Drei

Eine Stunde später nahm Dean eine Hand vom Lenkrad und zeigte auf ein Schild, das rechts neben dem zweispurigen Highway stand.

WILLKOMMEN IM


HISTORISCHEN MISSION’S RIDGE, GEORGIA,

DER FREUNDLICHSTEN KLEINSTADT DES SÜDENS

„WIR FREUEN UNS UNGLAUBLICH,


DASS IHR HIER SEID!“

„Siehst du, ich habe doch gesagt, das wäre eine gute Idee“, sagte Dean. „Sie freuen sich unglaublich.“

Sam blickte von seinem Laptop auf, den er auf den Knien balancierte.

“Ich frage mich, ob die Opfer des Massakers die berühmte Gastfreundschaft der Südstaatler ebenso sehr genossen haben“, sagte er trocken.

„Also, wen kennst du in Ilchester?“, fragte Dean.

Sam schüttelte den Kopf.

„Jemand wollte, dass wir herkommen.“

„Oder auch nicht.“

„So oder so …“

„Nennen wir die Sache doch beim Namen, Sammy“, sagte Dean. „Das Kloster St. Mary’s in Ilchester – dort hast du Luzifer freigesetzt. Das ist kein Zufall.“

Dean griff nach vorne, öffnete das Handschuhfach, zog eine lederne Brieftasche heraus und warf sie auf den Sitz neben Sam.

„Werd mal locker, Alter. Ich liebe den Süden.“

„Klar.“ Sam klappte die Brieftasche auf, um zu sehen, unter welcher Identität er unterwegs war, dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Vororten zu. Der Impala überquerte eine Reihe von Bahngleisen und erreichte das Stadtzentrum.

Mission’s Ridge bestand aus einer schmalen Hauptstraße mit Läden auf beiden Seiten. Fußgänger drängten sich auf den Gehsteigen, aber keiner hatte es eilig, irgendwohin zu kommen. Hoch über ihren Köpfen kündigte ein Banner die Nachstellung der Schlacht von Mission’s Ridge im Rahmen der Feierlichkeiten zum historischen Jahrestag der Schlacht an. Die Schatzjäger und Schnäppchensucher zogen gleich familienweise durch die Antiquitätengeschäfte und billig gemachten Museen, in denen „Geistertouren bei Mondlicht“ und „Familienporträts in echten antiken Kostümen“ angepriesen wurden. Niemand schien sich so recht daran zu stören, dass draußen vor der Stadt vor Kurzem eine blutige Schießerei stattgefunden hatte.

Sie fuhren jetzt durch die Innenstadt. Dean verlangsamte das Tempo und bremste den Impala bis zum Stillstand ab. Vor ihnen schlenderten ein paar sonnengebräunte junge Frauen in abgeschnittenen Jeans und schulterfreien Tops vorbei. Eine von ihnen hielt an und ließ ihre Sonnenbrille nach vorne rutschen, um Dean zu inspizieren.

„Hatte ich eigentlich erwähnt“ – er schüttelte lächelnd den Kopf –, „wie sehr ich den Süden liebe?“

Sam hörte ein anerkennendes Pfeifen, und eine der Frauen blickte sich um. Von der anderen Straßenseite her kamen zwei junge Bürgerkriegssoldaten in staubiger konföderierter Kluft über die Straße geschlendert. Sie blieben genau vor dem Impala stehen, um die Mädchen anzusprechen. Die vier standen schwatzend mitten auf der Kreuzung. Eines der Mädchen streckte die Hand aus, um eine der Musketen zu bewundern.

„Hey!“, rief Dean aus dem Seitenfenster. „Mason und Dixon! Der Krieg ist zu Ende!“

Die beiden Soldaten ignorierten ihn. Dean hupte, und einer der Männer erhob den Finger zu einer, wie Dean meinte, nicht gerade historisch korrekten Geste. Langsam bewegte sich das Quartett weiter.

„Komm schon!“ Sam konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Das Schlachtfeld ist auf der anderen Seite der Stadt.“

„Richtig.“ Das Auto bewegte sich nicht von seinem Standort fort.

