In der alten Kirche war es still. Mit den Taschenlampen, die sie sich von Tommy geliehen hatten, näherten Sam und Dean sich den Eingangsstufen. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund zweimal, heulte auf und verstummte dann. Es war zwei Uhr morgens, und über den schmalen Nebenstraßen der Stadt lag eine tiefe, narkoleptische Ruhe, die so nahe an einem Schlummer war, wie es nur eben ging.
„Erste Pfingstkirche von Mission’s Ridge“, las Dean vor und drehte sich zu Sam um.
Sam richtete seine Taschenlampe auf das Datum auf dem Grundpfeiler. „‚Im Jahr des Herrn 1833‘. Es ist das älteste noch existierende Gebäude der Stadt. Das Einzige, das die Unionsarmee nicht angezündet hat, nachdem General Meade die Rebellen auf dem Hügel vor der Stadt aufgemischt hatte.“ Er deutete auf den Weg, der um das Gebäude herumführte. „Und nach dem, was Sarah Rafferty uns erzählt hat, ist das hier der Ort, an dem sich für Dave Wolverton alles verändert hat – am Tag von Phil Oilers Hochzeit. Ich glaube, er und Phil stöberten hier herum und haben die Schlinge gefunden.“
„Und was dann? Haben sie sich das Ding abwechselnd umgelegt?“
„Es ist ein authentisches Relikt aus dem Bürgerkrieg“, sagte Sam. „Sie konnten wahrscheinlich nicht widerstehen …“ Er und Dean gingen an der Kirche entlang und folgten ihren Mauern bis zu einer dunklen Gasse.
„Pass auf!“, sagte Sam und ließ den Lichtstrahl seiner Lampe über die Bahngleise gleiten, die in der Ferne verschwanden.
„Eisenbahnschienen?“, murmelte Dean. „Hier?“
„Erinnerst du dich an den gepanzerten Zug? Der ist damals mitten durch die Stadt gefahren – und genau hier vorbeigekommen.“
„Verrückt“, sagte Dean und zuckte mit den Schultern. „Dann lass uns mal in die Kirche gehen.“
Das von Schindeln bedeckte Äußere des Gebäudes wirkte massiv und schien sich beinahe grenzenlos in alle Richtungen auszudehnen. Der Lichtstrahl aus Sams Taschenlampe blieb an einer schmalen Lastentreppe hängen, die an der Rückwand der Kirche nach unten führte. An ihrem Ende befand sich eine einfache weiße Tür mit einem viereckigen Fenster. Auf dem Weg nach unten bückte sich Dean und hob einen losen Ziegelstein von der Treppe auf, wickelte seine Jacke darum und durchschlug damit das Glas. Das Fenster zerbrach, und Splitter klirrten im Innern herunter. Dean griff durch das Loch – er nahm sich dabei vor Scherben in Acht –, fand den Türknauf und drehte ihn. Der Boden unter Sams und Deans Füßen knirschte, als sie über das zerbrochene Glas hineingingen.
Sam ging voran und ließ den Kegel seiner Taschenlampe über die Wände gleiten. Schwere Fetzen von Spinnweben hingen von der Decke herunter. Die Luft war stickig und staubig. Ihm wurde klar, dass sie in einem Lagerraum standen, einem großen, moderigen Raum voller alter Bibeln und Gesangbücher und Ständern mit Chorgewändern. Eine alte Orgel ragte, teilweise zerlegt, an einer Wand auf.
Sie hörten ein scharfes Klicken. Sam drehte sich blitzschnell um und erhaschte einen Blick auf eine Statue, die schräg über ihnen hing. Er richtete seine Taschenlampe darauf. Mit klopfendem Herzen entdeckte er blutbeschmierte Hände und ein ebensolches Gesicht an einer Holzstatue, die ihn und seinen Bruder von ihrem Kruzifix aus anstarrte. Der Gesichtsausdruck vereinte unendliches Leiden und Sanftmütigkeit in sich.
„Jesus“, keuchte Dean. „Was macht der denn hier im Keller?“
Sam zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht gab es ja einen Dogmenwechsel.“
Dean sah ihn verwirrt an.
„Wohin gehen wir?“
Sam sah ans andere Ende des Lagerraums, wo mehrere Flure in ungefähr ein halbes Dutzend unterschiedliche Richtungen führten. Tommy hatte ihnen vor ihrem Aufbruch noch erzählt, dass der Kirchenkeller ein Labyrinth aus Korridoren und kleinen Kammern sei, von denen einige bestimmt seit einem Jahrhundert nicht mehr ordentlich sauber gemacht worden waren.
