Krieg der Ahnen 1 Richard A. Knaak Die Quelle der Ewigkeit

Für Martin Fajkus

und meine Leser in der ganzen Welt

1

Der hohe, düstere Palast saß am Rand der Klippe und überschaute die gewaltigen, schwarzen Wassermassen, die unter ihm schäumten. Fast schien es, als wolle er sich in die dunklen Tiefen des Sees stürzen. Einst, als man die riesige Burg gebaut und mit Hilfe der Magie Stein und Wald zu einer Gestalt verschmolzen hatte, war sie ein Wunder gewesen, das jedes sie betrachtende Auge berührte. Ihre Türme waren Bäume, zwischen denen – zur Verstärkung – rauer Fels wucherte, und ihre stolzen Wipfel ragten weit in den Himmel hinein. Darin prangten große offene Fenster. Die Mauern erhoben sich aus vulkanischem Stein, zusammengehalten von Ranken und gigantischen Wurzeln. Der eigentliche Palast im Zentrum der Feste war vor langer Zeit durch die mystische Verbindung von mehr als hundert riesiger, uralter Bäume geschaffen worden. Man hatte sie gebogen, um das Skelett des runden Zentrums zu schaffen, über das die Steine und Ranken gelegt wurden.

Damals hatte die Burg die Herzen aller mit Staunen und einem Gefühl für Wunder erfüllt, doch jetzt erregte sie in manchen Seelen nur noch Furcht. Eine beunruhigende Aura umgab das Gebäude, und sie wurde durch diese stürmische Nacht noch verstärkt. Die Wenigen, deren Blick heute Abend die uralte Feste streifte, wendeten sich rasch ab.

Doch jene, die stattdessen auf den See unterhalb des Palastes sahen, fanden auch keinen Frieden. Die ebenholzschwarzen Wasser tobten in wildem, unnatürlichem Aufruhr. In der Ferne wuchsen brodelnde Wellen empor, als wollten sie gierig nach der Burg greifen. Sie fielen donnernd in sich zusammen … um sich von neuem zu erheben, wieder und wieder. Blitze zuckten über die weite Fläche, und ihr unheimliches Licht ließ das Wasser in Rot und Gold und dem Grün der Fäulnis glänzen. Donner grollte wie tausend Drachen, und jene, die an den Ufern des Sees lebten, fassten einander angstvoll an den Händen, drängten sich enger zusammen und fragten sich, was für eine Art Sturm hier entfesselt wurde.

Von den Mauern des Palastes starrten die dunklen Schattenrisse der Wächter misstrauisch in die Finsternis. Sie hielten nicht nur jenseits der Zinnen nach Seelen Ausschau, die so töricht sein mochten, sich der Burg zu nähern. Sie schauten auch von Zeit zu Zeit verstohlen hinter sich, und auch zum Hauptturm wanderte ihr Blick. Dort, so fühlten sie, waren unkontrollierbare Kräfte am Werk.

Und in jenem hohen Turm, in einer steinernen Kammer ohne Fenster, beugten sich große, schlanke Gestalten in schillernden, türkisfarbenen Gewändern, mit silbrigen Symbolen bestickt, über ein sechsseitiges Muster, das man auf den Boden geschrieben hatte. Im Zentrum des Musters loderten Zeichen einer uralten Sprache, als besäßen sie ein eigenes Leben.

Glitzernde, silberne Augen ohne Pupillen starrten unter Kapuzen hervor, während die Nachtelfen singend ihre Zaubersprüche woben. Dunkle, violette Haut überzog sich mit Schweiß, als die Magie innerhalb des Musters stärker wurde. Alle sahen müde aus, bereit, sich von der Erschöpfung übermannen zu lassen. Alle waren völlig entkräftet – bis auf einen. Und dieser betrachtete das von ihm initiierte Ritual nicht durch silberne Augen wie der Rest der Versammlung, sondern durch künstliche, schwarze Augäpfel, über die waagerechte, rubinrote Streifen verliefen. Trotz dieser magischen Augen bemerkte er jedes Detail, ihm entging nicht die kleinste Geste der anderen. Auf seinem langen, schmalen Gesicht, das selbst für einen Elf hager wirkte, lag, während er seine Untergebenen antrieb, ein Ausdruck von Erwartung und Gier.

