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Er fühlte das langsame, stete Wachsen der Blätter, Zweige und Wurzeln. Er fühlte die zeitlose Weisheit, die ewigen Gedanken im Innern der Bäume. Jeder Gigant hatte seinen eigenen, einzigartigen Charakter, so ausgeprägt wie bei jedem Individuum.

Sie sind die Wächter des Waldes, erklang die Stimme seines Mentors. Sie sind genauso sehr seine Seele, wie ich es bin. Sie sind der Wald. Eine Pause. Und jetzt … komm zu uns zurück

Der Geist von Malfurion Stormrage zog sich respektvoll aus den riesigen Bäumen zurück, den ältesten des Waldlandes. Während er sie verließ, kehrten die Gefühle seines eigenen Körpers langsam zurück, wenn auch zunächst nur schwach. Er blinzelte zweimal mit seinen silbernen, pupillenlosen Augen, und sein Blick wurde wieder klar. Sein Atem ging rasselnd und keuchend, aber sein Herz schwoll vor Stolz. Noch nie zuvor hatte er so weit ausgeholt!

»Du hast gut gelernt junger Nachtelf«, rumpelte eine Stimme, die wie die eines Bären klang. »Besser als selbst ich es erwartet hatte …«

Schweiß lief Malfurions Gesicht herab. Sein Mentor hatte darauf bestanden, dass er diesen monumentalen Schritt seiner Lehre am helllichten Tage versuchte, dann also, wenn die Kraft seines Volkes am schwächsten war. Wäre es zur Nacht gewesen, dessen war sich Malfurion sicher, wäre er stärker gewesen. Aber wie Cenarius gesagt hatte: Das war nicht Sinn der Sache. Was sein Mentor ihn lehrte, war nicht die Zauberei der Nachtelfen, sondern fast ihr genaues Gegenteil.

Und in so vielerlei Hinsicht war Malfurion bereits das genaue Gegenteil seines Volkes geworden. Trotz der Neigung der Nachtelfen zu extravaganter, prächtiger Garderobe war Malfurions Kleidung überaus zurückhaltend gewählt: ein Stoffhemd, ein einfaches Wams, eine Hose aus Leder, kniehohe Stiefel … Wären seine Eltern nicht schon vor vielen Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen, sie wären in der Zwischenzeit gewiss aus Scham über ihren Sohn gestorben.

Sein schulterlanges, dunkelgrünes Haar umrahmte ein schmales Gesicht, das an einen Wolf erinnerte. Malfurion war zu einer Art Ausgestoßenem unter seinen eigenen Leuten geworden. Er stellte Fragen, erklärte, dass alte Traditionen nicht unbedingt die besten seien, und meinte sogar einmal, dass der von allen geliebten Königin Azshara die Sorgen ihrer Untertanen vielleicht nicht immer vorrangig am Herzen lagen. Seine Äußerungen und sein Verhalten hatten ihm viele verächtliche Blicke, aber nur wenige Freunde eingetragen.

Tatsächlich hätte Malfurion, hätte man ihn danach gefragt, nur drei wirkliche Freunde benennen können. Zunächst einmal wäre da sein eigener Zwillingsbruder gewesen, der ebenso rebellische Illidan. Obwohl Illidan sich den Traditionen und der Zauberei der Nachtelfen nicht in der Weise verweigerte wie Malfurion, neigte auch er dazu, die Autorität der Älteren in Frage zu stellen – was kein wesentlich geringeres Vergehen war.

»Was hast du gesehen?«, fragte Illidan eifrig. Er saß neben Malfurion im Gras und hätte seinem Bruder zum Verwechseln ähnlich gesehen, wären nicht das mitternachtsblaue Haar und die bernsteinfarbenen Augen gewesen. Als Kinder des Mondes hatten fast alle Elfen silberne Augen. Jene wenigen Ausnahmen, die mit Augen wie Bernstein geboren wurden, betrachtete man als zu großen Taten bestimmt.

Doch falls Illidan tatsächlich einmal große Taten vollbringen wollte, musste er zunächst einmal lernen, Temperament und Ungeduld zu zügeln. Er war mit seinem Zwillingsbruder gekommen, um den neuen Weg zu studieren, der die Kräfte der Natur benutzte – ihr Mentor nannte ihn den »Pfad des Druiden« – und hatte geglaubt, er werde sich als gelehriger Schüler erweisen. Stattdessen verwob er Zauber oft falsch und konzentrierte sich selten genug, um seine Trance ausreichend lange aufrechtzuerhalten. Dass er ziemlich geschickt war, was traditionelle Zauberei betraf, befriedigte Illidan nicht. Er hatte den Pfad des Druiden erlernen wollen, weil solch einzigartige Fähigkeiten ihn in den Augen seines Volkes zu etwas wahrhaft Besonderem gemacht hätten. Vielleicht hätte er sich damit endlich dem Potenzial angenähert, von dem man seit seiner Geburt sprach.

»Ich sah …«, begann Malfurion und stockte. Wie sollte er es seinem Bruder erklären? Malfurion legte die Stirn kraus. »Ich sah in die Herzen der Bäume, ihre Seelen. Und auch nicht einfach ihre Seelen. Ich sah … Ich glaube, ich sah in die Seele des gesamten Waldes!«

»Wie wundervoll!«, rief eine weibliche Stimme neben ihm.

Malfurion versuchte zu verhindern, dass seine Wangen sich ins Schwarze verdunkelten, der Art wie Nachtelfen erröteten. In letzter Zeit fühlte er sich in Gegenwart seiner anderen Begleitung beständig unbehaglicher … und doch konnte er sich auch nicht vorstellen, zu weit von ihr entfernt zu sein.