„Dean.“

Was?“

„Konzentrier dich!“

„Das mache ich, mache ich wirklich.“ Er beobachtete immer noch die Mädchen und Soldaten im Seitenspiegel. „Mann, ein Job, in dem man viel reisen muss, sollte doch wenigstens den ein oder anderen Vorzug haben.“ Dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder Sam zu. „Hier. Richte mal deine Krawatte, die sitzt ganz schief.“ Dean streckte die Hand aus, um Sam zu helfen, doch der zuckte zusammen.

Dean runzelte die Stirn.

„Was ist los?“

Sam zögerte.

„Es geht um diesen Traum, den ich vorhin hatte. Ich erinnere mich nicht an viel, außer dass da irgendetwas um meinen Hals herum war und mir die Kehle zugedrückt hat. Ich hab keine Luft mehr bekommen.“

„Das war’s?“

„Ich glaube schon.“

Dean sah nicht überzeugt aus, und Sam konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen. Sams Problem war, dass er sich an keine Details erinnern konnte. Und einfach das vage Gefühl des Grauens zu beschreiben, das würde seinen Bruder nur noch nervöser machen. Wenn er sich an Details erinnerte – etwa an die Stimme, die zu ihm gesprochen hatte, und daran, was sie gesagt hatte –, dann würde er es Dean erzählen. Bis dahin würde er schweigen. Zeit, das Thema zu wechseln.

„Um mal was Gutes zu vermelden, wir haben wenigstens ein starkes WLAN-Signal“, sagte Sam. Er wandte sich wieder dem Laptop zu und scrollte durch die vielen Treffer, die seine Suche nach „Mission’s Ridge“ ergeben hatte. Es gab reichlich Links zu Seiten, auf denen es um die Schlacht und die jährliche Feier mit der Nachstellung der Kampfhandlungen ging. Allerdings wurden die Schilderungen der historischen Ereignisse zurzeit in ihrer Anzahl von der aktuellen Berichterstattung über den blutigen Zwischenfall in den Schatten gestellt. Der Tenor der Berichte war, dass einer der Akteure es auf unerklärliche Weise geschafft hatte, sich und zwei Mitspieler mit einer nachgebauten Muskete und einem Bajonett, das ungefähr die Schärfe eines Buttermessers besaß, umzubringen. Die Details passten zu dem, was Rufus ihnen bereits am Friedhof erzählt hatte, allerdings mit einer entscheidenden Ausnahme: Das Blut auf den Tatwaffen wurde mit keiner Silbe erwähnt.

„Sieht so aus, als wäre der größte Teil der Kämpfe am Hang eines Hügels, der an einem Flüsschen südöstlich der Stadt liegt, ausgetragen worden“, sagte Sam und zeigte auf die Karte auf dem Bildschirm. „Dort haben die Rollenspieler auch ihr Lager aufgeschlagen.“

„Und dort sind auch die Schüsse gefallen?“, fragte Dean.

„Sieht so aus.“

Dean trat aufs Gaspedal, drehte das Radio auf und steuerte sie durch das Gewimmel.

Kurze Zeit später fand Dean einen Sender, der Midnight Rider von den Allman Brothers spielte – guter, solider Rock ’n’ Roll aus dem Süden. Die Fenster waren heruntergelassen, und eine Brise zog durch das Auto. Dean drehte die Lautstärke auf.

Schnell waren sie wieder auf dem Land, aber die Landschaft auf dieser Seite der Stadt war anders. Irgendetwas hatte die Felder hier vollkommen leer geräumt, vermutlich steckte entweder ein Feuer oder ein Immobilienentwickler dahinter. Das Gras war grün und wirkte beinahe wie mit der Nagelschere geschnitten. An der Spitze des nächsten Hügels konnte Sam Denkmäler und Kanonen ausmachen, außerdem einen Parkplatz mit Autos, der mindestens so viel Platz einzunehmen schien wie das Städtchen, das Sam und Dean gerade hinter sich gelassen hatten. Ein großes braunes Schild stand rechts neben der Fahrbahn.

Nationale historische Gedenkstätte –

Suchen nach Relikten verboten

„Ich würde sagen, hier sind wir richtig“, sagte Dean, bog auf das Grundstück ab und kämpfte sich so lange durch die Reihen, bis er einen leeren Parkplatz neben ein paar Harleys gefunden hatte. An jedem der Motorräder flatterte eine konföderierte Flagge von einer kleinen Fahnenstange am Heck. „Hast du Lust auf ein bisschen Action?“, fragte Dean.