Eine weitere Gestalt beobachtete all dies und sog jedes Wort, jede rituelle Bewegung in sich auf. Die Frau saß auf einem luxuriösen Sessel aus Elfenbein und Leder. Prächtiges, silbernes Haar umrahmte ihre perfekten Züge, während das seidene Kleid – das so golden war wie ihre Augen – ihre bezaubernde Figur betonte. Von Kopf bis Fuß die Vision einer Königin, lehnte sie sich in den Sessel zurück und kostete Wein aus einem goldenen Kelch. Ihre juwelenbesetzten Armreife klimperten, als sich ihre Hände bewegten, und der Rubin ihrer Tiara glitzerte im Licht der zauberischen Kräfte, die die anderen beschworen.

Ab und zu wandte sie leicht den Kopf, um die schwarzäugige Gestalt zu mustern, und über ihr Gesicht huschte ein Ausdruck von Argwohn. Doch als der Meister des Rituals einmal plötzlich zu ihr schaute, als spüre er ihren Blick, verschwand alles Misstrauen aus ihr und wurde durch ein träges Lächeln ersetzt.

Die Gesänge der Zauberer wogten fort.

Der schwarze See brodelte wild.


Es hatte einen Krieg gegeben, und der Krieg war vorüber.

Also, wusste Krasus, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Geschichtsschreiber die Geschehnisse aufzeichnen würden. Und diese Niederschriften würden wenig zu sagen haben über die zahllosen Leben, die vernichtet oder die einst blühenden Länder, die verwüstet worden waren, auf der gesamten sterblichen Welt, die beinahe ihr Ende gefunden hätte.

Selbst die Erinnerungen von Drachen sind unter solchen Umständen flüchtig, gestand die bleiche, in eine graue Robe gekleidete Gestalt sich selbst gegenüber ein. Krasus wusste das sehr gut, denn obwohl er den meisten Augen als ein langer, dünner, fast elfenhafter Mann mit falkenähnlichen Gesichtszügen, silbernem Haar und drei langen Narben, die sich über seine rechte Wange zogen, erschien, war er in Wirklichkeit sehr viel mehr als das. Die Meisten kannten ihn als Zauberer, aber ein paar ausgewählte Geschöpfe nannten ihn Korialstrasz – ein Name, den nur ein Drache tragen würde.

Krasus war als Drache geboren worden, als eine majestätische rote Echse, der jüngste Gemahl der großen Alexstrasza. Sie, der Aspekt des Lebens, war seine liebste Gefährtin … doch wieder einmal zog es ihn von ihr fort zu den kurzlebigen Völkern mit ihrer alltäglichen Not und ihrer ungewissen Zukunft.

In seiner versteckten, aus dem Fels gehauenen Wohnstätte, die er sich als neues Allerheiligstes erwählt hatte, blickte Krasus auf die Welt von Azeroth hinab. Der leuchtende, smaragdgrüne Kristall erlaubte ihm, jedes Land, jedes Wesen zu sehen, das er sich wünschte.

Und wohin der Drachenmagier auch blickte, er sah nur Verheerung.

Es schien, als seien nur wenige Jahre vergangen, seit man die grotesken, grünhäutigen Ungetüme namens Orcs besiegt hatte, die von einer jenseitigen Welt in das Land eingefallen waren. Nachdem die überlebenden Monster in Lagern zusammengepfercht worden waren, hatte Krasus geglaubt, die Welt sei bereit für den Frieden. Doch dieser Frieden war nur von kurzer Dauer gewesen. Die Allianz – die von den Menschen angeführte Koalition, zugleich die vorderste Linie des Widerstandes – hatte sofort begonnen zu zerbröckeln, und ihre Mitglieder hatten sich um die Herrschaft über ihre alten Bündnispartner gestritten. Teilweise war dies die Schuld von Drachen gewesen – oder besser gesagt, die Schuld des einen Drachen Deathwing –, doch vieles war auch einfach auf die Gier von Menschen, Zwergen und Elfen zurückgegangen.

