Malfurion hatte geglaubt, Lord Xavius austricksen zu können – stattdessen aber war der Nachtelf ein weiteres Mal ausgetrickst worden. Wieso hatte er geglaubt, der Berater würde ihn weiter die Treppen hinab jagen, wo es doch offenkundig war, dass Malfurion zurück in den Turm wollte, um seine Mission zu vollenden?
Es würde sein letzter Fehler gewesen sein. Lord Xavius war ein äußerst fähiger Zauberer, der sich die Macht der Quelle zunutze machen konnte. Malfurion hatte einiges von seinem Shan’do gelernt, aber, wie es schien, nicht genug, um gegen einen solch tödlichen Feind bestehen zu können.
Lord Xavius wusste das sehr genau.
Doch plötzlich hörte Malfurion eine Stimme in seinem Kopf – nicht die aus dem Portal, sondern die des mysteriösen Krasus. Malfurion war die ganze Zeit davon ausgegangen, der andere habe ihn längst wieder verlassen.
Malfurion … unsere Stärke ist deine Stärke … Wie bereits im Kristall musst du dich auf die Liebe und Freundschaft derer besinnen, die dich kennen … und Kraft aus der Entschlossenheit von solchen wie mir ziehen, die gemeinsam mit ihnen für dich streiten.
Nicht alles, was er hörte, ergab für den Nachtelfen einen Sinn, aber die Grundaussage war klar: Er spürte jetzt nicht nur Tyrande und Krasus, sondern auch Brox. Alle drei öffneten ihren Geist und ihre Seelen für Malfurion, liehen ihm die Stärke, die er so nötig hatte.
Du bist ein Druide, Malfurion, vielleicht der Erste deiner Art. Du ziehst deine Kraft aus der Welt, der Natur … und sind wir nicht ein Teil von beidem? Zieh also deine Kraft auch aus uns …
Malfurion gehorchte – und das gerade noch rechtzeitig.
Lord Xavius schleuderte seinen Zauber. Es sollten nur noch ein paar Fetzen von Malfurions Geistkörper übrigbleiben.
Der jüngere Nachtelf hob seine Hand, um den brutalen Angriff abzuwehren, glaubte aber nicht wirklich, dass seine verstärkten Kräfte dafür ausreichten. Der letzte Angriff des Beraters hatte ihn zu sehr geschwächt.
Doch der Zauber erreichte nie sein Ziel. Der Angriff wurde so mühelos abgewehrt, als hätte Malfurion nach einer Fliege geschlagen.
Erhebe dich!, drängte Krasus. Erhebe dich und tue, was getan werden muss!
Damit meinte er nicht, dass Malfurion sich auf einen Kampf mit dem Berater einlassen sollte. Das wäre nur gefährliche Zeitverschwendung gewesen. Nein, der Nachtelf sollte zu Ende bringen, was er bereits begonnen hatte.
Malfurion griff den Schildzauber an.
Das Diagramm verschob sich. Zwei Hochgeborene eilten herbei, um es wiederherzustellen, doch der Boden unter ihren Füßen verschwand plötzlich. Malfurion hatte die Steine stumm darum gebeten, ihre Stärke und ihren natürlichen Drang, Dinge zusammenzuhalten, für einen Moment zu vergessen. Schreiend fielen die beiden Nachtelfen ins Bodenlose.
Lord Xavius griff Malfurion wütend an, hüllte ihn in einen Nebel, der sich um seinen Geistkörper legte und versuchte, ihn zu zersetzen. Malfurion bemühte sich, dagegen anzukämpfen und zog seine Kraft erneut aus der gebündelten Stärke von Tyrande, Krasus und Brox. Rasch rief er einen Wind herbei, der den Nebel auseinander trieb.
Während sich Malfurion noch mit dem Nebel beschäftigte, nutzte Xavius die Gelegenheit, um ein wenig Ordnung in den Schildzauber zurückzubringen. Dann wandte er sich wieder seinem Gegner zu. Er hatte nur noch ein Ziel im Blick.