Sam nickte und stieg aus.

„Den Medienberichten zufolge war der Name des Schützen Dave Wolverton. Er war Kellner in einem Restaurant am Flughafen von Atlanta. Das hier hat er nur am Wochenende gemacht.“

„Tja“, sagte Dean und wies mit einer Geste über den Parkplatz. „Wie es aussieht, war er da nicht alleine.“

Als sie auf der Spitze des Hügels angekommen waren, schaute Sam nach Westen, und Dean sah, wie ein Ausdruck von Unglauben über das Gesicht seines Bruders huschte. Jenseits des Zuschauerfeldes schien sich der Hang nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich in weite Ferne zu erstrecken. Ganze Armeen von Männern in blauen und grauen Uniformen biwakierten zu beiden Seiten des Flüsschens, das sich am Fuße des Hügels entlangzog. Soweit das Auge reichte, über ein Gelände von gut und gerne einigen Quadratkilometern, waren Zelte, Wagen, Pferde, Kanonen, Flaggen und landwirtschaftliche Geräte verstreut.

„Was hältst du davon?„, fragte Sam.

Dean schüttelte den Kopf.

Diesen Bürgerkrieg brauche ich nicht.“

Sie bahnten sich einen Weg durch die Zuschauer, vorbei an ein paar Dixie-Klos. Davor warteten lange Schlangen von Menschen – eine Mischung aus Leuten in Shorts und Kid-Rock-T-Shirts und anderen in historischen Kostümen – darauf, die Einrichtungen benutzen zu können.

Dahinter begann das eigentliche Feldlager. Soldaten liefen von Zelt zu Zelt und bewunderten gegenseitig ihre Waffen und Uniformen. Auch Frauen und Kinder in ähnlicher Kluft bewegten sich durch die Menge. Die Menschen unterhielten sich hier in einer Sprache, die voller förmlicher Floskeln war. So etwas hatte Dean schon lange nicht mehr gehört, zuletzt, als Sam ihn einmal zu einem Abendessen in ein Themenrestaurant der Kette Medieval Times geschleppt hatte.

Signalhörner und Kanonendonner ertönten weiter oberhalb.

„Hörst du das?“

„Es kommt von dort“, sagte Sam und zeigte auf die Lautsprecher, die am oberen Rand des Felds entlang dem Abhang standen.

„Die Informationen von den Websites besagen, dass sie sogar authentischen Schlachtenlärm einspielen können.“

„Ja“, sagte Dean. „Aber wo gibt’s hier den Schmalzkuchen?“

„Das ist doch kein Jahrmarkt, Dean.“

„Komm schon, es zählt erst als Geschichte, wenn man’s auch essen kann.“

Sam schüttelte einfach nur den Kopf und ging weiter.

„Der Sheriff hat gesagt, dass Wolvertons Regiment das Zweiunddreißigste war.“

Sie schoben sich durch ganze Trauben von Akteuren am Fuße des Hügels und suchten nach irgendeinem Hinweis auf Wolvertons Gruppe. Essbar oder nicht, dieses Treffen bot wirklich das ganze Drumherum gelebter Geschichte, fand Sam. Hier, vom Boden aus, erschien dieses ganze Gewimmel sinnlos und ohne Ordnung. Wenn man es von oben betrachtete, mochten vielleicht bestimmte Muster hervortreten, aber …

Plötzlich wurde er zur Seite geschubst.

„Hey“, schnauzte ihn jemand an. „Pass auf, wo du hingehst, Arschgesicht!“

Die Beleidigung kam von einem stämmigen Unionssoldaten mit rot angelaufenem Gesicht, der aussah, als hätte er sich bereits viel zu viele Schmalzkuchen einverleibt – oder was auch immer sie hier an den Lagerfeuern servierten.

Dean wurde zornig.

„Wie bitte?“, antwortete er und stemmte die Füße breitbeinig in den Boden.

„Ganz ruhig“, sagte Sam und blickte den Soldaten an. „Wir suchen das Zweiunddreißigste. Gibt es ’ne Chance, dass Sie uns den richtigen Weg weisen?“

„Da rüber“, sagte der Mann, während er Dean weiterhin wütend anstarrte. „Fünf oder sechs Zelte weiter.“

„Danke!“, sagte Sam und schob Dean weiter.