Aber selbst diese Krise hätte man ohne größere Probleme meistern können, wäre nicht die Brennende Legion erschienen …

Heute betrachtete Krasus das ferne Kalimdor, das auf der anderen Seite des Meeres lag. Selbst jetzt noch glichen große Gebiete dort einem Land nach einem schrecklichen Vulkanausbruch. Kein Leben war in diesen Gegenden verblieben, keine Spuren von Zivilisation. Doch es war keine Naturgewalt gewesen, die das Land so verwüstet hatte. Die Brennende Legion hatte ihrem Gefolge nichts als Tod hinterlassen.

Die feurigen Dämonen, von einem Ort jenseits der Realität gekommen, hatten Magie gesucht und hatten Magie verschlungen. Zusammen mit ihrer monströsen Dienerschar, der Untoten Geißel, hatten sie die Welt in Trümmer legen wollen. Doch sie hatten nicht mit dem Unwahrscheinlichsten aller Bündnisse gerechnet …

Die Orcs, einst selbst Marionetten der Dämonen, hatten sich gegen ihre ehemaligen Herren gewandt und sich den Menschen, Elfen, Zwergen und Drachen angeschlossen, um die dämonischen Krieger und ihre teuflischen Bestien zu dezimieren und die Überlebenden in das höllische Jenseits zurückzudrängen, aus dem sie einst hervorgebrochen waren. Tausende hatten den Tod gefunden, aber die Alternative wäre gewesen …

Der Drachenmagier schnaubte. Es hatte keine Alternative gegeben.

Krasus ließ seine langen Finger über die Kugel spielen und beschwor eine Vision der Orcs herauf. Das Bild wurde für einen Augenblick verschwommen, dann enthüllte sich ein gebirgiger, felsiger Landstrich, der weiter im Innern Kalimdors lag. Es war ein raues Land, aber noch immer voller Leben, und es hatte die neuen Siedler auf seinem Grund willkommen geheißen.

Mehrere steinerne Gebäude erhoben sich bereits in der Hauptsiedlung, wo der Kriegshäuptling Thrall herrschte, einer der großen Helden des vergangenen Krieges. Das hohe, runde Gebäude, das ihm als Quartier diente, mochte nach den Maßstäben der meisten anderen Völker primitiv sein, doch die Orcs hatten eine Neigung zum Einfachen. Extravaganz bedeutete für einen Orc schon, einen ständigen Platz zu haben, an dem er leben konnte. Diese Wesen waren so lange Nomaden und Gefangene gewesen, dass ihnen die Bedeutung von »Heimat« fast verloren gegangen wäre.

Mehrere der bulligen, grünlichen Gestalten bestellten ein Feld. Während er die brutal aussehenden Krieger mit ihren riesigen Stoßzähnen betrachtete, erfüllte die Vorstellung von Orc-Bauern Krasus mit großer Verwunderung. Doch Thrall war ein sehr ungewöhnlicher Orc, und er hatte die Ideen, die seinem Volk Stabilität verleihen konnten, bereitwillig ergriffen.

Stabilität war etwas, das die ganze Welt verzweifelt benötigte. Mit einer kurzen Handbewegung schickte der Drachenmagier Kalimdor fort und beschwor einen Ort, der sehr viel näher lag – die einst stolze Hauptstadt seines geliebten Dalaran. Beherrscht von den Magiern der Kirin Tor, den wichtigsten Vertretern der Zauberkünste, war sie in Lordaeron die vorderste Linie im Kampf der Allianz gegen die Brennende Legion gewesen – und damit eines der ersten Angriffsziele der Dämonen.

