17

Die Dunkelheit kam, und die Welt der Nachtelfen erwachte. Händler öffneten ihre Geschäfte, während die Gläubigen zum Gebet strömten. Die Nachtelfen lebten ihr Leben und fühlten sich wie an jedem anderen Abend. Sie konnten mit der Welt anstellen, was ihnen beliebte, ganz gleich, was die niederen Völker darüber denken mochten.

Aber einige stießen auf unerwartete Hemmnisse in ihrem täglichen Leben, Kleinigkeiten, die ihre tägliche Routine unterbrachen.


Ein hoher Magier der Mondgarde, der sein langes weißes Haar zum Zopf zusammengebunden trug, richtete geistesabwesend einen Finger auf eine Weinkaraffe auf der anderen Seite des Zimmers. Gleichzeitig studierte er eine Sternenkarte als Vorbereitung auf einen wichtigen Zauber, den sein Orden geplant hatte. Auch wenn er zu den ältesten Zauberern zählte, hatten seine Fähigkeiten nicht nachgelassen, deshalb behielt er auch weiterhin seine hohe Position. Zu zaubern war ebenso Teil seiner Existenz wie zu atmen. Man tat es einfach und ganz normal, ohne darüber nachdenken zu müssen.

Der Knall, der ihn zusammenzucken und die Karte beinahe in der Mitte entzwei reißen ließ, stammte vom plötzlichen Aufprall der Karaffe auf dem Boden. Wein und Glas verteilten sich über den grün-roten Teppich, den der Zauberer erst kürzlich erworben hatte.

Wütend schnippte er mit den Fingern in Richtung des verschütteten Weins. Glasscherben begannen zu schweben, während der Wein zusammenfloss und die Form der Karaffe annahm, in der er sich befunden hatte. Das Glas begann, sich um den Wein zu formen …

Aber nur eine Sekunde später verteilte sich wieder alles auf dem Teppich und verursachte noch mehr Scherereien als zuvor.

Der alte Zauberer starrte darauf. Grimmig das Gesicht verzogen schnippte er erneut mit seinen Fingern.

Dieses Mal hielten sich Glas und Wein an den Befehl, den er ihnen gegeben hatte, bis nicht einmal mehr die Ahnung eines Flecks zurückblieb. Allerdings bewegten sie sich zögernd und benötigten wesentlich mehr Zeit, als der Zauberer der Mondgarde erwartet hätte.

Der alte Nachtelf kehrte zu seiner Karte zurück und versuchte sich auf das bevorstehende Ereignis zu konzentrieren. Aber sein Blick schweifte immer wieder zur Karaffe. Irgendwann richtete er den Finger darauf … senkte ihn jedoch unverrichteter Dinge wieder und drehte seinen Sessel anschließend so, dass er die Ursache seiner schlechten Laune nicht mehr ständig betrachten konnte.


Am Rande aller größeren Siedlungen patrouillierten bewaffnete Wachen und beschützten die Nachtelfen vor möglichen Feinden. Lord Ravencrest und andere Männer wie er beobachten das Land jenseits der Reichsgrenzen, fürchteten sie doch, dass die Zwerge und andere Völker unablässig Ränke schmiedeten, um sich den Wohlstand der Nachtelfen einzuverleiben. Sie blickten nicht nach innen – denn wer aus ihrem eigenen Volk hätte sie schon bedroht? –, sondern gestatteten jeder Siedlung, sich selbst um ihre Sicherheit zu kümmern und für das Wohlergehen ihrer Bürger zu sorgen. In Galhara, einer großen Stadt, die in einiger Entfernung von Zin-Azshari auf der anderen Seite der Quelle lag, begannen die Zauberer mit dem nächtlichen Ritual der Neuausrichrung ihrer Smaragdkristalle, die die Stadtgrenze markierten. Wenn die Kristalle richtig aufeinander eingestimmt waren, wehrten sie auch magische Angriffe ab. Niemand konnte sich daran erinnern, dass man sie jemals eingesetzt hatte, aber ihre bloße Existenz beruhigte das Volk.