„Arschgesicht“, murmelte Dean. „Glaubst du, dass das ein authentischer Ausdruck aus dem Bürgerkrieg ist?“

Sam lächelte. „Irgendwie habe ich da meine Zweifel.“

Sie drangen tiefer in die Welt der Soldaten ein, kamen an Zelten und Planwagen vorbei. Von irgendwoher drang ein metallisches Hämmern an Sams Ohr. Er drehte sich nach dem Geräusch um und sah, wie sich ein muskulöser Hufschmied über eine Esse voller glühender Kohlen beugte. Er bearbeitete Hufeisen mit dem Hammer auf einem Amboss, während eine Menge neugieriger Zuschauer zusah, wie die Funken flogen.

Am Waldrand stand ein Eisenbahnschuppen, und zu Deans und Sams Linken ein behelfsmäßiger Pferch mit Pferden, die ihre Nüstern durch den Weidezaun aus Holz steckten. Davor drängten sich gut gelaunte Kinder, die den Tieren Äpfel und Karotten zu fressen hinhielten.

Endlich, nachdem sie gut zehn Minuten weitergeschlendert waren, trafen sie auf eine Gruppe von zwölf Männern in konföderierten Uniformen, die unter einem zerfledderten Vorzelt standen. Das Zelt war auf der Seite mit dem Emblem der Einheit verziert.

Kämpfendes 32. Regiment – Komantschen

Als sie sich näherten, drehte der Wind, und Dean schnappte einen Hauch von säuerlichem Körpergeruch und ungewaschenen Haaren auf, in den sich eine stechende Ammoniaknote mischte, wie man sie gewöhnlich eher mit Ausnüchterungszellen oder Pflegeheimen in Verbindung brachte.

Diese Typen nehmen das mit der Authentizität wohl ein bisschen zu genau, dachte Dean insgeheim. Ein Blick zu seinem Bruder verriet ihm, dass der das Gleiche dachte.

Sie kamen bei einem der Pfähle an, die das Segeltuch des Zeltes stützten.

„Hallo, Leute“, sagte Dean.

Die Konföderierten des zweiunddreißigsten Regiments warfen ihm Blicke zu, die so leer und von einer so vollständigen Teilnahmslosigkeit waren, dass die Männer auch problemlos als Schaufensterpuppen durchgegangen wären. Zwei von ihnen säuberten gerade ihre Musketen, während ein dritter sich mitten in der Mittagshitze hingehockt hatte, um sich Wasser aus einer Feldflasche über Gesicht und Nacken zu gießen. Zwei andere versteckten sich geradezu vor Dean und Sam, indem sie ihre Gesichter hinter einer Landkarte aus Pergament verbargen.

„Ich bin Bundesagent Townes“, beharrte Dean. „Dieser alte Bursche hier ist Agent Van Zandt. Ihr Leute habt mit Dave Wolverton gedient, stimmt’s?“

„Richtig“, sagte der Mann, der am nächsten stand. Er war ein großer, schlaksiger Kerl, der ein dichtes, an Stahlwolle erinnerndes Geflecht aus ungekämmtem rotem Haar auf dem Kopf trug. Ein spärlicher Möchtegernbart, der an seinem Hals spross, betonte die Größe seines stark hervortretenden Adamsapfels zusätzlich.

„Wo waren Sie gestern?“, fragte Dean.

Der Mann nickte, und sein Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass er sich eigentlich nicht erinnern wollte.

„Ja, ich war direkt hinter ihm … Vielleicht zehn Schritte während des Angriffs.“ Er starrte in die Ferne.

„Also haben Sie gesehen, was passiert ist?“

„Ja, ich habe es gesehen.“ Er wandte sich wieder an Dean und bewegte die Hand in Richtung der anderen Männer im Zelt. „Das haben wir alle.“

„Und wir haben bereits mit dem Sheriff gesprochen.“ Ein anderer Soldat, einer der beiden mit den Musketen, trat vor. „Wir haben nichts mehr dazu zu sagen.“

Dean betrachtete den zweiten Typen eingehend. Er war ein grüblerischer Bär von einem Mann mit Schultern wie Scheunenbalken. Seine Augenbrauen sahen aus, als ob man sie ihm mit einem dicken Filzschreiber aufgemalt hätte. Er schien seine Rolle ernster zu nehmen als sein Kamerad und reckte Dean herausfordernd sein Kinn entgegen.