Halb Dalaran lag in Schutt und Asche. Von den Meisten der einst stolzen Türme waren nur noch große Trümmerhaufen übrig geblieben. Die großen Bibliotheken waren niedergebrannt, immenses Wissen – über Generationen angehäuft – für immer verloren gegangen … ebenso wie zahllose Leben. Selbst der Rat der Kirin Tor hatte schwer gelitten. Einige der obersten Zauberer, die Krasus als Freunde oder zumindest als geachtete Kollegen betrachtet hatte, hatten den Tod gefunden. Die Führung der Magischen Gilde befand sich in einer Krise, und Krasus wusste, dass es geboten war, ihr zur Seite zu stehen. Dalaran musste mit einer Stimme sprechen, und sei es auch nur, damit das, was von der zerbröckelten Allianz noch existierte, intakt blieb.

Doch trotz all des Elends und der Prüfungen, die noch auf die Welt zukommen mochten, hatte der Drache Hoffnung. Die Probleme konnten bewältigt werden. Man musste sich nicht mehr vor den Orcs fürchten, man musste sich nicht mehr vor den Dämonen fürchten. Azeroth würde hart zu kämpfen haben, aber Krasus war überzeugt, dass die Länder dieser Welt am Ende nicht nur überleben, sondern sogar neu erblühen würden.

Der Magier ließ von dem Kristall ab und erhob sich. Die Drachenkönigin, seine geliebte Alexstrasza, würde ihn erwarten. Sie ahnte bereits, dass er in die Welt der Sterblichen zurückkehren wollte, um ihnen beizustehen, und von allen Drachen konnte sie das am Besten verstehen. Er würde sich in sein wahres Ich verwandeln, sich von ihr verabschieden – für kurze Zeit – und dann gehen, bevor Reuegefühle ihn zurückhalten konnten.

Er hatte sein neues Allerheiligstes nicht nur wegen seiner Abgeschiedenheit gewählt, sondern auch wegen seiner Größe. Als er die kleinere Kammer verließ, betrat Krasus eine gewaltige Höhle, deren Höhe es leicht mit den inzwischen verlorenen Türmen des früheren Dalaran hätte aufnehmen können. Eine Armee hätte in dieser Grotte zu lagern vermocht und sie hätte sie nicht einmal gefüllt.

Genau die richtige Größe für einen Drachen.

Krasus streckte seine Arme aus … und seine feingliedrigen Finger wurden länger, entwickelten Krallen. Sein Rücken krümmte sich, und in der Nähe seiner Schultern brachen zu beiden Seiten seiner Wirbelsäule zwei Geschwülste hervor, die sich rasch in kleine Flügel verwandelten. Seine langen Gesichtszüge streckten sich noch mehr und wurden echsenhaft.

Und während all dieser kleinen Verwandlungen dehnte sich Krasus’ Leib aus. Er wurde vier, fünf, ja zehn Mal so groß wie ein Mensch und wuchs weiter. Jede Ähnlichkeit mit einem Menschen oder einem Elf schwand schnell dahin.

Der Zauberer Krasus wurde Korialstrasz, der Drache.

Aber plötzlich – inmitten der Metamorphose – erfüllte eine verzweifelte Stimme seinen Kopf.

Kor … strasz …

Er stockte und fiel wieder in seine Menschengestalt zurück. Krasus blinzelte. Dann wanderten seine Augen durch den riesigen Raum, als suchten sie hier die Quelle des Schreis.

Nichts. Der Drachenmagier wartete und wartete, aber der Ruf wiederholte sich nicht.

Er zuckte die Schultern und kam zu dem Schluss, dass seine eigenen Ungewissheiten und Sorgen ihm einen Streich gespielt hatte. Er entschloss sich, seine Verwandlung wieder aufzuneh …

Und wieder schrie die verzweifelte Stimme: Korialstra

Dieses Mal … erkannte er sie. Sofort antwortete er auf die gleiche Weise. Ich höre Euch! Was ist es, das Ihr von mir benötigt?

Es kam keine Antwort, doch Krasus fühlte, dass die Verzweiflung nicht verschwand. Er konzentrierte sich, versuchte, die Fühler seines Geistes auszustrecken und eine Verbindung mit demjenigen herzustellen, der ihn so dringend um Hilfe rief – demjenigen, der von keinem Geschöpf Hilfe hätte benötigen sollen.

