte Krasus’ Gedächtnis wieder. Etwas Schreckliches war geschehen, das beide vernichtet, das die ganze Welt in Stücke gerissen hatte … doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht erinnern, was es gewesen war.

»Ihr habt Euch noch nicht ganz erholt«, sagte Cenarius, und Sorge klang in seiner Stimme. »Ihr solltet Euch weiter ausruhen.«

Noch immer um seine Erinnerung kämpfend, antwortete der Magier: »Es geht … mir bestimmt wieder besser, wenn mein Freund erwacht. Wir … wir werden sobald wie möglich weiterziehen und Euch nicht länger zur Last fallen.«

Die Gottheit runzelte die Stirn. »Kleiner Mann, Ihr missversteht. Ihr seid mir sowohl ein Rätsel als auch ein Gast … und so lange Ihr das Erstere seid, werdet Ihr auch das Letztere bleiben.« Cenarius wandte sich um und schritt auf die wachsamen Blumen zu. »Ich glaube, Ihr benötigt Speise. Ihr werdet sie bald erhalten. Bis dahin ruht Euch aus.«

Cenarius wartete nicht ab, dass Krasus protestierte, aber der Drachenmagier hatte dies auch gar nicht vor. Wenn ein Wesen wie der Waldgott darauf bestand, dass sie blieben, wusste Krasus, dass es unmöglich war, ihn umzustimmen. Er und Rhonin waren Gäste, solange Cenarius dies wünschte … und bei einem Halbgott konnte das bedeuten, für den Rest ihres Lebens.

Doch das bereitete Krasus weniger Sorgen als der Gedanke, dass dieses Leben möglicherweise sehr kurz währen würde.

Zin-Azshari und der Quell waren durch eine monströse Katastrophe zerstört worden … und je mehr der Drachenmagier darüber nachdachte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass sich diese Katastrophe mit raschen Schritten und unaufhaltsam näherte.


»Ich warne dich, ich liebe Überraschungen, aber von dieser hier erwarte ich, dass sie mich verzückt

Xavius lächelte nur, als er die Königin an der Hand in die Kammer führte, in der die Hochgeborenen arbeiteten. Er war mit aller Liebenswürdigkeit, die er aufbringen konnte, zu ihr gekommen und hatte sie höflich gebeten, sich ihm anzuschließen, um zu sehen, was seine Zauberer erreicht hatten. Der Berater wusste, dass Azshara als Wiedergutmachung für diese Störung eine ganz erstaunliche Überraschung verlangte, und sie würde nicht enttäuscht werden … selbst wenn es etwas anderes sein würde, als die Herrscherin der Nachtelfen erwartete.

Die Wachleute knieten nieder, als sie eintraten. Obwohl sie die gleichen steinernen Gesichtszüge wie sonst darboten, waren auch sie – wie Xavius – berührt worden. Jeder in der Kammer verstand, worum es ging, nur Azshara nicht.

Doch auch sie würde gleich ihre Offenbarung erleben.

Die Königin betrachtete den wirbelnden Mahlstrom innerhalb des Musters, und ihre Stimme troff vor Enttäuschung. »Es sieht genauso aus wie immer.«

»Ihr müsst es genauer betrachten, Licht der tausend Monde. Dann werdet Ihr verstehen, was wir erreicht haben …«

Azshara fürchte die Stirn. Sie hatte auf seine Bitte hin ihre Begleiterinnen zurückgelassen, und vielleicht bereute sie dies nun. Trotzdem war Azshara die Königin, und es geziemte sich für sie zu zeigen, dass sie – auch wenn sie allein war – jede Situation durch ihre bloße Gegenwart beherrschte.

Mit eleganten Schritten trat Azshara bis fast an den Rand des Musters heran. Sie begutachtete zuerst die Arbeit des Hochgeborenen, der gerade an dem Zauber wob, dann ließ sie sich dazu herab, einen Blick in das Inferno selbst zu werfen.

»Es scheint mir immer noch unverändert, liebster Xavius. Ich hatte mehr von dir erwart …«

Ein Keuchen entrang sich Azsharas Kehle, und obwohl ihr Gesicht von Xavius abgewandt war, wusste er, das sich jähes Begreifen auf ihren Zügen abzeichnete.

Und die Stimme, die zuerst zu ihm gesprochen hatte, die Stimme seines Gottes, erklärte so, dass alle es hören konnten:

Ich komme …

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