Mit den Brüdern war Tyrande Whisperwind gekommen, ihre beste Freundin seit früher Kindheit. Die drei waren zusammen aufgewachsen und unzertrennlich in jeder Hinsicht gewesen, bis Tyrande vergangenes Jahr die Gewänder einer Novizin im Tempel der Mondgöttin Elune angelegt hatte. Dort lernte sie, den Geist der Göttin in sich zu erwecken und die Fähigkeiten zu nutzen, die allen Priesterinnen verliehen wurden, damit sie das Wort ihrer Herrin verbreiten konnten. Sie war es gewesen, die Malfurion zu seiner Entscheidung ermutigt hatte, als er darüber nachdachte, sich von der Zauberei der Nachtelfen ab- und einer anderen, irdischeren Macht zuzuwenden. Tyrande erkannte im Pfad des Druiden eine Lehre, die den Lehren ihrer eigenen Gottheit verwandt war.

Doch aus dem mageren, blassen Mädchen, das die beiden Brüder mehr als einmal beim Rennen und bei der Jagd geschlagen hatte, war, seit Tyrande sich dem Tempel angeschlossen hatte, eine schlanke, doch wohl gerundete Schönheit geworden, deren glatte Haut jetzt in einem weichen, hellen Violett schimmerte, während ihr dunkelblaues Haar von Silber durchzogen war. Das scheue Gesicht war voller, weiblicher und überaus anziehend geworden.

Vielleicht sogar zu betörend.

»Hmpf!«, kommentierte Illidan, nicht sonderlich beeindruckt. »War das alles

»Es war ein Anfang – ein akzeptabler Anfang«, kam es dunkel aus dem Mund ihres Lehrers. Sein riesiger Schatten fiel über die drei jungen Nachtelfen und brachte sogar Illidans sonst so zügelloses Mundwerk zum Schweigen.

Obwohl sie selbst alle mehr als sieben Fuß groß waren, wirkte das Trio vor Cenarius wie eine Versammlung von Zwergen, denn ihr Lehrer maß weit über zehn Fuß. Sein Oberkörper erinnerte an den eines Nachtelfs, obwohl ein Hauch des smaragdgrünen Waldes seine dunkle Haut färbte und er eine viel breitere und muskulösere Statur aufwies als seine beiden männlichen Schüler. Aber jenseits des Oberkörpers endete jede Ähnlichkeit. Cenarius war kein einfacher Nachtelf. Er war nicht einmal sterblich.

Cenarius war ein Halbgott.

Seine Ursprünge kannte nur er selbst, aber er war ebenso ein Teil des großen Waldes, wie dieser ein Teil von ihm. Als die ersten Nachtelfen aufgetaucht waren, hatte Cenarius bereits lange hier gelebt. Er behauptete, mit ihnen verwandt zu sein, doch hatte er niemals erklärt, in welcher Weise.

Die Wenigen, die zu ihm kamen, um von ihm zu lernen, verließen ihn stets berührt, sogar verändert. Andere verließen ihn überhaupt nicht und wurden so von seinen Lehren verwandelt, dass sie sich entschieden, ihr eigenes Volk zu verlassen und sich stattdessen dem Halbgott zum Schutze seines Reiches anzuschließen. Sie waren nicht länger Elfen, sondern Waldwächter, deren Leiber für immer umgeformt waren.

Eine dicke, moosgrüne Mähne floss von seinem Kopf herab, während Cenarius seine Schüler mit freundlichen Augen aus purem Gold betrachtete. Er klopfte Malfurion sanft mit Händen auf die Schulter, die in Krallen aus knorrigem, altem Holz endeten – Klauen, die in der Lage waren, einen Nachtelf mühelos in Stücke zu reißen. Dann trat Cenarius zurück … auf seinen vier Beinen.

Der Oberkörper des Halbgottes mochte dem eines Nachtelfen gleichen, aber die untere Hälfte war die eines riesigen, prächtigen Hirsches. Cenarius bewegte sich so flink und behände wie jeder der drei anderen. Er hatte die Geschwindigkeit des Windes, die Stärke der Bäume. In ihm spiegelte sich das Leben und die Vitalität des Landes. Er war zugleich sein Kind und sein Vater.

Und wie ein Hirsch trug auch er ein Geweih – riesige, großartige Sprossen, die Schatten auf sein gestrenges, aber auch väterliches Gesicht warfen, das von einem langen, dichten Bart umrahmt wurde. Das Geweih erinnerte daran, dass jede Blutsverwandtschaft zwischen Halbgott und Nachtelf weit, weit in der Vergangenheit liegen musste.

»Ihr habt eure Sache alle gut gemacht«, fügte er mit einer Stimme hinzu, die stets wie ferner Donner klang. Blätter und Zweige, die buchstäblich seinem Bart entsprossen, brachten das Haar der Gottheit in Bewegung, wann immer sie sprach. »Geht jetzt. Bewegt euch wieder eine Zeit lang unter eurem eigenen Volk. Es wird euch gut tun.«

Alle drei erhoben sich, aber Malfurion zögerte. Er blickte seine Gefährten an und sagte: »Geht ihr voraus. Ich treffe euch am Ende des Pfades. Ich muss mit Cenarius sprechen.«

»Wir können warten«, meinte Tyrande.

»Das ist nicht nötig. Es wird nicht lange dauern.«

»Dann sollten wir ihn in Ruhe lassen«, warf Illidan schnell ein und fasste den Arm des Mädchens. »Komm, Tyrande.«

Sie warf Malfurion einen letzten, langen Blick zu, aber der Nachtelf drehte sich schnell um. Er wollte seine Gefühle verbergen. Er wartete, bis beide verschwunden waren, dann wandte er sich wieder dem Halbgott zu.