Ich bin hier!, rief der Drachenmagier. Fühlt mich! Gebt mir einen Hinweis auf Eure Not!

Er spürte eine schwache Berührung als Antwort, die das Gefühl einer schweren Krise in sich trug. Krasus konzentrierte jedes Jota seiner Gedanken in die dürftige Verbindung und hoffte … hoffte …

Die übermächtige Präsenz eines Drachens, dessen Magie der seinen tausendfach überlegen war, ließ Krasus torkeln. Ein Eindruck von Jahrhunderten, von gewaltigem Alter, brach über ihn herein. Krasus fühlte sich, als umgebe ihn die Zeit selbst in all ihrer schrecklichen Majestät.

Aber es war nicht die Zeit … nicht ganz … sondern er, der der Aspekt der Zeit war.

Der Drache der Zeitalter – Nozdormu!

Es gab nur vier große Drachen, vier Große Aspekte, von denen seine geliebte Alexstrasza das Leben verkörperte. Der wahnsinnige Malygos war die Magie, und die ätherische Ysera beeinflusste die Träume. Gemeinsam mit dem grüblerischen Nozdormu repräsentierten sie die gesamte Schöpfung.

Krasus schnitt bei diesen Gedanken eine Grimasse. Tatsächlich hatte es einmal fünf Aspekte gegeben. Den fünften hatte man Neltharion genannt … den Wächter der Erde. Doch in einer Zeit, die so lange zurücklag, dass sich selbst Krasus nur vage an sie erinnern konnte, hatte Neltharion seine Gefährten verraten. Der Erdwächter hatte sich gegen seine Brüder und Schwestern gewandt und sich so einen neuen – ihm angemesseneren – Titel erworben.

Deathwing. Der Zerstörer.

Der Gedanke an Deathwing riss Krasus aus seinem Erstaunen. Geistesabwesend berührte er die drei Narben an seiner Wange. War Deathwing zurückgekehrt, um erneut die Welt heimzusuchen? War dies der Grund für die Not, die aus dem Gedankenruf des großen Nozdormu sprach?

Ich höre Euch!, sprach Krasus in seinem Geist, und jetzt fühlte er noch größere Furcht, was der Grund für diesen Ruf sein mochte. Ich höre Euch! Ist es … ist es der Zerstörer?

Als Antwort flutete eine weitere übermächtige Welle erstaunlicher Bilder über ihn hinweg. Die Visionen brannten sich in seinen Schädel und machten es Krasus unmöglich, auch nur eine einzige von ihnen zu vergessen.

In keiner seiner Gestalten wäre Krasus, und mochte er auch noch so stark und noch so anpassungsfähig sein, der entfesselten Kraft eines Aspekts gewachsen gewesen. Die Wucht der Geistesmacht des anderen Drachens schleuderte ihn gegen die Höhlenwand, wo der Magier zusammenbrach.

Es dauerte mehrere Minuten, bis Krasus sich wieder vom Boden erheben konnte, und selbst dann drehte sich ihm noch der Kopf. Gedankensplitter, die nicht seine eigenen waren, drangen auf ihn ein. Er musste seine ganze Kraft zusammennehmen, nur um bei Sinnen zu bleiben.

Langsam stabilisierten sich seine Empfindungen jedoch so weit, dass er das ganze Ausmaß dessen erkennen konnte, was gerade geschehen war. Nozdormu, Herr der Zeit, hatte verzweifelt um Hilfe gefleht … um seine Hilfe. Er hatte sich aus irgendeinem Grund an den geringeren Drachen gewandt und nicht an einen seiner gleichrangigen Gefährten.

Doch etwas, das selbst einen Aspekt entsetzte, konnte nur eine monumentale Bedrohung für den Rest von Azeroth darstellen. Warum also hatte er einen einzelnen roten Drachen gewählt und nicht Alexstrasza oder Ysera?

