Fünfunddreißig

Deus, et Pater Domini nostri Jesu Christi, invoco nomen sanctum …“

Der Streifenwagen fuhr durch ein Schlagloch. Durch den stechenden Schmerz hindurch packte Dean das Mikrofon noch fester und hielt es an seine Lippen. Er konnte hören, wie seine Stimme aus dem Lautsprecher auf dem Dach des Streifenwagens tönte. Die Lautstärke war auf Anschlag eingestellt. Die ganze Welt konnte Deans blecherne Stimme hören.

„… et clementiam tuam supplex exposco: ut adversus hunc …“

„Funktioniert es?“, rief Daniels.

Dean verzichtete auf eine Antwort und zeigte auf den halb eingestürzten Eisenbahnschuppen, der gut sechzig Meter vor ihnen lag. Der Sheriff trat das Gaspedal durch, und die Reifen schleuderten Klumpen aus verbranntem Dreck in die Luft. Der Wagen brach nach rechts aus, aber Daniels brachte ihn wieder auf Kurs.

Die Dämonen, die den Schuppen umzingelt hatten, wichen bereits zurück, fielen von ihren Pferden oder brachen in Wellen auf dem Boden zusammen. Sie warfen die Köpfe in den Nacken, und Rauch stieg in dichten Wolken aus ihren Mündern auf. Die Körper wanden sich in Krämpfen auf dem Boden, während sich die Dämonen von ihnen trennten und als Rauch nach oben wirbelten. Die Luft um den Eisenbahnschuppen herum begann eine dicke schwarze Patina aus schwebendem Ruß anzunehmen, beinahe wie der verschmutzte Himmel über einer Fabrikstadt irgendwo im Mittleren Westen.

„Machen Sie weiter“, sagte Daniels. „Nicht aufhören!“

Und Dean hörte nicht auf.

„… et omnem immundum spiritum, qui vexat hoc plasma tuum …“

Das Rituale Romanum sprudelte Dean ganz von selbst über die Lippen, ohne dass er einen bewussten Gedanken darauf verschwenden musste. Allein zu sehen, wie diese Bastarde umfielen, brachte ihn sowieso jedes Mal in Stimmung und zauberte ihm das Latein Zeile für Zeile einfach so auf die Lippen – ohne Zögern und ohne Unterbrechungen.

Der Wagen fuhr vor dem Schuppen vor und stoppte kurz vor den Körpern, die auf dem Gras vor dem Eingang lagen.

„Da drüben!“, rief Sheriff Daniels. „Sehen Sie!

Dean warf den Kopf herum und sah, was sie meinte. Einige der Dämonen – genauer gesagt, ganze Abteilungen von ihnen – liefen mit zugehaltenen Ohren in den Wald. Also machte er weiter.

„… mihi auxilium praestare digneris. Per eumdem Dominum.“

Das Rituale fällte noch ein paar von ihnen, bevor sie außer Hörweite kommen konnten, anderen gelang es, zwischen den Bäumen zu verschwinden.

Aber mittlerweile tat sich noch mehr.

Einige der Bürgerkriegsrollenspieler – die, die nicht von Dämonen besessen waren und immer noch versuchten, sich einen Weg vom Schlachtfeld herunterzukämpfen – standen nun ihren besessenen Waffenbrüdern gegenüber. Das Resultat ähnelte merkwürdig der Verwirrung und dem Chaos, wie es für echte Schlachten typisch war. Dean sah, dass einer der Nicht-Besessenen auf einen Dämon zuging, der die Kleidung eines Konföderierten trug. Er streckte seine Hände zu einer „Du erinnerst dich doch an mich?“-Geste aus. Die Antwort des Dämons bestand darin, dem Mann mitten ins Herz zu stechen, ihn umzustoßen und über seine blutige Leiche zu steigen.