Malfurion war enttäuscht. Das konnte nicht ewig so weitergehen. Irgendwann würde er entweder verlieren oder fliehen. Etwas musste sich ändern, und zwar schnell!
Er drehte sich um, aber nicht zum Diagramm oder zu Lord Xavius hin, sondern zum Portal.
Erneut rief er den Wind. Dieses Mal bat er ihn jedoch, seine wahre Stärke zu beweisen und nicht nur einfachen Nebel zu vertreiben. Malfurion warf einen Blick auf die Hochgeborenen und forderte den Wind heraus, seine wahre Macht zu demonstrieren.
Und die Zauberer standen plötzlich in einem Sturm. Drei von ihnen wurden durch den Raum geschleudert und prallten hart gegen die Wand. Noch während sie fielen, taumelte ein anderer zurück und stolperte über einen der reglosen Körper.
Die anderen krümmten sich, versuchten der brutalen Kraft des Winds zu entgehen. Es fiel keiner mehr dem wütenden Sturm zum Opfer, aber die erlittenen Verluste waren ein schwerer Schlag für die Überlebenden. Das Portal begann zu flackern und zu erzittern. Das Gefühl des Bösen, das Malfurion die ganze Zeit über gespürt hatte, schwächte ab.
Brennende Hände griffen plötzlich von hinten nach seinem Hals und begannen ihn zu würgen. Sie brannten sich in Malfurions Geistkörper, als wäre es wahrhaftiges – sein eigenes! – Fleisch. Er stieß einen furchtbaren Schrei aus, den nur der Angreifer hören konnte.
»Die Macht des Erhabenen ist mit mir!«, brüllte der Berater der Königin triumphierend. »Gegen uns beide kannst du nicht bestehen!«
Malfurion spürte, wie neuerlich das Böse aus dem instabilen Portal kroch. Es war zwar noch immer nicht so mächtig wie vorhin, als es versucht hatte, ihn auf die Seite der Hochgeborenen zu ziehen. Aber es unterstützte den ohnedies schon mächtigen Berater. Dagegen kam selbst die Kraft, die Malfurion von den dreien in seinem Geist erhielt, nicht an.
Tyrande … Er wollte die Priesterin nicht rufen, fürchtete aber, dass er sie nie wieder sehen, ihr nie wieder nah sein würde.
Wiederum erfüllte Krasus’ Stimme seinen Geist. Sei mutig, Druide … ein anderer hat genau auf diesen Moment gewartet.
Eine vierte Präsenz tauchte auf und schloss sich sofort mit den anderen zusammen. Malfurion spürte die Schwäche des Neuankömmlings, aber verglichen mit den Kräften seines eigenen Volks war sie vernachlässigbar. Seltsamerweise fühlte sich die neue Präsenz so vertraut an, als sei sie Krasus’ Zwilling. Es fiel Malfurion in den ersten Momenten schwer, sie voneinander zu unterscheiden.
Sogar die Stimme in seinem Kopf erinnerte ihn an Krasus. Ich bin Korialstrasz … und ich gebe gerne, was ich besitze.
Sie alle gaben das, womit das Leben, die Natur sie ausgestattet hatte. Korialstrasz’ Erscheinen verstärkte Malfurions Kraft hundertfach und schenkte ihm eine Hoffnung, wie er sie noch nicht gespürt hatte.
Du bist ein Druide … Krasus erinnerte ihn erneut daran. Die Welt gibt dir Kraft.
Malfurion fühlte sich euphorisch. Jetzt spürte er nicht nur seine weit entfernten Begleiter, sondern auch die Steine, den Wind, die Wolken, die Bäume … einfach alles. Malfurion wurde beinahe überwältigt vom Zorn, den die Welt nun ausstrahlte. Das Böse, das die Hochgeborenen und die Dämonen gesät hatten, beleidigte die Elemente wie nichts anderes je zuvor.