Die sinkende Sonne schuf Schatten im Wald, die zu Cenarius’ Unterhaltung zu tanzen schienen. Der Halbgott lächelte ihnen zu, den Bäumen und anderen Pflanzen, die sich im Gleichklang bewegten.

Malfurion sank auf ein Knie und wandte seinen Blick zur Erde. »Mein Shan’do«, begann er und sprach Cenarius mit dem Titel an, der in der alten Sprache »Geehrter Lehrer« bedeutete. »Vergebt mir meine Frage …«

»Du solltest dich vor mir nicht so unterwürfig benehmen, junger Elf. Steh auf …«

Der Nachtelf gehorchte zögernd, aber er hielt seinen Blick gesenkt.

Das brachte den Halbgott zum Kichern, ein Laut, der durch das plötzliche lebhafte Zwitschern von Singvögeln verstärkt wurde. Wann immer Cenarius sich regte, regte sich der Wald im Einklang mit ihm.

»Du erweist mir sogar noch mehr Ehre als jene, die behaupten, in meinem Namen zu beten. Dein Bruder verbeugt sich nicht vor mir, und trotz all ihres Respekts vor meiner Macht, unterwirft sich Tyrande Whisperwind nur Elune.«

»Ihr habt angeboten, mich zu lehren – uns zu lehren –, was kein Nachtelf jemals erlernt hat …« Er erinnerte sich noch immer an den Tag, als er sich dem heiligen Wald genähert hatte. Dutzende von Legenden berichteten von Cenarius, aber Malfurion hatte die Wahrheit erfahren wollen. Als er jedoch den Namen des Halbgottes rief, hatte er nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet.

Er hatte außerdem nicht erwartet, dass Cenarius sich anbieten würde, sein Lehrer zu werden.

Warum der Halbgott eine so banale Aufgabe annehmen sollte, ging über Malfurions Fassungsvermögen hinaus. Doch hier standen sie einander gegenüber. Sie waren mehr als Gottheit und Nachtelf, mehr als Lehrer und Schüler … sie waren auch Freunde.

»Kein anderer Nachtelf möchte wirklich meine Wege lernen«, antwortete Cenarius. »Selbst jene, die den Mantel des Waldes angelegt haben … Keiner von ihnen ist wahrlich dem Pfad gefolgt, den ich dir nun weise. Du bist der Erste mit der möglichen Begabung, dem möglichen Willen, um wahrhaft zu verstehen, wie man die Kräfte führt, die aller Natur innewohnen. Niemand hat je zuvor ein solches Potenzial bewiesen, junger Elf.«

Dies war es nicht gewesen, worüber Malfurion hatte sprechen wollen, und so trafen ihn die Wort vollkommen unvorbereitet. »Aber … aber Tyrande und Illidan …«

Der Halbgott schüttelte den Kopf. »Von Tyrande haben wir bereits geredet. Sie hat sich Elune versprochen, und ich werde nicht im Reich der Mondgöttin wildern! Was deinen Bruder betrifft, so kann ich nur sagen, dass Illidan ein vielversprechender junger Mann ist … aber ich glaube, seine Bestimmung liegt anderswo.«

»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll …« Und Malfurion wusste es wirklich nicht. So plötzlich zu erfahren, dass Illidan und er nicht dem selben Weg folgen würden, dass Illidan seine Anstrengungen hier sogar vergeudete … es war das erste Mal, dass die Zwillinge ihren Erfolg nicht teilen würden. »Nein! Illidan wird lernen! Er ist einfach nur eigensinniger! Er steht unter einem solchen Druck. Seine Augen –«

»Sind ein Zeichen zukünftiger großer Taten für die Welt, die er jedoch nicht vollbringen wird, indem er meinen Lehren folgt.« Cenarius schenkte Malfurion ein sanftes Lächeln. »Aber du wirst versuchen, ihn selbst zu lehren, nicht wahr? Vielleicht hast du da Erfolg, wo ich versagt habe.«

Die Wangen des Nachtelfs wurden dunkel. Natürlich konnte sein Shan’do seine Gedanken lesen. Ja, Malfurion hatte vor, alles in seiner Macht stehende zu tun, um Illidan voran zu bringen … und er wusste, dass dies eine schwierige Aufgabe werden würde. Von dem Halbgott zu lernen, war eine Sache, von Malfurion zu lernen, würde etwas ganz anderes sein. Es würde darauf hinauslaufen, dass Illidan nicht der Erste war, wohl aber der Zweite werden könnte.

»Aber jetzt zu dir«, fügte der Waldherr leise hinzu, während ein kleiner, roter Vogel auf seinem Geweih landete und sein bleicherer Gefährte sich auf einem Arm niederließ. Solche Dinge geschahen häufig in Cenarius’ Gegenwart, aber sie erfüllten den Elf immer wieder mit Erstaunen. »Du bist gekommen, um mich etwas zu fragen …«

»Ja. Großer Cenarius … ich werde von einem Traum geplagt, einem Traum, der immer wiederkehrt.«

Die goldenen Augen wurden schmaler. »Nur ein Traum? Das ist alles, was dir Sorgen macht?«

Malfurion schnitt eine Grimasse. Er hatte sich selbst bereits mehrmals gescholten, weil er auch nur daran gedacht hatte, den Halbgott mit seinem Problem zu belästigen. Wie viel Schaden konnte ein Traum schon anrichten, selbst einer, der sich ständig wiederholte? Jeder träumte. »Ja … er kommt jedes Mal zu mir, sobald ich schlafe, und seit ich bei Euch lerne … ist er stärker geworden, fordernder.«

Er erwartete, dass Cenarius ihn auslachen würde, doch stattdessen musterte der Herr des Waldes ihn genauer. Malfurion spürte, wie die goldenen Augen – die noch faszinierender waren als die seines Bruders – sich tief in ihn bohrten und den Nachtelf von innen und außen lasen.