Der schüttelte einfach nur den Kopf und weigerte sich, diesen Köder zu schlucken. „Rühren, Lieutenant“, sagte er ganz ruhig. „Ich habe nichts andeuten wollen. Es sind nur ein paar Fragen.“

„Ich bin Private“, grollte der bärige Kerl. „Norwalk Benjamin Pettigrew, CSA, meldet sich zum Dienst.“

„Ist das Ihr richtiger Name“, fragte Sam. „Oder ihr …?“

„Mein was?“

„Ihr Rollenname“, beendete Dean den Satz.

„Das hier ist kein Theater“, widersprach der Stahlwollekopf. „Wir sind alle Geschichtsrekonstrukteure. Ich bin Oren Henry Ashgrove. Wir interpretieren die Geschichte neu. Wir …“

„Mein richtiger Name ist Phil Oiler.“

Das kam von dem Bärenkerl. Dass der die Wahrheit sagte, schien ihm etwas von seiner Bedrohlichkeit zu nehmen und ließ ihn ein wenig in seiner Uniform zusammenschrumpfen. Dean verspürte tatsächlich so etwas wie Mitleid mit ihm. „Ich bin Versicherungsvertreter und komme aus Atlanta“, ergänzte Phil.

„Wie gut kannten Sie Dave?“

„Oh, wirklich gut“, sagte Ashgrove. „Er ist seit Jahren beim Zweiunddreißigsten. Was da passiert ist, das ist so verrückt. Ich meine, er war schon hart drauf …“

„Hart drauf – wie?“, fragte Sam.

„In jeder nur erdenklichen Weise“, mischte Oiler sich ein. „Fürs Erste hat er eine ganze Menge abgenommen. Während des Kriegs hat ein konföderierter Soldat durchschnittlich um die sechzig Kilogramm gewogen. Nachdem er zu uns gekommen ist, hat er zwei Jahre lang eisern nach der Atkins-Diät gegessen, damit er diesem Bild entspricht. Hat sich Steine in die Stiefel gesteckt und sich mit einem rostigen Stück Blech rasiert. Haben Sie das von seiner Uniform gehört?“

„Begeistern Sie mich“, sagte Dean.

„Er war total hart drauf. Hardcore. Die Knöpfe … Er hat sie in seinem eigenen Urin gebadet, damit das Metall auf die richtige Art oxidiert. Er ist derjenige, der das alles ins Rollen gebracht hat.“

„Warten Sie mal“, sagte Dean, dem klar wurde, was für einen Geruch er da vorhin aufgeschnappt hatte. „Sie sagen, Sie pissen auf Ihre eigenen Uniformen?“

„Nicht, wenn wir sie anhaben, aber sonst, ja, sicher.“ Der Gesichtsausdruck des dünnen Kerls grenzte an religiösen Eifer. „Nur so bekommt man es hin, dass sie authentisch aussehen. Ich meine …“ Der ehrfürchtige Tonfall wechselte jetzt in einen beinahe angewiderten. „Du läufst hier durch und siehst, wie ein paar von diesen Witzfiguren ihre Aktienportfolios auf dem Blackberry checken. Die entehren damit die Uniform, wissen Sie. Nicht Dave. Er war einfach so …“

„Hart drauf?“, beendete Sam den Satz.

„Total.“

„Hart genug, um eine scharfe Waffe zu einer historischen Nachstellung mitzubringen? Oder ein scharfes Messer?“

Die Männer schüttelten die Köpfe, aber das schien eher ein Ausdruck von Ungläubigkeit als eine Antwort zu sein. Es war, als ob das, was Sams Worte implizierten, ein derartiges Sakrileg war, dass allein der Gedanke daran ihnen die Sprache raubte.

„Aber Sie haben ihn definitiv schießen sehen?“, fragte Dean. „Und Sie haben gesehen, wie die anderen Soldaten getroffen wurden.“

Ashgrove sagte nichts, aber Oiler zwang sich ein steifes Nicken ab.