Obwohl es Hunderte Kristalle gab, war es nicht schwer, sie auszurichten. Sie alle zogen ihre Kraft direkt aus der Quelle der Ewigkeit, und die Zauberer brauchten nur den Stand der Sterne zu berechnen, um die Kraftlinien, die von einem Kristall zum anderen liefen, zu justieren. Dazu musste man den Kristall, der auf einer hohen Obsidianstange ruhte, einfach nur kurz drehen. Die Zauberer konnten mehrere von ihnen in nur wenigen Minuten einstellen.

Doch als ein wenig mehr als die Hälfte ausgerichtet war, begannen die Kristalle matter zu leuchten und verdunkelten sich am Ende sogar. Die Zauberer von Galhara besaßen zwar nicht die Erfahrung der Mondgarde, aber sie verstanden ihr Handwerk immerhin gut genug, um zu wissen, dass Derartiges nicht hätte passieren dürfen. Sofort überprüften sie die Ausrichtung, fanden jedoch keinen Fehler.

»Sie ziehen keine Kraft mehr aus der Quelle«, behauptete ein junger Magier schließlich. »Etwas versucht, sie von ihrer Macht abzuschirmen.«

Er hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als die Kristalle ihre normale Aktivität jedoch auch schon wieder aufnahmen. Seine älteren Kollegen sahen den Jüngeren amüsiert an und versuchten sich daran zu erinnern, ob sie in ihrer Jugend auch solch absurde Thesen aufgestellt hatten.

Und das Leben der Nachtelfen ging weiter, als hätte es keine warnenden Signale gegeben …

»Esss issst fehlgeschlagen!«, schrie Hakkar. Er hätte den Hochgeborenen, der neben ihm stand, beinahe ausgepeitscht, zog sein Werkzeug jedoch im letzten Moment zurück. Aus tödlich dunklen Augen starrte er Lord Xavius an. »Wir haben versagt …«

Die Feibestien an der Seite des Herrn der Hunde kommentierten seine Worte mit einem bösartigen Knurren.

Xavius war ebenso wütend. Er betrachtete das von den Hochgeborenen und Hakkar gemeinsam vollendete Werk und sah darin nur vertane Zeit … obwohl er und der Herr der Hunde ursprünglich geglaubt hatten, der Plan der Königin könne funktionieren.

Offenbar besaßen sie aber nicht das nötige Wissen und die Macht, um ihn umzusetzen.

Dass die Mühen der Hochgeborenen zumindest dafür gesorgt hatten, eine Anzahl von Feiwachen durch das Portal zu leiten, hob seine Laune nicht im Geringsten. Das war nur ein schwacher Abglanz des Erhofften, ein Rinnsal im Vergleich zu dem mächtigen Strom, den sie benötigten, um den Erhabenen zu sich zu holen.

»Was sollen wir tun?«, fragte der Nachtelf.

Zum ersten Mal las er Unsicherheit im grässlichen Antlitz des Herrn der Hunde. Der riesige Krieger blickte sehnsüchtig zum Portal, wo die Hochgeborenen weiterhin versuchten, es zu stärken und zu weiten. »Wir müssssen ihn fragen.«

Der Berater schluckte, aber bevor sein monströses Gegenüber seine Absicht in die Tat umsetzen konnte, drängte sich Lord Xavius an ihm vorbei und beugte sein Knie selbst vor dem Portal nieder. Er würde vor seinem Gott für alle Fehler gerade stehen.

Sein Knie hatte den Boden noch nicht berührt, als er bereits die Stimme in seinem Kopf hörte.

Ist das Portal gefestigt?

»Nein, Erhabener … die Arbeit schreitet nicht so rasch voran, wie wir erhofft hatten.«

Für einen kurzen Moment glaubte der Nachtelf von irrsinniger Wut übermannt zu werden, dann verging das Gefühl. Xavius war überzeugt, dass er sich die Anwandlung nur eingebildet hatte und lauschte den nächsten Worten des Gottes.

Du suchst nach etwas … so rede.

Lord Xavius erläuterte den Plan, der darauf zielte, alle außerhalb des Palasts von der Macht der Quelle abzuschotten – und gestand den Fehlschlag ein, den sie bei der Umsetzung erlitten hatten. Er hielt den Kopf gesenkt, demonstrierte Demut vor einer Macht, gegen die selbst die geballte Kraft aller Nachtelfen nicht wirkungsvoller als die eines Insekts war.