Schließlich lehnte Cenarius sich zurück. Er nickte kurz, wie zu sich selbst, und sagte dann mit ernsterer Stimme: »Ja, ich glaube, du bist bereit.«

»Bereit? Wofür?«

Als Antwort hob Cenarius eine Hand. Der rote Vogel sprang herunter auf die ihm dargebotene Hand, und sein Gefährte schloss sich ihm dort an. Der Halbgott streichelte beiden einmal über den Rücken, flüsterte ihnen etwas zu und ließ das Paar dann davonflattern.

Cenarius blickte zu dem Nachtelf hinab. »Illidan und Tyrande werden informiert werden, dass du eine Zeit lang bei mir bleiben wirst. Man wird ihnen sagen, dass sie ohne dich gehen sollen.«

»Aber warum?«

In den goldenen Augen flackerte ein warmes Feuer auf. »Erzähl mir von deinem Traum.«

Malfurion schöpfte einen tiefen Atemzug und tat, wie ihm geheißen. Der Traum begann immer mit dem Quell der Ewigkeit. Zuerst waren seine Wasser ruhig, aber dann bildete sich in seinem Zentrum rasch ein Strudel … und aus seinen Tiefen brachen Kreaturen hervor, manche von ihnen harmlos, andere bösartig. Viele von ihnen erkannte Malfurion nicht einmal. Sie kamen von anderen Welten, aus anderen Zeiten. Sie breiteten sich nach allen Richtungen aus, enteilten seinem Blickfeld.

Plötzlich verschwand der Strudel, und Malfurion stand inmitten von Kalimdor … doch es war ein Kalimdor bar jeden Lebens. Etwas schrecklich Böses hatte das ganze Land verwüstet und nicht einmal einen einzigen Grashalm, nicht das winzigste Insekt zurückgelassen. Die einst stolzen Städte, die weiten, grünen Wälder … nichts war unversehrt geblieben.

Und was noch schrecklicher war: So weit das Auge reichte, lagen überall die verkohlten, zermalmten Knochen von Nachtelfen verstreut. Ihre Schädel waren eingeschlagen. Der Gestank des Todes lag bleiern in der Luft. Niemand, nicht einmal die Alten und Gebrechlichen, nicht einmal die Kinder waren verschont worden.

Dann griff eine Hitze Malfurion an, eine ganz fürchterliche Hitze. Er wandte sich um und erkannte in der Ferne ein gigantisches Feuer, ein Inferno, das sich bis in den Himmel erstreckte. Es verbrannte alles, was es berührte, sogar den Wind selbst. Wohin es sich auch wandte, es blieb nichts – absolut nichts! – zurück. Doch so Furcht erregend diese Szene auch war, es war nicht sie, die den Nachtelf schließlich in kalten Schweiß gebadet erwachen ließ, sondern vielmehr etwas, das er an diesem Feuer spürte.

Es lebte. Es wusste um das Grauen, das es schuf, wusste darum … und genoss es. Genoss es … und gierte nach mehr.

Aller Humor war aus Cenarius’ Gesichtszügen verschwunden, als Malfurion seinen Bericht beendet hatte. Sein Blick schweifte seinem geliebten Wald entgegen und den Geschöpfen, die darin wuchsen und gediehen. »Und dieser Alptraum wiederholt sich bei jedem Schlaf?«

»Bei jedem Schlaf. Ohne Ausnahme.«

»Dann fürchte ich, dass es ein Omen ist. Ich fühlte in dir seit unserer ersten Begegnung den Samen einer besonderen Begabung – es war einer der Gründe, warum ich mich dir zu Erkennen gab –, doch sie ist noch viel stärker ausgeprägt, als selbst ich es erwartet hatte.«

»Aber was bedeutet es?«, flehte der junge Nachtelf ihn um eine Antwort an. »Wenn Ihr sagt, dass es ein Omen ist, dann muss ich wissen, was es bedeutet.«

»Und wir werden versuchen, es herauszufinden. Ich sagte ja, dass du bereit bist.«

»Bereit wofür?«

Cenarius kreuzte die Arme vor seiner Brust. Der Ton seiner Stimme wurde schwerer. »Bereit, den Grünen Traum zu beschreiten.«

Der Halbgott hatte in seinen Lehren noch nie einen Grünen Traum erwähnt, aber die Art, in der Cenarius davon sprach, ließ Malfurion spüren, wie wichtig dieser nächste Schritt war. »Was ist das?«

»Was ist es nicht? Der Grüne Traum ist die Welt jenseits der wachen Welt. Er ist die Welt des Geistes, die Welt der Schläfer. Er ist die Welt, wie sie hätte sein können, wenn wir intelligenten Wesen nicht gekommen wären, um sie zu verderben. Im Grünen Traum kann jemand, der geübt genug ist, alles sehen, überall hingehen. Dein Körper wird in eine Starre versetzt, und deine Traumgestalt wird aus ihm entweichen, zu jedem Ort fliegen, den du besuchen musst.«

»Das klingt …«

»Gefährlich? Das ist es auch, junger Malfurion. Selbst jene, die gut trainiert sind, selbst die Erfahrenen können sich im Grünen Traum verlieren. Du wirst bemerkt haben, dass ich diese Welt den Grünen Traum nenne. Es ist die Farbe seiner Herrin Ysera, des Großen Aspekts. Der Grüne Traum ist das Reich, das ihr und ihrem Drachenschwarm gehört. Meine eigenen Dryaden und Wächter nutzen den Grünen Traum zur Erfüllung ihrer Pflichten – doch nur sehr selten.«

»Ich habe nie davon gehört«, gab Malfurion kopfschüttelnd zu.