Die Hälfte des Besitzes der Historischen Gesellschaft stammt von dort, hatte er ihnen erzählt. Aber dort sind noch einige Räume, die niemand mehr betreten hat, seit die Unionsarmee hier durchgekommen ist. Wenn die Schlinge dort irgendwo ist, dann finden Sie sie wahrscheinlich in einem davon.
Sie gingen weiter. Keiner von beiden sagte ein Wort. Dean war ein paar Schritte voraus und blieb stehen, um mit dem Fuß aufzustampfen.
„Hier drunter ist Metall“, verkündete er. „Hohl.“
„Du meinst, da ist noch eine Etage unter uns?“
Dean richtete die Lampe auf den Boden.
„Könnte sein“, sagte er. „Es ist ein schweres Metall, wie Eisen. Vielleicht auch Blei. Obwohl …“ Er schnüffelte. „Es riecht nach Ammoniak.“
„Ammoniumsulfat wurde früher als Brandschutzmittel eingesetzt“, sagte Sam. „Das lässt sich bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Sie haben es damals in Zirkuszelten und Armeeforts eingesetzt. Jemand hat hier unten etwas Wichtiges aufbewahrt, das er schützen wollte. Schau mal, ob du …“
„Einen Weg nach unten findest?“ Dean schwenkte die Taschenlampe direkt vor seinen Füßen und zeigte auf eine breite, trapezförmige Klappe mit einem Ringbolzen. „So wie das da?“
„Ja. Genau wie das da.“
Sam und Dean zogen beide an dem Ring, bis die Falltür hochschwang. Die Stufen nach unten waren so steil wie eine Leiter, und sie mussten ihre Taschenlampen unter den Arm klemmen, damit sie sich mit beiden Händen festhalten konnten.
Die Stufen endeten abrupt, und die Winchester-Brüder standen in einem feuchtkalten kubischen Raum voller abgestandener Luft. Die Wände waren mit einem Metall verkleidet, das wie Blei aussah und mit zahllosen Bolzen und Nieten durchsetzt war. Spinnweben häuften sich in den oberen Ecken des Raumes. Von ihrem Standort aus ließen die beiden Brüder ihre Taschenlampen einmal im Kreis langsam durch den Raum wandern.
Das Licht schien in den äußersten Ecken des Gewölbes zu verschwinden, so als würde der Raum selbst es mit durstigen Schlucken aufsaugen. Selbst mit ihren Lampen war es unmöglich, sämtliche entlegenen Winkel des Raums gleichzeitig im Auge zu behalten. Dort konnte alles Mögliche auf sie lauern.
„Was ist das hier?“, fragte Dean, und seine Stimme klang hohl und flach, als würde er in eine Konservendose sprechen.
„Sieht aus wie ein alter Operationssaal.“ Sams Taschenlampe war an einem Tisch mit Ledergurten mit Metallschnallen hängen geblieben. „Das ist Aristede Percys alte Praxis, würde ich sagen.“
„Im zweiten Kellergeschoss unter einer Kirche?“
„Hier würde doch keiner nach ihm suchen, oder? Und Doc Percy muss geglaubt haben, dass selbst die Unionsarmee nicht hier hereinkommt.“ Der Lichtstrahl von Sams Taschenlampe tanzte über die Wände, und er sah, dass das, was er zuerst für Spinnweben gehalten hatte, eigentlich Linien waren, die man in die Oberfläche geritzt hatte. „Dean, sieh dir das mal an!“
„Diagramme“, sagte Dean und blickte Sam über die Schulter an. „Doc Percys wundersame Seiltricks.“
Und da waren sie – Hunderte von technischen Zeichnungen, schmerzhaft detailgetreu, die jede nur erdenkliche Art von Knoten darstellten. Es war, als hätte Dr. Percy auf der Suche nach der einzig wahren Judasschlinge hier sein gesamtes Repertoire an Knoten, Schlingen und Schlaufen verewigt.
„Ich glaube, wir sind ganz nah dran, Dean“, sagte Sam.
„Ich glaube, wir sind mehr als nah dran.“
Er deutete mit dem Lichtstrahl nach vorne. Der Lichtkegel blieb in der Mitte des Raumes hängen. Im Mittelpunkt sah Sam eine kreisförmige Aussparung in den Bleiplatten. In der sonst nahtlos durchgängigen Oberfläche hatte man ein quadratisches, neunzig Zentimeter breites Loch im bloßen Erdboden freigelassen. Die metallischen Ecken von etwas Schwerem, Viereckigem glitzerten auf dem Sand. Es war eine Kiste in der Form eines Grabsteins, und sie leuchtete, ähnlich wie Beauchamps Sarg, mit einer eigenen, unirdischen Strahlung.