Ich habe bereits darüber nachgedacht, antwortete der Gott schließlich. Der, den ich zuerst entsandte, hat seine Pflicht nicht erfüllt

Hinter Xavius stieß der Herr der Hunde einen kurzen, verzweifelt klingenden Laut aus.

Ein anderer wird dir gesandt werden. Du musst sicherstellen, dass das Portal bereit für ihn ist.

»Ein anderer, Herr?«

Ich werde dir jetzt einen meiner … einen der Kommandanten meiner Armee schicken. Er wird dafür sorgen, dass geschieht, was geschehen muss … und zwar rasch.

Die Stimme verschwand aus Xavius’ Kopf. Er taumelte einen Moment, denn der Rückzug des Gottes erfolgte so plötzlich und unerwartet, dass er sich fühlte, als habe man ihm einen Arm abgeschlagen. Ein Hochgeborener half ihm auf die Beine.

Xavius blickte zu Hakkar, der mehr als unglücklich wirkte, während der Berater selbst die Nachrichten für wundervoll hielt. »Er schickt uns einen seiner Kommandanten! Weißt du, welchen?«

Der Herr der Hunde rollte besorgt seine Peitsche auf. Neben ihm duckten sich die beiden Feibestien. »Ja, ich weiß, welchen, Lord Nachtelf.«

»Wir müssen alles vorbereiten. Er wird bald eintreffen!«

Hakkar wirkte niedergeschlagen, trat jedoch mit Xavius zu den Hochgeborenen und begann den neuen Zauber zu weben. Die beiden stellten den anderen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zur Verfügung und stärkten auf diese Weise so gut sie es vermochten die Kräfte, die das Portal öffneten.

Das brennende Tor gewann an Breite. Bunte Funken sprühten plötzlich daraus hervor. Sie pulsierten, schienen zu atmen. Das Portal dehnte sich aus. Ein brüllendes Geräusch, wie Donner, begleitete die Veränderung.

Schweiß lief über Xavius’ Gesicht und über seinen Körper, aber das kümmerte ihn nicht. Der Ruhm, nach dem er strebte, verlieh ihm Stärke. Mehr noch als der Herr der Hunde setzte er sich ein, um den Zauber nicht nur zu halten, sondern zu vergrößern.

Das Portal wuchs, bis es die Decke berührte. Dann spie es eine große, dunkle Gestalt aus, deren Anblick so furchtbar und gleichzeitig so wundervoll war, dass Xavius beinahe seinem Gott entgegen geschrien hätte, wie dankbar er ihm dafür war. Vor ihm stand einer der Himmelskommandanten, eine Gestalt, neben der Hakkar so unwürdig wirkte, wie Xavius selbst sich im Schatten des Herrn der Hunde fühlte.

»Elune, steh uns bei!«, keuchte einer der Zauberer. Er löste sich aus dem Verbund und hätte das Portal beinahe vernichtet. Xavius gelang es gerade noch, es aufrecht zu halten, bis die anderen sich wieder gefangen hatten.

Eine riesige vierfingrige Hand, groß genug, um den Kopf des Beraters zu umschließen, wurde ausgestreckt und zeigte mit einem der klauenartigen Finger auf den Zauberer, der alles gefährdet hatte. Eine Stimme, die wie eine Mischung aus einer tosenden Welle und dem Unheil verheißenden Rumoren eines ausbrechenden Vulkans klang, murmelte ein einziges, unverständliches Wort.

Der Nachtelf, der den Kreis unterbrochen hatte und zurück gestolpert war, begann zu schreien, als sein Körper wie ein Tuch zerquetscht wurde, aus dem man das Wasser herauswrang. Krachende Laute überlagerten seine schwächer werdenden Schreie. Die meisten Hochgeborenen sahen weg, und selbst Hakkars Feibestien winselten.

Schwarze Flammen stiegen auf und hüllten die Überreste des unglücklichen Zauberers ein. Die Flammen fraßen an ihm wie ein Rudel hungriger Wölfe. Sie verschlangen ihr Opfer, bis von ihm nichts außer einem Häufchen Asche am Boden zurückblieb.

»Es wird kein weiteres Versagen geben«, donnerte die Stimme.