Daniels trat auf die Bremse, und sie rutschten, bis der Wagen stillstand. Dean hatte den ersten Teil des Exorzismus beendet. Er konnte jetzt in den Schuppen hineinsehen. Die Dämonen waren verschwunden, oder genauer, sie waren zu einem Gemenge aus faulig riechender Dunkelheit reduziert worden, das sich gemächlich durch die Löcher im Dach nach oben verabschiedete.

Dean sprang aus dem Auto und zögerte kurz, blieb aber nicht stehen. Durch die dicken Schwaden aus Dämonen-Smog erblickte er Sam, der gekrümmt auf dem Boden hockte – es sah aus, als säße er mitten in einer Blutlache. Neben ihm kauerte ein Mädchen – das war Sarah Rafferty. Beide schienen sich gegenseitig zu stützen. Überall um sie herum lagen Rollenspieler blutend auf der Erde, bleich und bewegungslos, wie Haufen blutgetränkter Laken aus einem Operationssaal. Es war unmöglich zu sagen, wer – wenn überhaupt jemand – hier noch am Leben war.

Und natürlich ebenso wenig, wer beim Kampf gegen die Dämonen gestorben war und was nur noch eine leere fleischliche Hülle war, die irgendein Dämon zurückgelassen hatte.

„Sammy!“ Dean lief zu ihm hinüber. „Oh, Alter …“

„Ist schon okay“, sagte Sam. „Nicht so schlimm, wie es aussieht.“

„Das hoffe ich, weil es ziemlich beschissen schlimm aussieht.“

Sam schüttelte den Kopf.

„Was ist mit dir? McClane hat doch auf dich geschossen.“

„Das ging daneben. Bloß eine Fleischwunde.“

„Schwein gehabt.“ Sam sah sich um.

„Wo ist McClane überhaupt?“

„Ich muss ihm mit dem Rituale Feuer unter dem Hintern gemacht haben“, sagte Dean. „Ich dachte, du hast das gehört.“

„Nein.“ Sams Miene verfinsterte sich. „McClane war schon außer Hörweite, als der Exorzismus gewirkt hat. Hatte ein paar seiner Soldaten bei sich.“

Beide blickten Sheriff Daniels an. Ihr Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Enttäuschung und Besorgnis.

„Sie sind da draußen, und sie …“, sagte sie, doch dann brach ihre Stimme ab. „Sie haben sie gefunden?“, fragte sie und blickte an Sam vorbei.

Sie streckte den Arm an Sam vorbei in Richtung Boden aus, nahm ein loses Stück einer Bandage und hob die letzte, unzerschnittene Windung der Schlinge auf. Sie hielt das Seil auf Armeslänge von sich weg, als hätte sie Angst, ihm zu nahe zu kommen und wäre zugleich nicht imstande, es wieder hinzulegen.

„Die letzte Windung. Sie ist noch intakt.“

Sam nickte.

„Einer der Männer hat das Stück gefunden. Hat es bei einem Verwundeten als Aderpresse benutzt.“

„Keine gute Wahl.“

„Wem sagen Sie das!“, grunzte Sam.

„Aber …“ Daniels drehte das Seil in ihren Fingern und untersuchte es nach Fehlern. „… das ist gut für uns.“

„Was? Warum?“

„Die siebte ist die mächtigste Windung des Knotens. Wenn ich sie intakt zurück in ihren Reliquienschrein bringe und sie im Keller der Kirche einschließe, können wir die Wirkung der Schlinge aufheben.“

„Woher wissen Sie das alles?“, fragte Sam.

„Sie ist der erwählte Nachkomme des ersten Wächters der Schlinge“, platzte Dean heraus. „Sie haben geschworen, das Ding in einem dämonensicheren Raum aufzubewahren.“ Auf Sams überraschte Reaktion hin ergänzte er: „Ich habe mit Cass gesprochen.“

„Tommy McClane und ich haben einen gemeinsamen Vorfahren“, erklärte Daniels. „So viel haben Sie sich bestimmt schon gedacht. Aber Macht korrumpiert, und vollkommene Macht korrumpiert vollkommen. So sehr, wie ich die Schlinge wegschließen will, war McClane darauf aus, sie hervorzuholen – selbst als er noch nicht besessen war. Er begehrte ihre Macht, und das machte ihn zu einem attraktiven Gefäß für Dämonen niederen Rangs.