„Das ist ein Reliquienschrein“, sagte Sam. „Jede Wette, das ist genau das Ding, das die Dämonen auf dem Schlachtfeld gesucht haben.“
Dean lief zur Kiste hinüber, ging daneben in die Knie und wischte den Staub ab.
„Jemand ist kürzlich hier gewesen. Das hier wurde bereits ausgegraben, herausgenommen und wieder hineingestellt.“
Sam beugte sich neben Dean herunter und sah einen langen Metallgriff. Die beiden zogen daran, und das Reliquiar hob sich ohne großen Widerstand aus dem Erdloch. Sie stellten den Schrein auf dem bleiernen Boden ab.
„Sei vorsichtig!“, sagte Sam.
„Wenn das hier wieder nur voller Knochen ist, bin ich mehr als nur sauer“, entgegnete Dean.
Zusammen hoben sie den Deckel hoch. Die Kiste war nicht voller Knochen.
Die mit Messing ausgekleidete Kiste war so fein mit winzigen, komplizierten Linien und Textsymbolen graviert, dass es Dean an Schaltkreise erinnerte – die prähistorischen Vorfahren des Mikrochips. Allein das Betrachten des Deckels löste schon ein Pochen in seinem Kopf aus. Es war, als würde sein Gehirn versuchen, die Tausende von kleinen Linien aufzunehmen, ohne dass seine Augen es realisierten. Die Formeln und Beschwörungen des Reliquiars schienen perfekt ausformuliert in sein Bewusstsein zu springen. Er schloss die Augen und wandte sich ab.
Raus hier!, dachte er kopfschüttelnd. Verschwinde zur Hölle aus meinem Kopf, Kiste!
„Dean“, sagte Sam mit schwankender Stimme. Auch er wirkte verunsichert. „Sieh mal!“
Mit einem Grunzen öffnete Dean seine Augen wieder und blickte nach unten. Dabei vermied er sorgfältig, das Deckelinnere des Reliquiars mit den Augen zu streifen. In der Mitte des Kästchens, zusammengerollt wie eine Schlange auf rotem Samt, sah er die Schlinge. Sie war aus dickem, rauem Seil, steif vom Alter, und der Knoten starrte vor Blut, das vor eineinhalb Jahrhunderten vergossen worden war.
„Das ist sie also“, sagte Dean. „Das ist die Schlinge, die Aristede Percy geknüpft hat.“
„Sie hat wirklich sieben Windungen“, sagte Sam und hielt die Schlinge hoch. „Nur, dass die siebente verborgen ist. Sieh mal? Sie …“
Er erstarrte, die Taschenlampe fiel ihm aus der Hand, schlug auf dem bleiverkleideten Boden auf und rollte dann träge in einer Art Halbkreis an die Wand.
Dean zielte mit der eigenen Lampe auf seinen Bruder. Sam starrte ihn mit großen Augen an und hielt die Schlinge immer noch lose zwischen den Fingern. Sein Gesichtsausdruck zeigte schiere, unverhohlene Panik, und seine Botschaft war auf erschreckende Weise klar: Ich ersticke.
Unter Sams Kinn drückte sich eine schattenartige Einbuchtung gegen seinen Hals und schnürte ihm die Luftröhre zu. Es war, als würden sich unsichtbare Spanndrähte immer tiefer in die Haut an seinem Hals graben. Sams Augen traten aus ihren Höhlen, der Mund öffnete und schloss sich, unfähig, mehr als nur ein paar erstickte Kehlkopflaute von sich zu geben. Sam fiel auf die Knie.
„Bleib ruhig, Sam! Bleib ruhig, ich schneide dir das Ding ein für alle Mal ab!“
Vorsichtig, bedacht, die Schlinge auf keinen Fall zu berühren, schlug Dean seinem Bruder die Schlinge mit der Taschenlampe aus der Hand. Sie landete mit einem dumpfen, beinahe tropfnassen Schlag auf dem Boden. Dean klemmte die Taschenlampe unter den Arm und griff nach der Scheide an seinem Gürtel, um das Dämonenmesser hervorzuziehen.
Aber die Scheide war leer.
Das Messer war weg.