Der Herr der Hunde und die Feiwache hatten Lord Xavius bereits beeindruckt, aber nach diesem Neuankömmling glaubte er, dass nichts außer dem Gott selbst ihn mehr ähnlich erschüttern könne. Die furchteinflößende Gestalt bewegte sich auf vier muskulösen Beinen, die an die eines Drachen erinnerten, jedoch in breiten Füßen mit jeweils drei Klauen besetzten Zehen endeten. Ein langer, schuppiger Schwanz zuckte über den Boden und verriet vermutlich die Ungeduld des Himmelsdieners. Von seinem Kopf bis zur Schwanzspitze trug er eine Mähne aus grün lohendem Feuer. Gewaltige lederne Schwingen ragten aus seinem Rücken, aber trotz der enormen Spannweite fragte sich Xavius, ob sie einen so gigantischen und schweren Körper überhaupt tragen konnten.

Die Haut, die unter seiner schwarzen Rüstung zu erkennen war, zeigte ein dunkles Graugrün. Er war doppelt so breit wie Hakkar und mindestens sechzehn Fuß hoch, wenn der Berater richtig schätzte. Die massiven Stoßzähne, die aus seinem Kiefer ragten, kratzten beinahe über die Decke und seine anderen, dolchartigen Zähne waren so lang wie die Hand des Nachtelfs.

Die glühenden Augen lagen unter wulstigen Augenbrauen, die sie beinahe verbargen. Der Auserwählte des Erhabenen starrte den Lord-Berater an – vor allem jedoch den Herrn der Hunde.

»Du hast ihn enttäuscht.« Mehr sagte der geflügelte Kommandant nicht.

»Ich …« Hakkar brach seinen Widerspruch ab und senkte das Haupt. »Ich habe keine Entschuldigung dafür, Mannoroth.«

Mannoroth legte den Kopf schief und betrachtete den Herrn der Hunde, als wäre er etwas Unappetitliches, das er auf seinem Teller gefunden hatte. »Nein, die hast du nicht.«

Die Feibestie an Hakkars rechter Seite jaulte plötzlich auf. Schwarze Flammen, ähnlich denen, die den Zauberer getötet hatten, umgaben das verängstigte Tier. Es rollte sich verzweifelt über den Boden und versuchte, Flammen zu löschen, die sich nicht löschen ließen. Das Feuer breitete sich aus und verschlang ihn.

Als nur noch eine Rauchwolke an die Feibestie erinnerte, wandte sich Mannoroth erneut an den Herrn der Hunde. »Es wird keinen weiteren Fehlschlag geben.«

Xavius spürte Furcht, aber es war eine wunderbare, glorreiche Furcht. Dieses Wesen, so etwas wie die rechte Hand des Erhabenen, verfügte über die größte Macht, die er je erlebt hatte. Es würde wissen, wie man die Niederlage in einen Erfolg umwandeln konnte.

Sein dunkler Blick fiel auf ihn. Mannoroth blähte die Nüstern seiner breiten Nase … und nickte. »Dem Erhabenen gefallen Eure Bemühungen, Lord Nachtelf.«

Er war gesegnet worden! Xavius senkte seinen Kopf noch tiefer. »Ich danke ihm.«

»Wir werden den Plan ausführen und den Quell der Macht vom Rest des Reiches trennen. Dann kann das Eintreffen der Armee endlich voranschreiten.«

»Und der Erhabene? Wird er kommen?«

Mannoroth lächelte so breit, dass er den Berater hätte verschlingen können. »O ja, Lord Nachtelf. Sargeras wird dabei sein wollen, wenn diese Welt gereinigt wird. Nichts wünscht er sich mehr …«


Gras steckte in Rhonins Mund und in seiner Nase.

Zumindest nahm er an, dass es Gras war. Es schmeckte danach. Der Geruch erinnerte ihn an wilde Felder und friedlichere Zeiten … Zeiten mit Vereesa.

Mühsam setzte er sich auf. Es war Nacht, und obwohl der Mond recht hell leuchtete, ließ sich in seinem Lichte nur erkennen, dass Rhonin sich in einem bewaldeten Gebiet befand. Er lauschte, hörte jedoch kein Geräusch, das auf Zivilisation hindeutete.

Die plötzliche Furcht, erneut in eine andere Zeit katapultiert worden zu sein, übermannte ihn kurz, doch dann erinnerte er sich daran, was geschehen war. Sein eigener Zauber hatte ihn hierher gebracht. Er hatte ihn gewirkt, um den Dämon aufzuhalten, der ihm Kraft und Leben stehlen wollte.