»Wahrscheinlich weil keine Nachtelfen bis auf die, die in meinen Diensten stehen, jemals diese Pfade begangen haben … und auch jene nur, als sie nicht länger Mitglieder deines Volkes waren. Du würdest der Erste deiner Art sein, der diesen Weg beschreitet … so du es wünschst.«

Malfurion fand die Idee gleichermaßen beunruhigend wie verlockend. Dies würde der nächste Schritt seiner Studien sein und vielleicht eine Möglichkeit, seinem ständigen Alptraum einen Sinn zu entlocken. Doch Cenarius hatte klar gemacht, dass der Grüne Traum auch tödlich enden konnte.

»Was … könnte passieren? Was könnte schief gehen?«

»Selbst die Erfahrensten können sich auf dem Rückweg verirren, wenn sie abgelenkt werden«, antwortete der Halbgott. »Selbst ich. Du musst die ganze Zeit über deine Konzentration aufrechterhalten. Du musst dein Ziel kennen und darfst es niemals aus den Augen verlieren. Sonst … sonst könnte es sein, dass dein Leib auf ewig schlafen wird.«

Es gab noch mehr, spürte der Elf, aber Cenarius wollte aus irgendeinem Grund, dass er es selbst in Erfahrung brachte – falls Malfurion sich entschied, den Grünen Traum zu beschreiten.

Er kam zu dem Schluss, dass er gar keine Wahl hatte. »Wie fange ich es an?«

Cenarius berührte freundlich den Scheitel seines Schülers. »Du bist dir sicher?«

»Völlig.«

»Dann setze dich einfach nieder, wie du es bei deinen anderen Lektionen getan hast.« Nachdem Malfurion gehorcht hatte, ließ Cenarius seine vierbeinige Gestalt ebenfalls auf die Erde sinken. »Ich werde dich bei diesem ersten Mal führen. Danach musst du selbst den Weg finden. Sieh mir in die Augen, Nachtelf.«

Die goldenen Augen des Halbgottes fingen Malfurions Blick ein. Selbst wenn er es gewollt hätte, es hätte ihm eine unermessliche Anstrengung abverlangt, sich wieder davon zu lösen. Er fühlte, wie er in Cenarius’ Geist gezogen, wie er in eine Welt geführt wurde, in der alles möglich war.

Ein Gefühl der Leichtigkeit berührte Malfurion.

Fühlst du den Tanz der Steine, den Tanz des Windes, das Lachen des rauschenden Wassers?

Zuerst fühlte Malfurion nichts von alledem, aber dann hörte er das langsame, stete Mahlen, mit dem die Erde sich verschob, und er erkannte, dass dies die Weise war, in der die Steine und Felsen sprachen, während sie sich über Äonen hinweg von einem Punkt der Welt zu einem anderen bewegten.

Danach wurden auch die anderen Stimmen deutlicher. Jedes Element der Natur sprach in seinem eigenen, einzigartigen Tonfall. Der Wind wirbelte in fröhlichem Tanz umher, wenn er glücklich war, und begann, brutal zu treten und zu schlagen, sobald seine Stimmung sich verdüsterte. Die Bäume schüttelten ihre Kronen, und das vorstürmende Wasser eines nahe gelegenen Flusses gluckste vor Vergnügen, als die Fische in ihm zu laichen begannen.

Aber im Hintergrund … glaubte Malfurion einen beständigen Missklang zu spüren. Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht.

Du bist noch nicht im Grünen Traum. Zuerst musst du deine Hülle abstreifen, instruierte ihn die Stimme in seinem Kopf. Wenn du den Zustand des Schlafes erreichst, wirst du deinen Körper ablegen wie einen Mantel. Beginne mit deinem Herzen und mit deinem Verstand, denn sie sind die Ketten, die dich am stärksten an die Ebene der Sterblichkeit binden. Siehst du? So macht man es

Malfurion berührte sein Herz mit seinen Gedanken, öffnete es wie eine Tür und befreite seinen Geist. Er tat das Gleiche mit seinem Verstand, obwohl die irdische, praktische Seite jeder lebenden Kreatur gegen diese Tat protestierte.

Überlass’ dich deinem Unterbewusstsein. Lass dich von ihm leiten. Es kennt das Reich des Träumens und freut sich stets, dorthin zurückkehren zu können.

Während Malfurion gehorchte, fielen die letzten Barrieren von ihm ab. Er fühlte sich, als habe er sich gehäutet – so wie es eine Schlange tun würde. Ein Hochgefühl erfüllte ihn, und er vergaß beinahe, zu welchem Zweck er all dies tat.

Aber Cenarius hatte ihn gewarnt, stets auf sein Ziel konzentriert zu bleiben, und so rang der Nachtelf die Begeisterung nieder.

Jetzt … erhebe dich.

Malfurion stemmte sich empor …

… sein Körper jedoch, dessen Beine noch immer gekreuzt waren, blieb dort zurück, wo er saß. Seine Traumgestalt schwebte ein paar Fuß über dem Boden, frei von allen Fesseln. Malfurion wusste, dass er, wenn er es gewünscht hätte, zu den Sternen selbst hätte aufsteigen können.