Ich habe euch versprochen, ich würde tun, was ich kann, sagte er zu ihnen. Wenn ihr mir eure Stärke ebenfalls leiht, wird dies auch geschehen!
Für Malfurion schien eine Ewigkeit zu vergehen, aber als sein Blick wieder zu Lord Xavius zurückkehrte, erkannte er, dass nur ein Lidschlag vergangen war. Der Berater stand da wie eingefroren. Aber sein Gesichtsausdruck änderte sich langsam, als er sich gemeinsam mit seinem Herrn darauf vorbereitete, seinen Gegner, den Geist, endgültig zu vernichten.
Malfurion lächelte über die Dummheit des anderen Nachtelfen. Er hob seine Hände zum verborgenen Himmel und beschwor seine Macht.
Draußen donnerte es. Die Hochgeborenen rings um Portal und Diagramm wankten erneut, erkannten, dass das, was sich entfaltete, nicht Teil ihres Zaubers war. Sogar Lord Xavius zuckte zusammen.
Dann, plötzlich, erbebte der Palastturm und … wurde auseinander gerissen.
Hauptmann Varo’then kniete vor Azshara. Sein Helm klemmte unter seinem Arm. »Ihr habt mich gerufen, meine glorreiche Königin?«
Zwei Dienerinnen kämmten Azsharas seidiges Haar. Sie taten dies mehrmals täglich, damit es weich und vollkommen blieb. Während sie diese Aufgabe verrichteten, genoss Azshara die exotischen Düfte, die Händler ihr kürzlich gebracht hatten.
»Ja, Hauptmann. Ich habe mich gefragt, was das für ein Lärm ist, den man von oben hört. Es klingt, als käme er aus dem Turm. Gibt es Probleme, über die man mich nicht informiert hat?«
Der Nachtelf straffte die Schultern. »Keine, von denen ich wüsste, Licht der tausend Monde. Vielleicht sind es die Vorbereitungen für Sargeras’ Ankunft.«
»Glaubt Ihr?« Ihre Augen leuchteten. »Wie wundervoll!« Sie scheuchte ihn mit einer Geste davon. »In diesem Fall sollte ich mich vorbereiten! Wir werden sicherlich ein wunderschönes Ereignis erleben.«
»Wie Ihr meint, Ruhm unseres Volkes. Wie Ihr meint.« Der Hauptmann erhob sich und setzte seinen Helm auf. »Soll ich, um sicher zu gehen, nachsehen?«
»Nein, ich bin sicher, dass Ihr Recht habt. Stört bloß Lord Xavius nicht.« Azshara roch an einem anderen Gefäß. Es gefiel ihr, wie der daraus entsteigende Duft ihr Blut in Wallung versetzte. Vielleicht würde sie diesen für ihr Zusammentreffen mit dem Gott wählen. »Mein geschätzter Berater hat schon alles im Griff …«
Die obere Hälfte der Turmkammer existierte nicht mehr. Die Blitze, die der Himmel schickte, hatten sie fortgerissen und sie mitsamt des Daches in die dunkle Quelle stürzen lassen.
Einige große Steine waren in den Raum gefallen, hatten zwei Hochgeborene getötet und den Rest auseinander getrieben. Das Schilddiagramm und das Portal standen noch – aber beides war stark geschwächt worden.
Heulende Winde rissen an den Wesen im Innern. Ein Zauberer, der durch die Explosion ans Ende des Raumes geschleudert worden war, versuchte aufzustehen. Der Wind verfing sich in seiner Robe und drückte ihn nach hinten. Kreischend folgte er dem bereits vorausgeeilten Teil des Turmes hinab in die Tiefe.