Aber selbst wenn er sich in der gleichen Zeit aufhielt, wo hatte ihn der Zauber abgesetzt? Seine Umgebung gab ihm keinen Hinweis. Vielleicht war er nur ein paar Meilen entfernt, vielleicht aber auch am Ende der Welt.

Wenn Letzteres zutraf … würde er dann jemals nach Kalimdor zurückkehren können? Er hoffte, dass Krasus noch irgendwo am Leben war. Der Zauberer wusste, dass er, wenn überhaupt, nur mit der Hilfe seines ehemaligen Mentors nach Hause zurückzugelangen vermochte.

Rhonin kam wankend auf die Füße und fragte sich, in welche Richtung er sich wenden sollte. Er musste wenigstens herausfinden, wo er war.

Ein Geräusch zwischen den Bäumen ließ den Magier herumfahren. Er hob die Hand, um einen Zauber zu wirken.

Eine gedrungene Gestalt trat vor.

»Kein Streit, Zauberer! Ich bin’s nur, Brox …«

Rhonin ließ die Hand langsam sinken. Der große Orc trat vor. Er hielt die Axt, die Malfurion und der Halbgott für ihn gefertigt hatten, immer noch in der Hand.

Beim Gedanken an den Nachtelf sah sich Rhonin um. »Bist du allein?«

»War ich, bis ich dich sah. Du machst viel Lärm, Mensch, benimmst dich wie ein betrunkenes Kind.«

Der Zauberer ignorierte die Beleidigung und sah an dem Orc vorbei. »Ich meinte Malfurion. Er stand neben mir, als ich den Zauber wob. Er könnte ebenso wie du in ihn hineingeraten sein …«

»Geräusche.« Brox schüttelte seinen hässlichen Kopf. »Habe keinen Nachtelf gesehen. Und auch keine Feibestie.«

Der Mensch erschauderte. Er hoffte inständig, dass er den Dämon nicht ebenfalls mitgerissen hatte. »Irgendeine Idee, wo wir sein könnten?«

»Bäume … Wald.«

Rhonin hätte beinahe wütend auf diese nutzlose Antwort reagiert, doch dann machte er sich klar, dass auch er keine bessere hätte geben können. »Ich wollte da lang gehen«, sagte er und wies in eine Richtung, die er für Osten hielt. »Hast du einen besseren Vorschlag?«

»Wir könnten bis Sonnenaufgang warten. Man kann dann besser sehen, und die Nachtelfen mögen Helligkeit nicht sonderlich.«

Obwohl das Sinn machte, fühlte sich Rhonin nicht wohl bei dem Gedanken, auf den Tagesanbruch zu warten. Er sagte es seinem Begleiter. Brox überraschte ihn, indem er sich einverstanden erklärte, gleich aufzubrechen.

»Dann lass uns die Gegend erkunden, Zauberer.« Er hob die Schultern. »Deine Richtung ist so gut wie jede andere.«

Als sie losmarschierten, kam Rhonin ein Gedanke, den er unbedingt zur Sprache bringen musste. »Brox … wie bist du hierher gekommen? Nicht genau an diesen Ort – die Antwort kenne ich natürlich –, aber wie bist du in dieses Reich gelangt?«

Zuerst schwieg der Orc, doch dann erzählte er dem Zauberer bereitwillig, was geschehen war. Rhonin lauschte der Geschichte. Der erfahrene Krieger und sein glückloser Partner waren unmittelbar hinter ihm und Krasus gewesen und dabei ebenfalls in die Anomalie geraten.

»Weißt du, was uns verschlungen hat?«

Brox hob die Schultern. »Spruch eines Zauberers. Schlechter Spruch. Hat uns weit von Zuhause weg verschlagen.«

»Weiter als du ahnst.« Rhonin entschied, dass Brox ein Recht auf die Wahrheit hatte, auch wenn Krasus das vermutlich anders sah. Also erzählte er dem Orc, was geschehen war.