Aber der Grüne Traum war anderswo beheimatet. Wende dich ein weiteres Mal an dein Unterbewusstsein, trug ihm der Halbgott auf. Es wird dir den Weg weisen, denn er liegt im Inneren und nicht Draußen.

Und während er Cenarius’ Anweisungen folgte, sah der Nachtelf, wie sich die Welt um ihn herum weiter verwandelte. Ein Dunstschleier umgab alles. Bilder, eine endlose Folge von Bildern, überlappten einander, aber mit etwas Konzentration entdeckte Malfurion, dass er jedes von ihnen einzeln betrachten konnte. Er hörte ein mannigfaltiges Flüstern und erkannte, dass es die inneren Stimmen der Träumer auf der ganzen Welt waren.

Ab hier musst du den Weg allein beschreiten.

Er fühlte, wie seine Verbindung zu Cenarius fast verschwand. Um Malfurions Konzentration Willen war der Halbgott gezwungen, sich zurückzuziehen. Doch Cenarius blieb eine Präsenz, die bereit war, ihrem Schüler zu helfen, falls dies notwendig wurde.

Als Malfurion weiter vorwärts schwebte, verwandelte sich seine Welt in ein leuchtendes, kristallenes Grün. Der Dunstschleier wurde dichter, aber die flüsternden Stimmen waren nun besser zu verstehen. Eine Landschaft schien ihn leise zu rufen.

Er war zu einem Teil des Grünen Traums geworden.

Malfurion folgte seinen Instinkten und schwebte der fließenden, sich ständig verändernden Traumlandschaft entgegen, die sich vor ihm öffnete. Wie Cenarius gesagt hatte, war sie so, wie die Welt ausgesehen hätte, wenn die Nachtelfen und die anderen intelligenten Wesen sie niemals betreten hätten. Es lag eine Ruhe im Grünen Traum, die es verlockend erscheinen ließ, für immer hier zu bleiben, aber Malfurion weigerte sich, dieser Versuchung nachzugeben. Er musste die Wahrheit über seine Träume erfahren.

Zunächst hatte er nicht die geringste Ahnung, wohin sein Unterbewusstsein ihn trug. Er hoffte jedoch, es würde ihn zu den Antworten führen, die er suchte. Malfurion flog über das leere Paradies hinweg, und was er sah, erfüllte ihn mit Staunen.

Aber dann, inmitten seiner wundersamen Reise, fühlte er wieder, dass etwas nicht stimmte. Der leichte Missklang, den er zuvor gespürt hatte, wurde stärker. Malfurion versuchte, ihn zu ignorieren, aber er nagte an ihm wie eine hungrige Ratte. Schließlich wandte er ihm seine Geistgestalt zu, und plötzlich lag vor ihm ein riesiger, schwarzer See. Malfurion fürchte die Stirn. Er war sich sicher, dass er die unheimlichen Wassermassen irgendwoher kannte. Dunkle Wellen leckten über die Ufer des Gewässers, und eine Aura der Macht strahlte von seinem Zentrum aus.

Die Quelle der Ewigkeit.

Doch wenn dies tatsächlich der Quell war, wo war dann die Stadt? Malfurion blickte in der Traumlandschaft dorthin, wo er wusste, dass eigentlich die Hauptstadt hätte liegen müssen, und versuchte, ein Bild von ihr heraufzubeschwören. Er war aus einem bestimmten Grund hierher gekommen, und jetzt glaubte er, dass dieser Grund etwas mit der Stadt zu tun hatte. Schon für sich allein war die Quelle der Ewigkeit etwas Erstaunliches, aber er war nur das Energiezentrum. Der Missklang, den der Nachtelf spürte, ging von einem anderen Ort aus.

Er starrte auf die leere Welt und verlangte, ihre Realität zu sehen.

Und ohne Vorwarnung materialisierte sich Malfurions Traum-Ich über Zin-Azshari, der Hauptstadt der Nachtelfen. In der alten Sprache bedeutete Zin-Azshari »Der Ruhm der Azshara«.

Das Volk der Nachtelfen hatten seine Königin, als sie den Thron bestieg, so geliebt, dass es darauf bestanden hatte, ihr zu Ehren die Hauptstadt umzubenennen.

Malfurion dachte an seine Königin, als er plötzlich den Palast selbst erblickte, ein prächtiges Gebäude hinter einer hohen, gut bewachten Mauer. Er runzelte die Stirn, denn er kannte diesen Ort gut, war es doch die Wohnstatt seiner Königin. Obwohl er gelegentlich die Fehler erwähnt hatte, die er an ihr wahrzunehmen meinte, bewunderte Malfurion sie in Wirklichkeit viel mehr, als die Meisten dachten. Im Großen und Ganzen hatte sie viel Gutes für ihr Volk getan, auch wenn er manches Mal das Gefühl hatte, dass Azshara das Gefühl für die wahren Bedürfnisse der Ihren verlor. Wie viele andere Nachtelfen hegte auch er den Verdacht, dass viele Probleme im Land zum größten Teil auf die Hochgeborenen zurückgingen, die das Reich in Azsharas Namen verwalteten.

Das Gefühl der Falschheit wurde stärker, je näher er an den Palast heran schwebte. Malfurions Augen weiteten sich, als er den Grund erkannte. Mit der Beschwörung der Vision Zin-Azsharis hatte er auch ein unmittelbareres Bild des Quells hervor geholt. Der schwarze See brodelte nun wild, und etwas, das aussah wie monströse Bänder aus vielfarbiger Energie schoss aus seinen Tiefen hervor. Mächtige Magie wurde aus dem Quell gezogen und in den höchsten Turm des Palastes geleitet. Der einzige vorstellbare Zweck eines solchen Unterfangens war das Weben eines Zaubers von ungeheuerlichem Ausmaß.