Starker Regen prasselte auf die Überlebenden. Die Hochgeborenen sanken auf die Knie und versuchten verzweifelt, ihren Zauber aufrecht zu erhalten. Der Sturm war jedoch so stark, dass es ihnen kaum gelang, gegen ihn anzukommen.
Nur zwei Gestalten wurden von den Elementen nicht berührt. Die eine war Malfurion, der in seinem Geistkörper immun gegen Wind und Regen war. Die andere war Lord Xavius, der nicht nur von der Macht, die er aus der Quelle zog, beschützt wurde, sondern auch von dem Bösen aus dem dunklen Portal.
»Beeindruckend!«, rief der Berater. »Letzten Endes jedoch sinnlos, mein junger Freund! Du kannst deine Kraft nur aus dem Quell ziehen … während ich über die Macht eines Gottes gebiete!«
Seine Bemerkungen riefen bei Malfurion Genugtuung hervor. Der Lord-Berater hatte keine Ahnung, gegen was er gerade kämpfte. Er glaubte, lediglich einem talentierten Zauberer gegenüberzustehen.
»Nein, Milord«, rief der junge Nachtelf zurück. »Ihr irrt Euch. Für Euch gibt es nur die Macht der Quelle und die angebliche Stärke eines Dämons, der behauptet, ein Gott zu sein! Ich hingegen … nun, die Macht der Welt ist mein Verbündeter!«
Xavius musterte ihn herablassend. »Ich habe keine Zeit mehr für dein Gefasel …«
Malfurion spürte, wie er mehr Kraft als jemals zuvor aus der Quelle erhielt. Für einen Moment fürchtete sich der Druide, aber dann beruhigte ihn seine eigene Stärke.
»Ihr müsst aufgehalten werden«, erklärte er dem Berater. »Du und das Ding, dem du dienst, ihr müsst aufgehalten werden!«
Malfurion würde nie erfahren, welchen Zauber Lord Xavius wirken wollte. Der Berater vollendete ihn nicht, denn die Elemente selbst griffen ihn nun an. Blitze bohrten sich immer wieder in Xavius, verbrannten ihn von innen und außen. Seine Haut wurde schwarz und platzte auf. Aber er stand immer noch.
Der Regen wurde zur Sintflut und stürzte auf Malfurions Gegner herab. Xavius’ Gestalt begann vor den Augen des jungen Nachtelfen zu zerlaufen. Fleisch und Muskeln rutschten von seinen Knochen – und dennoch versuchte der Berater noch immer, nach ihm zu greifen.
Dann donnerte es so laut, dass der Turm erneut erschüttert wurde und ein weiterer Hochgeborener in die dunklen Wasser der Quelle stürzte.
Malfurion spürte, wie selbst er zu zittern begann.
So laut war der Donner, dass Lord Xavius, Berater der Königin und Höchster aller Hochgeborenen … zerbarst.
Er heulte wie eine höllische Feibestie, bevor er explodierte. Das Heulen setzte sich sogar noch fort, als seine Teile sich bereits in der Luft verstreuten. Die Staubwolke, in der sich die Überreste des Beraters befanden, wurde von einem wütenden Wind empor geschleudert.
Jetzt verließen auch die letzten Hochgeborenen ihre Posten. Sie flohen vor dem Zorn des Gegners, der gerade ihren gefürchteten Anführer getötet hatte. Malfurion ließ sie ziehen, denn er wusste, dass er, obwohl über alle Maßen erschöpft, noch eine letzte wichtige Aufgabe erfüllen musste.
Lord Xavius konnte das Schilddiagramm nicht länger schützen, und schon wenig später brach es zusammen. Eine einfache Geste des jungen Druiden entfernte den Zauber des Bösen und erhöhte die Chance auf ein Überleben seines Volkes. Er hoffte nur, dass es noch nicht zu spät war.
Schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit dem Portal zu.