Zu seiner Überraschung akzeptierte Brox das Gehörte offenbar, ohne Zweifel zu äußern. Erst als Rhonin sich die Geschichte des Orc-Volkes in Erinnerung rief, verstand er den Grund dafür. Die Orcs waren einst schon einmal durch Zeit und Raum in eine andere Welt gereist. Ein Zauber, der jemanden in die Vergangenheit warf, unterschied sich wahrscheinlich nicht sonderlich davon.

»Können wir zurückkehren, Mensch?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du hast es gesehen. Die Dämonen sind hier. Die Legion ist hier.«

»Das ist ihr erster Versuch, unsere Welt zu erobern. Jenseits von Dalaran kennt man diese Überlieferung nicht mehr.«

Brox verstärkte den Griff um seine Axt. »Dann werden wir kämpfen …«

»Nein … das geht nicht.« Rhonin weihte Brox in Krasus’ Meinung ein.

Alles andere hatte der Orc widerspruchslos akzeptiert, doch warum er sich nicht in die Vergangenheit einmischen sollte, schien er nicht zu begreifen. Für ihn war die Angelegenheit klar: Hier gab es einen gefährlichen, hinterhältigen Feind, der alle, die ihm im Weg standen, abschlachtete. Nur Feiglinge und Narren würden so etwas zulassen, und das sagte Brox auch mehr als einmal.

»Wir könnten den Lauf der Geschichte verändern, wenn wir eingriffen«, beharrte der Zauberer, auch wenn sein Herz dem Orc beipflichtete.

Brox schnaufte. »Du hast gekämpft.«

Seine einfache Aussage warf Rhonins komplette Argumentation über den Haufen. Er hatte bereits gekämpft, ja, und damit seine Wahl getroffen.

Aber war es die Richtige? Die Vergangenheit war bereits verändert worden, nur – wie stark?

Sie gingen schweigend weiter. Rhonin kämpfte mit seinen persönlichen Dämonen, während Brox vorsichtig nach realen Ausschau hielt. Sie fanden keinen Hinweis auf den Ort, an dem sie gestrandet waren. Nach einer Weile zog Rhonin in Erwägung, sich auf die Lichtung zu konzentrieren und sie beide dorthin zurückzubefördern. Dann erinnerte er sich jedoch an die Feibestie und das, was sie ihm beinahe angetan hätte.

Die Bäume standen jetzt dichter und bildeten einen richtigen Wald. Rhonin fluchte lautlos, denn die von ihm gewählte Richtung schien sich als Fehlschlag zu entpuppen. Brox äußerte seine diesbezügliche Meinung nicht, sondern schlug nur geübt mit seiner verzauberten Axt auf das Geäst und Gestrüpp ein, wenn der Pfad zu schmal wurde. Auch Knochen hätten der Klinge wenig Widerstand geleistet.

Der Mond verschwand hinter den Baumkronen. Der Weg wurde unpassierbar. Nachdem sie sich einige Minuten durch das Gehölz gekämpft hatten, entschieden sie gemeinsam, dass jeder weitere Vorstoß wohl sinnlos war. Aber selbst jetzt sparte sich der Orc jede Bemerkung über Rhonins vorausgegangene Wegwahl.

Aber als sie sich umdrehten, mussten sie erkennen, dass der Pfad hinter ihnen verschwunden war.

Riesige Bäume standen dort, wo eben noch ein Weg verlaufen war, umgeben von fast lückenlosem Dickicht. Der Orc und der Mensch starrten die Bäume misstrauisch an.

»Wir sind von dort gekommen. Da bin ich mir sicher.«

»Richtig.« Brox hob seine Axt und ging auf die mysteriös aufgetauchten Bäume zu. »Und wir gehen auch den selben Weg wieder zurück.«

Doch als er ausholte, griffen große Asthände nach der Klinge und zerrten daran.

Brox ließ nicht los, sondern hielt krampfhaft den Stiel fest. Seine Beine strampelten, als er versuchte, die Axt unter Einsatz aller Kraft und seines Gewichts von dem fremden Zugriff zu befreien.

Rhonin lief zu ihm, um zu helfen, vermochte aber mit roher Gewalt wenig auszurichten. Schließlich starrte er auf die langen, unmenschlichen Finger und begann einen Spruch zu formen.

Doch etwas schlug in seinen Rücken. Der Zauberer stolperte und wäre gegen den nächsten Baum geprallt, wenn dieser nicht im letzten Moment ausgewichen wäre.