Die dunklen Wasser jenseits des Palastes bewegten sich mit solcher Gewalt, dass es für Malfurion aussah, als kochten sie. Je dringlicher die Zauberer im Turm die Macht des Quells beschworen, desto schrecklicher entlud sich die Wut der Elemente. Über Malfurion schrie und blitzte der sturmgepeitschte Himmel. Einige der Gebäude am Ufer des Quells drohten, von den riesigen Wellen fortgewaschen zu werden.

Was tun sie da?, fragte sich Malfurion, der seine eigene Suche vergessen hatte. Warum fahren sie selbst in der Schwäche des Tages mit ihrem Werk fort?

Aber »Tag« war hier nur noch ein Wort. Verschwunden war die Sonne, die die Fähigkeiten der Nachtelfen dämpfte. Obwohl der Abend noch nicht gekommen war, war es schwarz wie die Nacht über Zin-Azshari … nein, sogar noch schwärzer. Dies war nicht natürlich und auf jeden Fall nicht sicher. Womit spielten die Zauberer im Turm nur herum?

Malfurion trieb über die Mauern hinweg, vorbei an Wachen mit steinernen Gesichtern, die seine Gegenwart ignorierten. Malfurion schwebte auf den Palast selbst zu, aber als er versuchte, in ihn einzudringen – in der festen Überzeugung, dass seine Traumgestalt problemlos durch etwas so Einfaches wie Stein dringen würde –, stieß der Nachtelf auf eine undurchdringliche Barriere.

Jemand hatte den Palast mit Schutzzaubern umschlossen, die so komplex waren, so stark, dass er sie nicht zu durchdringen vermochte. Das machte Malfurion nur noch neugieriger, noch entschlossener. Er schwenkte um das Gebäude herum und flog ein weiteres Mal auf den fraglichen Turm zu. Es musste einfach einen Weg in ihn hinein geben. Malfurion musste sehen, was für ein Wahnsinn darin geschah.

Mit einer Hand tastete er nach der Phalanx der Schutzzauber, suchte den Punkt, der sie alle miteinander verband, den Punkt, an dem sie auch gelöst werden konnten …

… und ein plötzlicher, unvorstellbarer Schmerz begrub Malfurion unter sich. Seine Traumgestalt litt still, kein Laut hätte auch ihre Agonie ausdrücken können. Das Bild des Palastes, das Bild Zin-Azsharis … alles verschwand. Malfurion fand sich in einer grünen Leere wieder, gefangen in einem Sturm aus reiner Magie. Die elementaren Kräfte drohten, seine Traumgestalt in tausend Stücke zu reißen und sie in alle Richtungen zu verstreuen.

Aber mitten in dem monströsen Tumult hörte er plötzlich den schwachen Ruf einer vertrauten Stimme.

Malfurion … mein Kind … komm zurück zu mir … Malfurion … du musst zurückkehren …

Vage erkannte der Nachtelf Cenarius’ als den verzweifelten Rufer. Er klammerte sich daran ihn wie ein Ertrinkender inmitten eines sturmgepeitschten Meeres an ein winziges Stück Treibholz. Malfurion fühlte, wie der Geist der Waldgottheit nach ihm tastete, um ihn in die richtige Richtung zu führen.

Der Schmerz ließ nach, doch Malfurion war über alle Maßen erschöpft. Ein Teil von ihm wollte einfach nur noch zwischen den Träumern treiben, seine Seele wollte nie wieder in sein Fleisch zurückkehren. Doch er erkannte, dass dies sein Ende bedeutet hätte, und so kämpfte er gegen den tödlichen Wunsch an.

Und während der Schmerz schwand, während Cenarius’ Berührung stärker wurde, fühlte Malfurion wieder seine eigene Verbindung mit seinem sterblichen Leib. Er folgte dem Band eifrig, bewegte sich schneller und schneller durch den Grünen Traum …

Mit einem Keuchen erwachte der junge Nachtelf. Unfähig sich aufrecht zu halten, fiel er ins Gras. Starke und zugleich sanfte Hände brachten ihn wieder in eine sitzende Position. Wasser tropfte in seinen Mund.

Er öffnete die Augen und blickte in Cenarius’ besorgtes Gesicht. Der Waldgott hielt Malfurions Wasserschlauch.

»Du hast getan, was nur Wenigen anderen gelungen wäre«, murmelte sein Mentor. »Und indem du es tatest, hättest du dich beinahe selbst für immer verloren. Was ist mit dir geschehen, Malfurion? Du bist sogar aus meinem Blick entschwunden …«

»Ich … ich spürte … etwas Schreckliches …«

»Die Ursache deiner Alpträume?«

Der Nachtelf schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß nicht … Ich … ich fand mich von Zin-Azshari angezogen …« Er versuchte zu beschreiben, was er gesehen hatte, aber Worte schienen ihm nicht in der Lage zu sein, die Vision zu beschreiben.

Cenarius sah sogar noch verstörter aus als er selbst, was großes Unbehagen in Malfurion weckte. »Dies lässt nichts Gutes ahnen … nein«, schüttelte der Waldgott den Kopf. »Du bist dir sicher, das es der Palast war? Dass es Azshara und ihre Hochgeborenen gewesen sein müssen?«

»Ich weiß nicht, ob sie oder ihre Diener – oder sie mit ihren Dienern … aber ich kann mir nicht helfen: Ich habe das Gefühl, dass die Königin daran beteiligt ist. Azshara hat einen zu starken Willen. Sogar Xavius kann sie nicht kontrollieren … glaube ich.« Der Berater der Königin war eine rätselhafte Gestalt, der das Volk ebenso sehr misstraute, wie es Azshara liebte.