„Also muss er eine scharfe Waffe gehabt haben“, sagte Dean. „Wolverton muss die Muskete irgendwie modifiziert haben.“

Er wartete.

„Richtig?“

Keiner der Männer antwortete.

„Wo sind die Waffen jetzt?“

Ashgrove zuckte mit den Schultern.

„Wahrscheinlich im Büro des Sheriffs. Beweismittel.“

„War auf den Waffen irgendwo Blut?

„Da war überall Blut.“

„Ich meine, bevor Wolverton sie benutzt hat.“

Ashgrove starrte sie verwirrt an.

„Warum?“

Bevor Sam antworten konnte, mischte sich ein anderer Soldat ein. Der große, glatzköpfige Mann hatte offensichtlich bei dem Gespräch zugehört und schaute nun hinter der Karte hervor.

„Ich glaube, das ganze Blut kam erst später“, sagte er.

Dean machte einen Schritt auf ihn zu.

„Und Sie sind?“

Der Mann streckte die Hand aus.

„Private Travis Wapshot. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Sie gehören auch dieser Bande an?“

„Den Komantschen? Ja, wir sind eine ziemlich eingeschworene Truppe.“ Travis zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, das hier klingt verrückt. Und, zur Hölle, das ist es wahrscheinlich auch. Aber sind wir verrückter als Typen, die zehn Riesen bei einem wilden Wochenende mit ihrer Sekretärin in Las Vegas verprassen?“ Er blickte auf seine schmutzigen Handflächen. „Unser Dreck lässt sich wenigstens wieder abwaschen.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, sagte Dean. „Der Teil mit der Sekretärin hört sich für mich ganz gut an.“

Travis’ Blick verdunkelte sich.

„Wie bitte?“

„Vergessen Sie’s! Lassen Sie mich etwas fragen. Warum nehmen Sie all das hier eigentlich auf sich?“

Die drei Soldaten tauschten kurze, verräterische Blicke aus. Dann endlich antwortete Travis.

„Manchmal ist das moderne Leben einfach zu leicht. Zu bequem. Wir wollen wissen, wie es damals für die Männer gewesen ist. Das waren echte Erfahrungen. Das war das wahre Leben.“ Er hielt einen Moment inne, um zu überlegen. „Wir hatten da mal einen Kerl in unserer Einheit, einen Schlosser. Er hieß Art Edwards. Er ist letztes Jahr gestorben. Gehirntumor mit Metastasen. Hässliche, langwierige Krankheit. Aber er hat bei uns mitgemacht, bis seine Familie ihn ins Hospiz brachte. Er sagte immer, dass seine Zukunft nicht gerade rosig aussieht. Er zog die Vergangenheit vor.“

„Vielleicht hatte Dave Wolverton das bequeme Leben dermaßen satt“, mutmaßte Sam. „Hat sich entschlossen, alles hinzuschmeißen.“

Die anderen beiden Soldaten nickten ernst. Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu ergründen.

„Fällt Ihnen noch jemand ein, der uns etwas über Dave erzählen könnte?“

Travis nickte.

„Sie sollten vielleicht mit Will Tanner sprechen – er ist Private im Zweiunddreißigsten. Er und Dave haben viel miteinander rumgehangen, glaube ich. Auch außerhalb der Komantschen-Treffen.“

„Ist er hier?“

„Habe ihn nicht gesehen. Ich schaue aber mal nach, ob ich seine E-Mail-Adresse ausgraben kann.“

Der Mann mit dem Adamsapfel erhob die Stimme.

„Und Sie sollten sich mit dem Neuen treffen“, sagte er. „Dem Chirurgen …“

„Oh ja!“, mischte sich Oiler ein. „Sie müssen mit dem Chirurgen sprechen. Der ist superhart drauf.“

„Klar“, sagte Dean. Er hatte mittlerweile genug von Leuten, die hart drauf waren. „Ach, übrigens, hören Sie mal …“

„Nein, ernsthaft! Er hat sein Sanitätszelt gleich da drüben hinter den Bäumen aufgeschlagen.“ Oiler blickte finster. „Er hat sich auch einen total coolen Namen gegeben – Doktor … Wie war das gleich?“

Der dünne Soldat dachte eine Sekunde nach und schnippte mit den Fingern.

„Ich hab’s! Doktor Castiel.“

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