Es war nur noch ein Abglanz dessen, was es noch kurz zuvor dargestellt hatte, nur mehr ein kleines Loch in der Wirklichkeit. Malfurion starrte es an. Ihm war klar, dass er die Welt nicht auf ewig vor dem Bösen darin beschützen konnte … aber wenigstens eine Atempause wollte er ihr verschaffen.
Du zögerst das Unvermeidliche nur hinaus, hörte er die gefürchtete Stimme. Ich werde deine Welt verschlingen – wie so viele vor ihr …
»Wir werden dir sauer aufstoßen«, gab Malfurion grimmig zurück.
Ein weiteres Mal entfesselte er die Elemente.
Der Regen beseitigte das Muster, über dem das Tor schwebte. Blitze trafen ins Innere des Loches und zwangen das Böse darin, sich weiter zurückzuziehen. Der Wind umtoste den geschwächten Zauber mit der Intensität eines Wirbelsturms.
Und die Erde … die Erde erbebte und zerstörte das letzte Fundament des hohen Turms.
Da Malfurion keine körperliche Gestalt besaß, hatte er von dem einstürzenden Gebäude nichts zu fürchten. Trotz seiner zunehmenden Erschöpfung beobachtete er den Einsturz genau, achtete darauf, dass nichts, aber auch gar nichts übrig blieb.
Der Boden neigte sich. Werkzeuge der dunklen Magie und Steine des Gemäuers rutschten ans untere Ende. Ein schweres Ächzen begleitete den Untergang.
Der Turm fiel.
Gleichzeitig stürzte auch das Portal in sich zusammen, schrumpfte rasch.
Malfurion wurde überrascht, als er plötzlich darauf zu gezogen wurde. Er spürte, wie sein Geistkörper von einer starken Macht gepackt und in Richtung der schwindenden Öffnung gerissen wurde.
Du gehörst mir … hörte er eine ferne, Hass triefende Stimme.
Der Nachtelf kämpfte, drängte seinen Körper weiter weg von dem Riss. Staub wurde durch ihn hindurch ins Innere des schwindenden Portals gerissen. Trümmer folgten.
Der Kraftaufwand wurde immer unerträglicher. Näher und näher rutschte der Geist des Nachtelfs dem alles verschlingenden Moloch entgegen …
Malfurion!, rief Tyrande. Malfurion!
Er hielt sich an ihrer Stimme fest, als wäre es ein Seil. Unter ihm fielen die Reste des Turms in den dunklen Abgrund der Quelle der Ewigkeit. Nur Malfurion und das bösartige, kleine Loch blieben zurück.
Tyrande!, antwortete er stumm. Er schloss die Augen und versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen, zu ihr zu gelangen.
Und eine Stimme, die er nicht zuordnen konnte, sagte: Ich habe dich!
Die Welt stand auf dem Kopf.
Mannoroth spürte den Verlust. Mannoroth spürte die Leere, noch bevor es begann.
Der riesige, monströse Kommandant stoppte am hinteren Ende seiner Horde und wandte sein hässliches Gesicht dem Turm zu.
Einem Turm, der nicht mehr existierte.
»Neeeeeeiiiiiiiiinnnn!«
Rhonin spürte es. Er spürte den plötzlichen Anstieg der Kräfte, die Euphorie der Macht. Er glaubte, er könnte Welten erbauen, die Sterne vom Himmel holen oder sie nach seinem Wunsch neu im Firmament ordnen. Er war unüberwindbar und allmächtig.
Der Zauber, der die Quelle der Ewigkeit blockiert hatte, existierte nicht mehr.
Sofort blickte er zu Illidan, wollte wissen, ob der junge Nachtelf Vergleichbares spürte. Rhonin hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn Illidan erlebte offensichtlich auch einen Kraftschub. Tatsächlich wirkte nicht nur die Mondgarde neu erstarkt, sondern die gesamte Armee.