»Du musst genau über das nachdenken, was du sagst, junger Malfurion. Du deutest an, dass die Herrscherin der Nachtelfen – sie, deren Name jeden Tag in Liedern gepriesen wird – an einem Zauber beteiligt ist, der nicht nur für ihr Volk zu einer Bedrohung werden könnte, sondern für die ganze Welt. Begreifst du, was das bedeutet?«

Das Bild von Zin-Azshari vermischte sich mit der Szene der Verwüstung … und Malfurion fand, dass beide miteinander vereinbar war. Sie mochten nicht direkt verbunden sein, aber sie teilten etwas miteinander.

Doch was dies war, wusste er noch nicht.

»Mir ist nur eines klar«, murmelte er und erinnerte sich an das perfekte, wunderschöne Gesicht seiner Königin und an den Applaus, der selbst den Kürzesten ihrer Auftritte begleitete. »Ich muss die Wahrheit herausfinden, wohin auch immer mich diese Wahrheit führen mag … und selbst wenn sie mich am Ende mein Leben kostet.«


Die schattenhafte Gestalt berührte mit ihrer Kralle die kleine, goldene Kugel, die sie in ihrer anderen, von Schuppen bedeckten Hand hielt und erweckte sie zum Leben. Im Rund erschien ein zweiter, fast identischer Schatten. Das Licht der Sphäre vermochte die Finsternis, die die Gestalt umgab, nicht aufzulösen und ebenso versagte auch die andere Kugel, die von der zweiten Gestalt benutzt wurde. Die Magie, deren Aufgabe es war, die Identität der Beiden zu verbergen, war uralt und immens stark.

»Der Quell wird noch immer von schrecklichen Qualen heimgesucht«, erklärte derjenige, der den Kontakt aufgenommen hatte.

»So geht es schon seit einiger Zeit«, entgegnete der andere, und sein Schwanz zuckte hinter ihm. »Die Nachtelfen spielen mit Mächten, von denen sie keine Ahnung haben.«

»Hat man sich bei Euch bereits eine Meinung gebildet?«

Die verdunkelte Gestalt im Innern der Kugel schüttelte einmal den Kopf. »Nichts von Bedeutung bisher … aber was können sie schon tun, außer vielleicht sich selbst zu vernichten? Es wäre nicht das erste Mal, dass eines der kurzlebigen Völker sich aus eigener Dummheit in sein Verderben stürzt, und es wird gewiss nicht das letzte Mal sein.«

Der Erste nickte. »So scheint für uns … und die anderen.«

»Alle anderen?«, zischte die zweite Gestalt, und zum ersten Mal klang echte Neugierde in ihrer Stimme. »Sogar jene im Schwarm des Erdwächters?«

»Nein … sie behalten ihre Meinung für sich … wie üblich in letzter Zeit. Sie sind wenig mehr als Neltharions Spiegelbilder.«

»Also unwichtig. Wie ihr werden auch wir fortfahren, die Narrheiten der Nachtelfen zu beobachten, aber es ist zweifelhaft, ob sie zu viel mehr führen als der Ausrottung ihrer eigenen Art. Sollte die Angelegenheit sich als dringlicher erweisen, dann werden wir handeln, so uns unser Herr, Malygos, zu handeln befiehlt.«

»Der Pakt bleibt ungebrochen«, erwiderte der Erste. »Auch wir werden nur handeln, wenn wir den Befehl Ihrer Majestät, der glorreichen Alexstrasza, erhalten.«

»Dann ist dieses Gespräch beendet.« Mit diesen Worten wurde die Sphäre schwarz, die Verbindung war unterbrochen worden.

Die andere Gestalt erhob sich und legte die Kugel zur Seite. Mit einem Zischen schüttelte sie den Kopf über die Unwissenheit der niederen Völker. Sie spielten ständig mit Dingen, von denen sie keine Ahnung hatten, und oft bezahlten sie einen tödlichen Preis für ihren Unverstand. Aber sie hatten ein Recht auf eigene Fehler, und sie durften ruhig unter ihnen leiden, so lange die Welt als Ganzes keinen Schaden nahm. Sobald dies aber geschah, würden die Drachen handeln müssen.

»Dumme, törichte Nachtelfen. Ihr spielt mit eurem Schicksssal …«


Aber an einem Ort zwischen Welten, inmitten des wieder erstandenen Chaos, wandten sich, als das Wirken von Azsharas Hochgeborenen auch hierher drang, feurige Augen in plötzlichem Interesse um. Irgendwo, erkannte der Betrachter, irgendwo hatte irgendjemand die Macht angerufen. Irgendwelche Wesen hatten die Magie beschworen und glaubten in ihrer Dummheit, dass sie – und nur sie allein – sie beherrschten, dass nur sie wüssten, wie man sie benutzte …

… aber wo?

Er suchte, hatte die Quelle fast schon entdeckt, da verlor er sie wieder. Doch sie war nahe, sehr nahe.

Er würde warten. Wie die anderen war auch er wieder hungrig geworden. Wenn er noch ein wenig länger ausharrte, würde er sicher erkennen, wo unter den Welten die törichten Zauberer ihren Narrheiten frönten. Er roch ihren Eifer, ihren Ehrgeiz. Sie würden nicht in der Lage sein, damit aufzuhören, die Magie zu beschwören. Bald … bald würde er den Weg zu ihrer kleinen Welt finden …

Und dann würden er und die anderen fressen.

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