Er versuchte wieder, den großen Drachen mit seinen Gedanken zu erreichen, doch alle Bemühungen blieben erfolglos, erhöhten nur noch das Durcheinander in seinem Kopf. Krasus fand mühsam seine Balance zurück und fragte sich, was er tun konnte. Vor allem ein Bild verlangte unablässig seine Aufmerksamkeit, das Bild einer schneebedeckten Berggegend in Kalimdor. Was auch immer Nozdormu ihm hatte erklären wollen, es hing mit dieser trostlosen Region zusammen.

Krasus würde den Hilferuf untersuchen, aber dabei würde er fähige Hilfe benötigen, jemanden, der sich gut auf neue Situationen einstellen konnte. Obwohl Krasus auf seine eigene Anpassungsfähigkeit stolz war, neigte seine Spezies im Allgemeinen dazu, sehr starrsinnig zu sein und hartnäckig an ihren Gewohnheiten festzuhalten. Er brauchte jemanden, der zuhören, aber auch sofort reagieren konnte, wenn die Entwicklung der Ereignisse dies erforderte. Nein, für eine solch unberechenbare Mission eignete sich nur eine Kreatur. Ein Mensch.

Insbesondere ein Mensch namens Rhonin.

Ein Zauberer …


Und in den Steppen Kalimdors hockte ein gebeugter, alter Orc an einem rauchigen Feuer. Die moosgrüne Gestalt murmelte Worte, deren Ursprung auf einer anderen, lange verlorenen Welt lag, und warf ein paar Blätter in die Flammen, wodurch der bereits schwere Qualm noch dichter wurde und seine bescheidene Hütte aus Holz und Erde ausfüllte.

Der kahlköpfige, alte Orc schob sich etwas näher an die Glut und atmete tief ein. Seine müden, braunen Augen waren von Adern durchzogen, und seine Haut hing in schlaffen Falten herab. Seine Zähne waren gelb und gesplittert, einer der Stoßzähne war schon vor vielen Jahren abgebrochen. Er konnte sich kaum ohne fremde Hilfe erheben, und wenn er ging, so tat er dies mit krummem Rücken und sehr, sehr kleinen und vorsichtigen Schritten.

Doch selbst der stolzeste Krieger huldigte ihm, dem Schamanen, mit Respekt.

Ein bisschen Knochenstaub, ein paar Tannar-Beeren … alles Teil einer altbewährten Tradition, die unter den Orcs der Gegenwart ihre Wiederbelebung erfahren hatte. Kalthars Vater hatte seinen Sohn sogar während der dunklen Jahre der Horde alles gelehrt, genau wie es Kalthars Großvater zuvor den eigenen Sohn gelehrt hatte.

Und nun, zum ersten Mal in seinem Leben, hoffte der alte Schamane inständig, dass er ein guter Schüler gewesen war.

Stimmen murmelten in seinem Kopf, die Geister jener Welt, die die Orcs nun ihre Heimat nannten. Normalerweise flüsterten sie von den kleinen Dingen, den Dingen des Lebens, aber jetzt raunten sie besorgt und warnend … ja, warnend …

Doch wovor warnten sie? Er musste mehr erfahren.

Kalthar griff in den Beutel an seiner Hüfte und zog drei getrocknete, schwarze Blätter hervor. Sie waren fast alles, was noch von einer einzelnen Pflanze übrig war, die er vor langer Zeit aus der alten Orc-Welt mitgebracht hatte. Man hatte Kalthar ermahnt, sie nicht zu benutzen, es sei denn, er hielt es für absolut notwendig. Seine Vater hatte diese Blätter niemals gebraucht, auch sein Großvater nicht.

Der Schamane warf sie in die Flammen.

Sofort verwandelte sich der Rauch in ein dickes, wirbelndes Dunkel. Nicht länger schwarz, sondern blau. Die Brauen des Orcs fürchten sich angesichts dieses Farbwechsels, dann lehnte er sich wieder weit vor und saugte so viel von den Dämpfen in seine Lungen, wie er nur konnte.