Die Quelle und die Nachtelfen sind eins, erkannte der Magier. Selbst die, die keine Zauber woben, waren irgendwie mit ihm verbunden. Sie hatten nicht begriffen, was sie verloren, als sie von ihm getrennt wurden. Jetzt bemerkte Rhonin bei jedem Einzelnen – angefangen bei Lord Ravencrest bis hin zum niedrigsten Soldaten – neue Zuversicht und Entschlossenheit. Sie glaubten, niemand könne sie schlagen.
Nicht einmal die Brennende Legion.
Krieger stießen in Hörner. Die Nachtelfen brachen in einen gemeinsamen Kampfschrei aus, der dem der Dämonen in nichts nachstand. Die vordersten Reihen der Legion gerieten ins Stocken. Sie waren unsicher, was diese jähe Veränderung zu bedeuten haben mochte.
»Schlagt los!«, brüllte Lord Ravencrest.
Die Verteidiger stürmten vor. Die Dämonen gerieten unvermittelt in arge Bedrängnis. Feibestien wurden abgeschlachtet, bevor sie in die Sicherheit der Horde zurückfanden. Stoßzahn bewehrte Krieger sanken zu Boden, als die Klingen der Nachtelfen ihre Ziele fanden. Der Vormarsch der Legion geriet ins Stocken.
Illidan führte die Mondgarde gegen die Angreifer, leitete sie mit seinen Zaubern. Der Boden begann unter den Füßen der Brennenden Legion zu beben, warf Dämonen umher, als seien sie nichts. Einige der geflügelten Wächter der Verdammnis gingen in Flammen auf, als sie sich in die Lüfte schwangen. Sie wurden zu brennenden Geschossen, die zum Chaos in ihren eigenen Rängen beitrugen.
Rhonin stürzte sich ebenfalls in die Schlacht. Er dachte an all die, die an diesem Tag gestorben waren und all die, die im weiteren Verlauf des Krieges noch sterben würden. Dann griff er die Verantwortlichen an. Ein Eredar-Kriegszauberer, der dumm genug war, sich ihm zu stellen, wurde von seiner eigenen Robe umschlungen und zerquetscht. Dann schoss der Zauberer einige blaue Lichtblitze ab, die systematisch die anderen Kriegszauberer verfolgten und von den ehemaligen Feinden nur Asche übrig ließen.
Zum ersten Mal brach echter Tumult unter den gefürchteten Kriegern aus. Das war nicht die erwartete Schlacht, das erwartete Blutbad. Hier gab es nichts zu gewinnen außer dem eigenen Tod, eine Aussicht, die selbst den Dämonen Angst einflößte.
Ihre Linien lösten sich auf. Die Nachtelfen stießen weiter vor.
»Wir haben sie!«, brüllte Lord Ravencrest. »Lasst sie nicht entkommen!«
Die Verteidiger nahmen seinen Ruf auf. Trotz der gewaltigen Größe der Angreifer, marschierten sie ihnen nun angstfrei entgegen.
Rhonin und Illidan bereiteten den Weg für den Sieg. Der Zauberer sah auf und bemerkte drei Infernale, die sich auf die Verteidiger stürzen wollten. Wie immer rollten sich die Dämonen zu Feuerbällen zusammen, um wie Kanonenkugeln zwischen ihren Gegnern einzuschlagen.
Dieses Mal brachte Rhonin eine von Illidans Taktiken zum Einsatz. Mit der Kraft, die er aus der Quelle zog, baute er eine große goldene Barriere am Himmel auf, der die Infernalen nicht entgehen konnten. Die Barriere war jedoch mehr als nur eine Wand, denn Rhonin beabsichtigte etwas anderes. Er formte sie nach seinen Vorstellungen und ließ die Dämonen von der Barriere zurückprallen und in jene Richtung fliegen, die er sich wünschte.
Zurück zwischen ihre eigenen Krieger.
