Vier

Das Feldlazarett war wenig mehr als ein aufgespanntes, fleckiges Stück Segeltuch, das sich etwa fünfzig Meter vom Lager der Komantschen entfernt gerade in einer leichten Brise aufbauschte. Noch bevor Sam und Dean dort ankamen, konnten sie das Stöhnen und die Schreie der Männer hören, die im Inneren lagen.

„Doc, ich bin angeschossen worden.“

„Es ist das Knochenbrecherfieber … Ich kann schon hören, wie die Engelschöre mich rufen …“

„Geben Sie mir ’ne Kugel zum Draufbeißen. Das Bein ist brandig. Ich glaub, es muss ab …“

Für Sam – der mehr als seinen Teil an Schmerz und Sterben erlebt hatte – klangen diese Äußerungen beängstigend realistisch.

Wo haben die gelernt, so überzeugend zu klingen?, fragte er sich. Und warum wollen die das überhaupt?

Er hob eine Zeltklappe hoch und sah hinein. Wohin er auch schaute, lagen Soldaten Schulter an Schulter auf Matten, manche auch auf der bloßen Erde. Sie stöhnten und flehten fast ohne Unterlass.

In der Mitte stand ein Mann in einem schäbigen weißen Kittel, der ihm bis zu den Knien ging. Er sah so aus, als würde er noch weniger hierher gehören als Dean und Sam.

„Cass“, sagte Dean. „Was ist hier los? Warum mischst du dich ausgerechnet hier unter das gemeine Volk?“

Castiel sah nicht einmal auf. Er hatte seine Hand auf den Kopf eines Verwundeten gelegt, und seine Lippen bewegten sich sanft. Dann beugte er sich nach unten, zog den Soldaten hoch, stellte ihn auf die Beine und scheuchte ihn zurück.

Der Akteur taumelte rückwärts und stolperte über die Körper der Männer hinter ihm. Verwirrt sah er zu Castiel auf.

„Was zur Hölle sollte das?“

„Ich habe Ihren Beinen die Kraft zurückgegeben“, antwortete Castiel mit unergründlicher Miene. „Der Nächste bitte!“

„Cass …“, begann Dean.

Castiel ignorierte ihn weiter und beugte sich über einen Soldaten, dessen Gesicht unter vielen Lagen verrutschter, blutiger Bandagen verborgen war.

„Lassen Sie mich das ansehen“, sagte er und legte seine Hand direkt über die Augen des Mannes. „Da. Jetzt sehen Sie mich an!“

Der Darsteller runzelte die Stirn und blinzelte.

„Wo kommst du denn her, Alter?“

„Vom Himmel“, sagte Castiel und begann das blutbefleckte Hemd des Mannes anzuheben. „Also lassen Sie mich mal die Brustverletzung sehen.“

„Nehmen Sie die Finger weg!“, rief der Mann und wand sich davon.

Castiel blieb stocksteif stehen, seine Arme waren noch halb ausgestreckt. Sam sah zu Dean hinüber.

Die „Verwundeten“ überall im Zelt hatten begonnen, sich in die Ecken zurückzuziehen, ohne dabei ihre Rollen als Verletzte vollkommen zu vergessen. Endlich blickte Castiel sich um und bemerkte, dass die Winchesters im Zelt standen und ihn beobachteten.

Ein leichtes Runzeln zeigte sich auf seiner Stirn.

„Whoa“, sagte Dean. „Wir stören wohl.“

„Was macht ihr denn hier?“, fragte Castiel.

Dean zog die Augenbrauen hoch.

„Das wollte ich dich auch gerade fragen, Cass.“

„Ich bin vor einhundertsechzig Jahren über die Schlachtfelder des Südens gezogen“, antwortete Castiel, und sein Blick schien in die Ferne zu schweifen. „Ich war unter den Männern und habe ihre Seelen zum Ruhm geführt. Und jetzt …“

Etwas zuckte über sein Gesicht, nur einen flüchtigen Augenblick lang, so kurz und flüchtig, dass es Dean fast entgangen wäre: Es war ein Hoffnungsschimmer.

„Und jetzt“, wiederholte er, „kann ich wieder heilen.“

„Cass …“ Dean schüttelte den Kopf. „Dir ist schon klar, dass keiner von diesen Spaßvögeln wirklich verletzt ist?“

Castiels Miene verfinsterte sich, aber er sagte nichts.

„Siehst du?“ Dean stieß den Mann, der direkt neben ihm lag, mit dem Fuß an, und der Spieler stieß einen wohlgeübten Schmerzenslaut aus. „Es ist eine Vorführung. Ihr Hobby. Wie bei diesen Ehepaaren, die sich als Stofftiere verkleiden und …“

„Dean“, schnitt Sam ihm das Wort ab.

„Sorry.“ Er wandte sich wieder dem Engel zu und zuckte mit den Schultern.

Castiel betrachtete die Leute im Zelt und seufzte. Er drehte sich um, zog den weißen Kittel aus und warf ihn auf den Boden. Er vermied es immer noch, ihnen in die Augen zu sehen. Stattdessen nahm er seinen wohlbekannten Trenchcoat von einem der Tische und schlüpfte hinein. Als er sich wieder zu Dean und Sam umdrehte, war sein Gesichtsausdruck vollkommen gefasst. Der Hoffnungsschimmer war verflogen, begraben hinter der eisernen Maske der Entschlossenheit.

„Ich habe Wichtigeres zu tun“, verkündete er.

„Die große Suche nach Gott“, sagte Dean. „Sag mal, ist er eigentlich ein Fan des Bürgerkriegs?“

„Ich habe gerade erst eine Spur gefunden“, sagte Castiel. „Ein Zeuge erster Ordnung.“

„Ist das so etwas wie ein Polizist?“

„Zeugen erster Ordnung sind die seltensten aller himmlischen Wesen. Der Ausdruck bezieht sich auf jemanden, der das Brot mit Christus gebrochen hat.“

„Du meinst, er kennt ihn sozusagen über sechs Ecken?“, fragte Dean.

„Weniger als sechs. Direkt.“

„Warum glaubst du, dass er auspacken wird?“

„Das ist der Durchbruch, auf den ich gehofft hatte. Wer immer der Zeuge ist, er wird mir Rede und Antwort stehen.“

„Respekt vor so viel Selbstvertrauen“, sagte Dean. „Aber betrachten wir es doch mal ernsthaft …“

Dann verstummte er.

Die Stelle, an der Castiel gerade noch gestanden hatte, war leer.

Kopfschüttelnd sah Dean sich um. Einige der Darsteller hatten ihre Rolle Rolle sein lassen und waren aufgestanden. Sie starrten ungläubig auf die Stelle, an der Castiel nicht stand.

„Wer war denn dieser Freak?“, stammelte einer.

Freak?“ Dean sah sich um. Erwachsene Männer in Kostümen, die zusammengekrümmt dalagen, weil sie sich blaue Flecken und Wunden aufgemalt hatten. Sam hatte Angst, Dean könnte etwas sagen, was sie beide noch bedauern würden.

Aber der schüttelte einfach nur den Kopf.

„Macht euch keine Sorgen“, sagte er. „Der kommt nicht zurück.“

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