Die Welt verwandelte sich und mit ihr der Orc. Er war ein Vogel geworden, der seine riesigen Schwingen ausbreitete, während er über die Landschaft hinweg glitt. Er flog sorglos über die Berge, und sein Blick erfasste die kleinsten Tiere, die entferntesten Flüsse. Ein Hochgefühl, wie er es seit seiner Jugend nicht mehr verspürt hatte, erfüllte Kalthar, aber er kämpfte gegen diese Freude an. Wenn er ihr nachgab, riskierte er, sein Gespür für sein eigenes Ich zu verlieren. Dann würde er für immer als Vogel weiterfliegen und sich nicht mehr daran erinnern, wer und was er einmal war.

Und während er noch diese Gefahren bedachte, bemerkte Kalthar plötzlich, dass im Wesen der Welt etwas falsch war. Möglicherweise lag hier der Grund für die Angst in den Stimmen. Etwas war, das nicht sein sollte. Er wandte sich in die Richtung, aus der er es zu spüren glaubte, und wurde immer banger, je näher er ihm kam.

Und in der tiefsten Schlucht der Bergkette entdeckte der Schamane die Quelle seiner Furcht.

Sein gelehrter Geist wusste, dass seine Seele in einer Vision einem Konzept gegenüberstand, dass nichts von dem, was er hier erfuhr, wirklich real war, nichts tatsächlich existierte. All dies wusste er. Aber er glaubte es nicht. Alles war so wirklich.

Kalthar erschien es als ein Wasserstrudel – doch einer, der die Dinge gleichzeitig verschlang und ausspie. Und das, was aus den Tiefen erschien und in ihnen verschwand, waren Tage und Nächte, Monate und Jahre. Der Trichter schien die Zeit selbst hinunterzuschlingen und wieder auszuspeien.

Die Vorstellung entsetzte und verwirrte den Schamanen so sehr, dass er erst, als es schon beinahe zu spät war, bemerkte, dass der Trichter jetzt versuchte, auch ihn einzusaugen.

Sofort strengte Kalthar seine Vogelgestalt an, um sich zu befreien. Er flatterte mit den Flügeln, legte all seine Kraft in die Muskulatur. Sein Geist griff nach dem alten Leib, der am Feuer saß, zerrte hart an dem hauchdünnen Band, das Körper und Seele verband und versuchte, die Trance zu brechen.

Noch immer zog ihn der Trichter auf sich zu.

Verzweifelt rief Kalthar nach den Geistern, die ihn auf seinem schamanischen Weg führten, betete zu ihnen, sie mögen ihm Stärke verleihen. Sie kamen – wie er gewusst hatte, dass sie kommen würden –, doch zuerst schienen sie zu langsam zu arbeiten. Der Trichter des Strudels füllte seine gesamte Sicht aus, schien bereit, ihn zu vertilgen.

Plötzlich wirbelte die Welt um den Schamanen. Der Trichter, die Berge … alles drehte und drehte sich …

… und mit einem Aufkeuchen erwachte Kalthar.

Erschöpfter als er es jemals zuvor gewesen war, konnte er nur knapp verhindern, dass sein Körper mit dem Gesicht voran ins Feuer stürzte. Er fing sich mit beiden Händen auf. Die ständig murmelnden Stimmen waren verschwunden. Der Orc lag auf dem Boden seiner Hütte und versuchte sich zu beteuern, dass er – ja, ganz gewiss! – jetzt wieder ganz in der sterblichen Welt existierte. Die Geister hatten ihn gerettet, wenn auch in allerletzter Sekunde.

Aber mit dieser glücklichen Gewissheit kam die Erinnerung an die Geschehnisse, deren Zeuge er in seiner Vision geworden war … und an das, was sie bedeuteten.

»Ich muss Thrall davon erzählen«, murmelte er und kämpfte sich auf seine müden, alten Beine. »Ich muss es ihm schnell berichten … oder wir verlieren unsere Heimat … unsere Welt … ein weiteres Mal!«

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