Selbst die Lichtblitze, die er gerade erschaffen hatte, richteten weit weniger Schaden an als die gezielt zurückgeschleuderten Infernalen. Mehr als zwei Dutzend von ihnen schlugen an unterschiedlichen Punkten der Legion auf und rissen gewaltige rauchende Krater. Die Körper der Feinde flogen überall durch die Luft, krachten in andere hinein und erhöhten so die Verluste auf das Zehnfache.
Irgendwo von der Seite her hörte der Zauberer triumphierendes Lachen. Illidan applaudierte dem Menschen und wies auf den zurückgeworfenen Feind.
An der linken Flanke der Brennenden Legion sackte ein Teil der Armee plötzlich ab. Der Boden unter ihnen war so nachgiebig wie eine Flüssigkeit geworden, und die schweren gepanzerten Soldaten sanken hilflos unter die Oberfläche. Einige kämpften noch ums Überleben, aber schließlich gingen alle unter, die das Pech hatten, in Illidans Zauber zu geraten.
Mit einer Geste härtete der junge Nachtelf den Boden wieder und tilgte jede Spur seiner Feinde. Dann wandte er sich Rhonin zu und verneigte sich theatralisch.
Rhonin blickte ernst zurück und nickte. Man konnte sagen, was man wollte, aber Illidan brachte vollen Einsatz gegen die Dämonen.
Schließlich tat die Brennende Legion das Einzige, was sie unter einem solch brutalen Ansturm noch tun konnte: Sie setzte zum Rückzug an.
Kein Horn wurde geblasen, keine Rufe gellten. Die Dämonen wichen einfach zurück. Sie erhielten zumindest einen Hauch von Ordnung aufrecht, aber mehr konnten ihre Kommandanten nicht mehr erreichen. Trotzdem bewegten sie sich nicht schnell genug für die Verteidiger, die den Schwung ihres Sieges nutzten.
Vor allem die Mondgarde genoss die unerwartete Wendung. Sie konzentrierte sich auf die Feibestien, verwandelte einige in knorrige Bäume und andere in Ratten. Einige gingen einfach in Flammen auf, als sie mit eingezogenen Schwänzen versuchten, die fragwürdige Sicherheit der Legion zu erreichen.
Hier und da bildete sich Widerstand, wurde von den entschlossenen Soldaten jedoch rasch niedergerungen. Überall lagen Feibestien. Rhonin war überzeugt, dass jeder Nachtelf an die zahllosen Toten dachte, die die Brennende Legion hinterlassen hatte. Viele hatten Freunde und Verwandte unter den Opfern von Zin-Azshari zu beklagen.
Allerdings störte es den Zauberer, in wessen Namen die Soldaten immer noch kämpften. Selbst jetzt rief Ravencrest ihren Namen, um die Truppen weiter zu motivieren.
»Für Azshara! Für die Königin! Wir reiten zu ihrer Rettung!«
Rhonin kannte Malfurions Verdacht, die Königin betreffend. Die meisten anderen glaubten, dass nur ihr Berater und die Hochgeborenen Schuld an dem Massaker trugen. Der Zauberer tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Wahrheit herauskommen würde, sobald sie den Palast erreichten.
Immer weiter zog sich die Brennende Legion zurück, erreichte bereits die Grenzen der zerstörten Hauptstadt. Ihre Krieger starben durch Klingen, sie starben durch Zauber – ganz gleich, sie starben. Ohne Unterbrechung wogte die Schlacht in der Dunkelheit, bis der Boden unter den Leichen der Gefallenen nicht mehr zu sehen war.
Vielleicht wäre es so weitergegangen, vielleicht hätten sie den Kampf nach Zin-Azshari und bis zum Palast getragen, aber als der Tag die Nacht verdrängte, wurden auch die Verteidiger müde. Sie hatten alles gegeben, was sie zu leisten vermochten, und Lord Ravencrest erkannte, dass er sie nur unter großen Risiken noch länger antreiben konnte. Er zögerte – dann gab er das Signal zur Waffenruhe.
