Einundzwanzig

Sam lag auf dem Boden und starrte Hilfe suchend zu Dean hoch. Sein Gesicht, das vorher vollkommen blass ausgesehen hatte, nahm eine zyanotische Schattierung an, als sich die ersten Anzeichen irreversiblen Sauerstoffmangels tief in seine Gesichtszüge gruben. Dean fand irgendwo eine lose Stange, hob damit die Schlinge hoch und warf sie zurück in das Reliquiar. Dann wirbelte Dean herum und ließ den Strahl seiner Taschenlampe durch den Raum blitzen.

Wann habe ich das Messer verloren?

Hätte er es nicht hören müssen, wenn es auf den Metallboden gefallen wäre?

Was ist, wenn ich es schon vorher verloren habe? Draußen oder in einem anderen Raum?

Er blickte wieder auf den Boden. Sam hatte sich jetzt leicht zur Seite geneigt, er war nicht einmal mehr in der Lage, aufrecht zu sitzen. Mit schwindendem Bewusstsein begann sich auch der Ausdruck der Panik in seinem Gesicht zu verflüchtigen. Dean bückte sich, zog seinen Bruder wieder hoch und suchte nach einem Funken Leben in dessen Augen.

Er wird gleich ohnmächtig, drängte eine innere Stimme Dean. Er erstickt. Du musst etwas tun!

Hart blitzte in ihm die Erinnerung an die Worte eines Krankenwagenfahrers auf.

Wenn du es mit jemandem zu tun bekommst, der erstickt, ist keine Zeit für Experimente. Denn Zeit ist gleich Gehirn.

Dean blieb keine Zeit, nach dem Messer zu suchen.

Verzweifelt und weil ihm die Möglichkeiten ausgingen, zog Dean seinen Bruder vor sich und umschlang dessen Oberkörper von hinten mit seinen Armen. Er ballte eine Hand zur Faust, die er mit der anderen Hand fest packte und rammte sie dann in Sams Zwerchfell.

Nichts passierte.

Dean versuchte es erneut, diesmal mit noch mehr Wucht. Sam gab ein abruptes, schluckaufartiges Krächzen von sich. Etwas flog aus seinem Mund und schlug klimpernd auf dem Boden auf. Begierig schnappte Sam nach Luft.

„Alles in Ordnung?“, fragte Dean.

Sam rang sich ein schwaches Nicken ab. Tränen liefen ihm aus Augen und Nase, und der Schmutz überzog sein Gesicht wie eine Kriegsbemalung. Einen Moment lang sah er wie ein Sechsjähriger aus, der gerade vom Fahrrad gefallen war und sich das Knie aufgeschlagen hatte.

„Was …?“, krächzte er. „Was ist da aus mir herausgekommen?“

Dean ließ den Strahl der Taschenlampe über den bleiverkleideten Boden gleiten und blieb an einem kleinen, nassen Lederbeutel hängen, der keine zwei Meter von ihnen entfernt lag. Seine Verschlussschnur hatte sich gelockert. Ein paar zerkratzte Silberstücke lagen darum verstreut und leuchteten, wie tote, teilnahmslose Augen.

„Dreißig Silberlinge – tyrische Schekel“, flüsterte Dean und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Reliquienschrein. „Die Schlinge …“

Ein undeutliches Klimpern war zu hören. Er richtete seine Taschenlampe wieder zu dem Beutel mit den Silberstücken.

„Dean?“ Sams Stimme klang heiser. „Was …?“

Aus der hintersten Ecke drang ein Scharren an ihre Ohren.

„Wir sind hier unten nicht alleine“, sagte Dean.

Er blickte auf die verstreuten Münzen. Eine lange, schlanke Hand tauchte aus der Dunkelheit auf und griff sich eine Silbermünze. Dean riss die Lampe hoch und leuchtete in ein bärtiges Gesicht, das sie wild angrinste. Die Gestalt kam auf sie zu. Der Mann war groß und spindeldürr. Bis auf seine dichte schwarze Gesichtsbehaarung war seine Haut unnatürlich weiß und glatt. Aber sie wirkte auch feucht. Weniger wie Porzellan, eher wie das Fleisch eines Champignons. Von seinen abgemagerten Schultern hing ein farbloser, schäbiger Umhang mit Kapuze, der bis über die Füße reichte. Der Saum des Gewandes schleifte auf dem Boden.

„Ich glaube, das gehört mir.“ Kniend begann die Gestalt die Silberstücke aufzusammeln, um sie vorsichtig wieder in den Beutel zu legen, aus dem sie herausgefallen waren. Dann ließ er den Beutel unter seinem Umhang verschwinden.

„Judas?“, flüsterte Sam ungläubig.

„Nein. Ich bin eher so etwas wie sein Adjutant.“ Der Mann blickte wieder auf, und jetzt sah Dean seine Augen, deren Höhlen in einem absoluten, seelenlosen Schwarz gefärbt waren.