Der eigene Schwung ließ Rhonin zu Boden gehen. Allerdings fiel er auf etwas unerwartet Weiches.

Einen Körper.

Rhonin keuchte, weil er glaubte, ein früheres Opfer der tückischen Bäume gefunden zu haben. Aber als er sich aufrichtete, fiel ein einzelner Mondstrahl, der sich an den Baumkronen vorbeistahl, auf ein Gesicht.

Malfurion!

Der Nachtelf stöhnte. Seine Augen öffneten sich und entdeckten den Zauberer.

»Du …?«

Weiter hinten schrie Brox etwas. Mensch und Nachtelf fuhren herum. Rhonin hob die Hand zum Angriff, aber Malfurion überraschte ihn, indem er seinen Arm festhielt.

»Nein!« Der Nachtelf setzte sich auf und betrachtete die Bäume. Dann nickte er und rief: »Brox! Kämpfe nicht gegen sie. Sie wollen dir nichts tun.«

»Nichts tun?«, grollte der Orc. »Sie wollen meine Axt

»Tu, was ich sage! Es sind Wächter.«

Der Krieger grunzte zögernd. Rhonin sah Malfurion an und erwartete eine Erklärung, erhielt aber keine. Stattdessen ließ der Nachtelf den Arm des Zauberers los und stand auf. Rhonin folgte ihm zu der Stelle, wo Brox kämpfte.

Sie fanden den Orc umgeben von seltsam aussehenden Bäumen. Äste hingen über ihm, und darin steckte Brox’ Axt. Der Orc atmete schwer, sein Körper war immer noch angespannt. Er sah von seinen Begleitern zu seiner Axt und wieder zurück, schien zu überlegen, ob er am Stamm emporklettern sollte.

»Hab deine Stimme erkannt«, schnarrte er. »Hoffe, du hast Recht.«

»Habe ich.«

Der Zauberer und der Krieger sahen zu, wie Malfurion neben dem größten Baum stehen blieb und sagte: »Ich bedanke mich bei den Brüdern des Waldes, den Bewahrern der Natur. Ich weiß, dass ihr mich beschützt habt, bis meine Freunde mich finden konnten. Sie wollen euch nicht verletzen – es war ein Missverständnis.«

Die Blätter der Bäume raschelten, obwohl Rhonin keinen Wind spürte.

Der Nachtelf nickte und fuhr fort: »Wir werden euch nicht länger belästigen.«

Ein weiteres Rascheln, dann teilten die Äste sich und ließen Brox’ Axt fallen.

Bevor sie den Boden berühren konnte, trat der Orc blitzschnell vor. Seine Hand fing die Axt am Griff auf. Anstelle die Waffe erneut gegen die Bäume zu schwingen, kniete er mit nach unten gerichteter Klinge nieder.

»Ich bitte um Vergebung.«

Erneut schüttelten sich die Kronen der großen Bäume. Malfurion legte eine Hand auf die breite Schulter des Orcs. »Sie verzeihen.«

»Kannst du wirklich mit ihnen reden?«, fragte Rhonin schließlich.

»Bis zu einem gewissen Grad.«

»Dann frage sie, wo wir sind.«

»Das habe ich bereits. Wir sind nicht sehr weit weg, aber weit genug. Um genau zu sein, haben wir ebenso viel Glück wie Pech.«

»Wie ist das zu verstehen?«

Der Nachtelf lächelte bedauernd. »Wir sind in der Nähe meines Dorfes.«

Das klang nach einer guten Nachricht für Rhonin, aber der Nachtelf schien das nicht so zu sehen. Das Gleiche traf auf Brox zu, der einen Fluch in seiner Sprache ausstieß.