„Ich habe die Schlinge schon einmal in den Schrein zurückgebracht, nachdem ich sie bei Dave Wolvertons Leiche gefunden habe.“ Sie verstummte für einen Augenblick. „Aber was wollen die Dämonen erreichen?“

„Sie wollen, dass ich Luzifers Gefäß werde“, sagte Sam dumpf. Er ließ die Worte einfach im Raum stehen.

„Wie bitte?“

„Ist eine lange Geschichte“, mischte Dean sich ein. „Und zwar eine ziemlich hässliche.“

Er atmete tief ein und fühlte sich durch Daniels’ Worte bestärkt. „Also ist alles, was wir tun müssen, die letzte Windung wieder zurück in den Reliquienschrein bringen? Wie leicht ist das denn?“

„Überhaupt nicht leicht.“ Der Sheriff warf einen Blick durch die zerstörte Seite des Eisenbahnschuppens über das Schlachtfeld und nach Osten in Richtung Stadt. „Da steht immer noch eine Armee aus Dämonen zwischen uns und der Kirche. Und die sind bereit, alles zu tun, um uns aufzuhalten.“

„Was ist mit unserer Armee?“, fragte Sarah Rafferty. „Die Soldaten da draußen? Können die uns nicht helfen?“

„Sie haben doch gesehen, was diese Dinger anrichten“, sagte Dean, „Was glauben Sie denn?“

Daniels’ Gesicht war von völliger Hoffnungslosigkeit gezeichnet, was sie noch erschöpfter wirken ließ.

„Aber was wäre …?“

Sam bückte sich und hob eine Muskete auf.

„Wir bringen den Kampf zu ihnen.“

„Womit denn?“, fragte Dean. „Etwa mit diesen Replica-Waffen?“

„Dämonenwaffen können auch Dämonen umbringen“, sagte Sam. „Ich habe selbst erlebt, wie es draußen auf dem Schlachtfeld funktioniert hat, als ich eine Kanone auf einen Dämon gerichtet habe.“ Er sah seinem Bruder fest ins Gesicht. „Die Dinger funktionieren mit Blut, Dean. Dämonenblut.“

Dean gaffte ihn mit offenem Mund an, unfähig, den Blitz aus harten, heftigen Emotionen, der bei Sams Worten durch seinen Körper gejagt war, auszusprechen oder auch nur zu identifizieren.

War es Wut? Misstrauen? Nein, nichts davon kam dem im Entferntesten nahe. Ein Blick zu Sam verriet Dean, dass die Sache seinem Bruder noch schwerer im Magen lag als ihm selbst. Er sah vor Angst regelrecht versteinert aus.

„Rufus hat uns das erzählt, als das alles hier begann – dass die Waffen auf das Blut reagieren“, sagte Dean schließlich. „Er hat allerdings nicht gesagt, dass es Dämonenblut sein muss. Ich hasse dieses Zeug.“

„Du hast es nie probiert“, sagte Sam ruhig.

„Also finden wir einen Dämon“, mischte Daniels sich ein. „Und dann lassen wir ihn zur Ader. Wo ist das Problem?“

„Sie wissen doch, wie das ist – es ist nie einer da, wenn man einen braucht“, murrte Dean.

Dann sah Sam auf den Haufen mit blutigen Verbänden, die von der letzten Windung der Schlinge an ihrem Platz gehalten worden waren – die Überreste des Feldverbands des Soldaten.

„Ich glaube, ich habe, was wir brauchen“, sagte er.

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