„Super“, sagte Dean. „Noch so ein dreckfressender Dämon. Genau, was wir …“

„Ich bin kein Dämon.“ Die Arme der Gestalt schossen nach vorne und seine Hände legten sich um Deans Hals. Der Mann riss ihn von den Füßen und hob ihn geradewegs in die Luft. Die Taschenlampe entglitt Dean, fiel zu Boden und erlosch. Für einen schwerelosen, wirbelnden Augenblick hatte er Zeit zu denken: Gleich wird es wehtun. Dann kollidierte schon etwas Flaches, Hartes – eine Wand oder der Boden – mit seinem Schädel und ließ ihn wie eine Glocke scheppern.

Dean sah erst doppelt, dann dreifach. Ganze Sternbilder – ganze Galaxien voller Sterne – ratterten durch seinen Kopf. Als er versuchte, sich aufzusetzen, hatte er nur den kupferigen Geschmack seines eigenen Blutes auf der Zunge.

„Bist du sicher … dass du kein Dämon bist?“, krächzte Dean.

„Ich bin ein Sammler“, sagte die Gestalt. „Die menschliche Bezeichnung, die es am ehesten trifft, dürfte wohl Geist sein. Abgesehen davon, dass ich eine feste Form einnehme. Um das noch einmal zu demonstrieren …“ Er zog einen Fuß mit irrer Geschwindigkeit nach hinten, schwang ihn nach vorne und traf Dean hart am Kopf.

Es war ein perfekt platzierter Tritt, der Dean knapp oberhalb seines Ohrs traf, und er spürte, wie die Welt um ihn herum zügig wie ein Zelt zusammensackte, dem man die Stangen weggetreten hatte.

Sam griff nach seiner Taschenlampe und schwenkte sie, bis er sehen konnte, dass der „Sammler“ auf ihn zukam. Mit jedem klirrenden Schritt schwang der Mantel der Gestalt schwer vor und zurück. Als sie näher kam, konnte Sam erkennen, dass auf dem Kleidungsstück eine Vielzahl – möglicherweise Hunderte – kleiner Taschen angebracht war. Jede enthielt einen Lederbeutel oder ein Täschchen voller Silberlinge. Der Umhang musste fast eine halbe Tonne wiegen.

„Wo ist Judas?“

„Hat’s nicht hierher geschafft“, antwortete die Gestalt. „Aber er lässt seine Grüße ausrichten.“

„Ist es das, was du machst?“, fragte Sam. „Du läufst bis in alle Ewigkeit herum und sammelst für ihn Blutgeld ein?“

„Immerhin bin ich nicht derjenige, der die Apokalypse ausgelöst hat“, antwortete der Sammler und lächelte. „Nicht, dass ich mich beschwere. Mein Arbeitgeber ist jetzt wieder angesagt. Plötzlich wollen alle die Schlinge – Menschen, weniger bedeutende Dämonen, Hexen.“ Er zuckte klimpernd mit den Schultern. „Verrat erlebt gerade einen Bullenmarkt.“

Sam sah sich um. Er konnte nur eine Waffe im Raum entdecken. Er hob den Reliquienschrein hoch und schleuderte ihn mit aller Kraft auf das Wesen.

Der Sammler duckte sich lachend. Die Kiste prallte an der Wand ab und landete zwischen ihnen. Judas’ Helfer schritt darüber hinweg und ließ seinen ausgestrecktem Arm mit übermenschlicher Schnelligkeit auf Sam zusausen. Als der Schlag Sam traf, steckte die gesamte Wucht des in den Ärmeln verborgenen Metalls in ihm. Es war, als ob der Körper des Sammlers selbst aus dem gesammelten Silber bestehen würde. Sams Kopf wurde in den Nacken geschleudert und prallte gegen die Wand. Seine Taschenlampe fiel zu Boden und erlosch. Jetzt war auch das letzte Quäntchen Licht aus dem Raum verschwunden.

Aber Sam konnte etwas hören. Es war ein ihm bekanntes Geräusch.

Das Kratzen von Metall gegen Metall. Es war ein dünnes, hartes Geräusch, und als Sam aufsah, konnte er tatsächlich ein paar Funken sprühen sehen. Das war nicht viel, aber es war genug, um einen Blick zu erhaschen. Für einen winzigen Augenblick hatte Sam die Spitze einer Stahlklinge in der bleichen Hand des Sammlers aufblitzen sehen.

„Habt ihr wirklich gedacht, ich lasse euch ungestraft über die Schwelle meines Hauses trampeln?“, grummelte die Stimme in der Dunkelheit. „Euch und eure schmutzige kleine Waffe?“

In diesem Moment brach ein starker Lichtstrahl von der Treppe her durch die Dunkelheit und erhellte den Raum.

„Wie kommst du nur darauf, dass das hier dein Haus ist, du Scheißkerl?“, fragte die Stimme von Tommy McClane.

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