Dreiundzwanzig

Es war fünf nach drei Uhr morgens, als Jacqueline Daniels in ihr Büro ging, das Licht anknipste und einen Mann neben ihrem Schreibtisch stehen sah. Er hatte dort im Dunkeln auf sie gewartet, und einen Augenblick lang war sie so überrascht, dass sie kein Wort herausbrachte.

„Sie?“, sagte Daniels.

Der Mann stand absolut regungslos da und sah sie aus seinen dunklen Augen eindringlich an. Der Trenchcoat, den er schon bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte, stand jetzt offen, und sie konnte sehen, dass er keine Waffe in der Hand oder am Körper trug. Das machte ihn irgendwie noch viel gefährlicher.

„Wie sind Sie hier hereingekommen?“

„Bitte setzen Sie sich!“

„Wer sind Sie?“

„Wir müssen uns unterhalten.“

Daniels spürte einen Adrenalinschub durch ihre Schläfen rauschen. Es fühlte sich an, als ob jemand kleine, heiße Münzen gegen beide Seiten des Kopfes drücken würde. Nach dem Unfall auf der Straße hatte sie den ganzen Tag mit der Suche nach den Winchesters verbracht. Das FBI hatte sie bei der Jagd unterstützt, und genau das hatte alles noch viel komplizierter gemacht.

„Wir müssen uns unterhalten“, wiederholte er.

„Sie sind verhaftet“, erklärte sie ihm. „Dieser Stunt heute auf dem Highway ist mehr als genug, um Sie hinter Schloss und Riegel zu bringen.“

Sie drehte sich um und wollte sich von ihm entfernen. Der Mann erhob eine Hand, und die Tür schlug direkt vor ihrer Nase zu.

„Setzen Sie sich jetzt bitte hin!“, wies er sie an.

Daniels drehte sich wieder zu ihm um. Sie gab es auf, ihm die knallharte Gesetzeshüterin vorzuspielen. Stattdessen zeigte sich jetzt etwas noch Härteres in ihren Zügen. Es war der Ausdruck von kalter, fast klinischer Distanz.

„Sie haben keine Ahnung, in was sie sich hier einmischen“, sagte sie entschieden.

„Mein Name ist Castiel.“

„Ist mir egal, wie Sie sich nennen.“ Sie ging zum Schreibtisch zurück, griff nach ihren Handschellen, und ein stechender Schmerz durchzuckte ihr Genick – eine Nachwirkung des Unfalls. „Glauben Sie, dass Sie hier so einfach in mein Büro spazieren und mich herumkommandieren können?“

„Das hier ist mächtiger als Sie.“

„Nichts in dieser Stadt ist mächtiger als ich.“ Sie wollte ihm Handschellen anlegen, doch er hielt ihren Arm fest. Mit einer schnellen, mühelosen Bewegung drehte er ihre Hand um, sodass die Tätowierung zu sehen war. Er berührte sie vorsichtig.

„Die Sigille wird Sie nicht beschützen.“

Ein Anflug von Zweifel flackerte über Daniels’ Gesicht und verschwand.

„Gefällt es Ihnen? Das habe ich mir beim Mardi Gras in den Frühjahrsferien vor zwölf Jahren machen lassen. Dumme Kinderei, ich weiß, aber …“

„Sie lügen mich an.“

„Und wenn schon? Warum sollte mir wichtig sein, was Sie von mir denken?“

„Wir haben nicht viel Zeit“, sagte Castiel. „Ich brauche Judas, den Zeugen. Wo ist er?“

Daniels schüttelte den Kopf.

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie sprechen.“

„Sie wissen von der Schlinge. Sie ist bereits zweimal verschwunden, seit sie in Ihrer Obhut ist.“ Seine Augen zuckten wieder zu dem Tattoo. „Ich kenne dieses Zeichen.“

Sie antwortete nicht.

„Sagen Sie mir, wo mein Zeuge ist“, verlangte er. „Ich werde nicht noch einmal fragen.“

Der Sheriff bewegte sich nicht und ließ Castiel seine Hand noch einen Augenblick festhalten. Das Santeria-Tattoo hing zwischen ihnen, wie eine kleine, aber entscheidende Lüge, die aufgeflogen war.

Dann, ganz unerwartet, lächelte sie und zog ihre Hand zurück.

„Sie können fragen, was Sie wollen, Castiel … oder wie auch immer Ihr Name ist. Stochern Sie in meinem Kopf herum! Machen Sie es sich bequem! Bleiben Sie die ganze Nacht!“ Das Lächeln verschwand. „Ich weiß gar nichts.“

Castiels Gesichtszüge verhärteten sich. Obwohl er sich nicht tatsächlich vorwärtsbewegte, schien er jetzt immer größer und imposanter zu werden, bis seine Präsenz Daniels’ gesamtes Blickfeld einnahm. Seine Stimme zitterte vor unverhohlener Wut.

„Ich bin ein Engel des Herrn“, rief er. „Meine bloße Anwesenheit hier hat mich wertvolle Zeit gekostet. Zeit, die unwiederbringlich verloren ist. Das hier ist wichtig.“

Daniels machte einen Schritt zurück, ihre Augen weiteten sich, und ihr vegetatives Nervensystem reagierte. Sie spürte, wie der Schweiß unter ihren Achseln zu perlen begann, und ihr Pulsschlag beschleunigte sich in ihrer Kehle, bis sie sein Pochen in ihrem Hals spüren konnte. Dann zwang sie sich zur Ruhe.

„Wenn Sie ein Engel wären“, sagte sie wie eine strenge Mutter zu einem unartigen Kind. „Dann würden Sie mir den richtigen Weg weisen, oder?“ Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldigung, aber das ist meine Stadt. Meine Leute waren schon lange hier, bevor Sie gekommen sind, und wir werden die Dinge hier in Ordnung halten, lange nachdem Sie wieder fort sind.“ Sie blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wenn Sie dann mit Ihren Fragen fertig sind, würde ich gerne nach Hause gehen und ein Aspirin einwerfen. Irgendein Dumpfbeutel hat mich heute dazu gebracht, mein Auto zu Schrott zu fahren, und ich habe höllische Kopfschmerzen.“

Castiel streckte fast gedankenlos die Hand aus und strich über ihre Stirn.

„Das wird noch viel schlimmer.“

Sheriff Daniels öffnete den Mund, um zu antworten, und klappte ihn dann wieder zu. Ihr Bewusstsein wurde mit Bildern und Gefühlen überflutet – blendendes Licht und bedrohliche Dunkelheit, gerechter Zorn, der über die Schlachtfelder der Geschichte zog, und Gnade, göttliche Gnade.

„Ich werde nicht noch einmal fragen“, sagte Castiel. „Wo ist die Schlinge?“

Nun zweifelte Daniels nicht mehr. Vollkommen unwillkürlich war sie auf die Knie gefallen, und ihre Stimme, die jetzt nicht mutig klang – nicht mehr, nicht den kleinsten Hauch –, spie die Worte ohne den geringsten Zweifel aus.

„Die Kirche. Sie ist im Keller der Kirche“, sagte sie.

Als die überwältigenden Gefühle endlich verblasst waren, um Daniels mit der Mutter aller Migränen zurückzulassen, war Castiel längst fort. Sheriff Jacqueline Daniels raffte sich auf und schleppte sich den Rest des Weges zu ihrem Schreibtisch, wo sie sich in den Schreibtischstuhl fallen ließ und ihr Gesicht unter den Händen begrub. Sie wagte nicht einmal daran zu denken, was sie getan hatte.

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