»Was ist los? Was wisst ihr beiden?«

»Ich bin nahe diesem Dorf gefangen worden«, grollte der Krieger. »Sehr nahe …«

Rhonin dachte an seine eigene Gefangennahme und verstand die Reaktion des Orcs nun besser. »Dann bringe ich uns von hier weg. Dieses Mal weiß ich, worauf ich zu achten habe …«

Malfurion widersprach mit einer Geste. »Wir hatten einmal Glück, aber hier riskierst du die Aufmerksamkeit der Mondgarde. Sie haben die Möglichkeit deinen Zauber zu verändern … vermutlich haben sie auch schon den ersten bemerkt.«

»Was schlägst du also vor?«

»Da wir in der Nähe meines Zuhauses sind, sollten wir das nutzen. Es gibt Leute, die uns helfen können. Mein Bruder und Tyrande.«

Brox stimmte sofort zu. »Die Schamanin … sie wird helfen.« Sein Tonfall wurde zurückhaltender. »Dein Zwilling auch …«

Rhonin sorgte sich immer noch um Krasus, aber da er nicht wusste, wo er seinen ehemaligen Mentor finden sollte, schien der Vorschlag des Nachtelfen sinnvoll. Mit Malfurion an der Spitze zog das Trio los. Der Weg durch den Wald erwies sich als überraschend einfach, vor allem, wenn man ihn mit dem Weg verglich, den sich der Orc und der Mensch zuvor hatten bahnen müssen. Die Landschaft schien sich zu bemühen, Malfurions Reise so angenehm wie möglich zu gestalten. Rhonin wusste ein wenig über Druiden und erkannte, dass Malfurion einer sein musste.

»Der Halbgott – Cenarius … hat er dich die Sprache der Bäume und das Wirken von Zaubern gelehrt?«

»Ja, ich scheine der Erste zu sein, der seine Art von Magie wirklich versteht. Selbst mein Bruder zieht die Macht der Quelle dem Weg des Waldes vor.«

Die Erwähnung der Quelle löste in Rhonin ein Gefühl von Erwartung und … Begierde aus. Er unterdrückte diese Anwandlungen. Bei der Quelle, von der sein Begleiter sprach, musste es sich um die Quelle der Ewigkeit handeln, die legendäre Quelle der Macht. Waren sie ihr nahe? Waren seine Zauber deshalb so stark geworden?

Solche Kräfte zu erhalten … und so leicht …

»Es ist nicht mehr weit«, sagte Malfurion kurze Zeit später. »Ich erkenne den knorrigen Alten.«

Der »Alte«, von dem er sprach, war ein knorriger mächtiger Baum, von dem Rhonin nur einen dunklen Umriss erkannte. Etwas anderes erregte jedoch die Aufmerksamkeit des Zauberers.

»Höre ich Wasser fließen?«

Der Nachtelf klang fröhlicher. »Es läuft in der Nähe meines Zuhauses vorbei. Nur noch ein paar Minuten, dann …«

Bevor er seinen Satz zu Ende sprechen konnte, füllte sich der Wald mit Gestalten in Rüstungen. Brox grunzte und zog seine Axt. Rhonin bereite einen Zauber vor und war überzeugt, dass es sich um die gleichen hinterhältigen Angreifer handelte, die ihn und Krasus gefasst hatten.

Malfurion wirkte vollkommen überrascht über das Auftauchen der Krieger. Er wollte ihnen seine Hand entgegen strecken, zögerte dann jedoch.

Malfurions Zögern ließ auch Rhonin innehalten. Das erwies sich als Fehler, denn im nächsten Moment fiel ein flirrendes rotes Netz über jeden in der kleinen Gruppe. Rhonin spürte, wie seine Muskeln steif wurden und alle Kraft daraus verschwand. Er konnte sich nicht länger bewegen, nicht länger handeln, nur mehr zusehen.

»Hervorragende Arbeit, Junge«, dröhnte eine befehlsgewohnte Stimme. »Das ist der Tiermensch, den wir gesucht haben – zusammen mit denen, die ihm bei seiner Flucht geholfen haben.«

Jemand antwortete so leise, dass Rhonin die Worte nicht verstand. Mehrere Reiter, von denen zwei leuchtende Smaragdstöcke trugen, lösten sich aus der Gruppe der Soldaten. An ihrer Spitze ritt ein bärtiger Nachtelf, der das Kommando zu führen schien. Neben ihm …

Rhonins Augen weiteten sich. Eine andere Reaktion ließ sein momentaner Zustand nicht zu. Seiner Überraschung über den Mann, der neben dem Kommandanten ritt, war das jedoch kaum angemessen.

Er trug andere Kleidung und hatte die Haare zu einem Zopf zusammen gebunden, dennoch gab es nicht den geringsten Zweifel, dass sein ernstes Gesicht das von Malfurion war.

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