Als Illidan Hörnerschall hörte, reagierte er verärgert. Er wollte die Mondgarde dazu bringen, ihm zu folgen, aber obwohl einige dazu bereit schienen, waren doch alle zu erschöpft.
Rhonin war ebenfalls fast am Ende seiner Kräfte. Er konnte zwar noch immer zerstörerische Zauber wirken, aber sein Körper war schweißgebadet, und in seinem Kopf drehte sich alles, wenn er sich zu schnell bewegte. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren.
Abgesehen von Illidan wussten alle Nachtelfen, dass sie im Tageslicht nicht weiterkämpfen konnten. Doch was sie erreicht hatten, vermochte ihnen niemand mehr zu nehmen. Die Bedrohung war zwar noch nicht völlig ausgelöscht, aber sie wussten jetzt, dass die Dämonen Schwächen hatten. Man konnte sie töten. Man konnte sie zurückwerfen.
Der Kommandant suchte nach Freiwilligen, die mit zwei Aufträgen durch das Reich der Nachtelfen reiten sollten. Zum einen sollten sie mit einer größeren Armee zurückkehren, denn die Verteidiger rechneten mit einem erneuten Angriff der Brennenden Legion. Zum anderen sollten sie sich ein Bild der Verwüstungen machen.
Zusätzlich übertrug der Adlige seinem persönlichen Zauberer – Illidan – das Kommando über die Mondgarde. Es gab einige schwache Proteste seitens der älteren Zauberer, aber der junge Nachtelf brachte seine Kritiker zum Schweigen, als er mit einer lässigen Geste einen Feuerball mitten unter den fliehenden Dämonen explodieren ließ.
Illidan war so glücklich über seine Beförderung, dass er sofort Rhonin davon erzählte. Der Zauberer nickte höflich. Auf der einen Seite fragte er sich, ob er in Jugendjahren ebenso enthusiastisch gewesen war, zum anderen machte er sich Sorgen, wie diese Beförderung sich auf Illidans Persönlichkeit auswirken würde. Illidans Potenzial war größer als alles, was er bisher gezeigt hatte, aber seine Selbstüberschätzung konnte zu einer Falle werden, so tödlich wie die Brennende Legion. Rhonin nahm sich vor, auf den Nachtelf aufzupassen.
Als er schließlich allein war, betrachtete der einzige Mensch unter den Nachtelfen die Streitmacht, die man gegen die Dämonen aufgeboten hatte. Im Sonnenlicht glitzerten die Rüstungen der Soldaten und ließ sie beinahe mythisch wirken. Sie sahen aus und benahmen sich, als könnten sie jeden Feind schlagen. Trotzdem wusste Rhonin, dass sie eine weit größere Armee benötigten, um den letzten Kampf zu gewinnen. Die Geschichte sprach von einem Sieg, aber zu viele Faktoren – zu denen auch er gehörte – beeinflussten inzwischen den Ausgang der Schlacht. Schlimmer noch, die Brennende Legion kannte nun die magische Macht, der sie gegenüber stand. Sie würde sich stärker auf den Zauberer und Illidan konzentrieren.
In seiner eigenen Zeit war Rhonin das Ziel von Dämonen und deren Verbündeten gewesen. Er sehnte sich nicht danach, diese Erfahrung hier erneut zu machen.
Und was war mit dem, der die wahre Verantwortung für den Erfolg dieser Nacht trug? Nicht Rhonin. Nicht Illidan. Nicht die Mondgarde oder Lord Ravencrest mit seinen Truppen. Nein, sie alle waren nicht der wahre Garant des Sieges.
Was … fragte sich der erschöpfte Zauberer, als er auf das dunkle Zin-Azshari und die demoralisierte Horde blickte. Was ist bloß mit Malfurion geschehen?