Achtzehn

Die Reifen des Streifenwagens kamen quietschend vor Sam und Dean zum Stillstand, und Sheriff Daniels sprang mit Handschellen in der Hand aus dem Wagen. Ihr wütender Gesichtsausdruck hätte Stahl zum Schmelzen bringen können.

„Sie beide haben nicht die leiseste Ahnung, in was für Schwierigkeiten Sie stecken“, sagte sie. „Sie sind …“

„Festgenommen“, beendete Dean ihren Satz. „Ja, das ist uns klar.“

„Ran ans Auto!“ Daniels stieß Sam gegen den Wagen und riss seine Arme nach hinten. Dann ließ sie die Metallschellen an seinen Handgelenken zuschnappen und durchsuchte ihn gründlich. „Spreizen Sie die Beine!“

„Hey!“, sagte Dean. „Vergessen Sie mich bloß nicht!“

Daniels bugsierte Sam auf den Rücksitz des Streifenwagens. Der dickbäuchige Deputy – Jerry war der Name, den Dean aus seinem Gedächtnis hervorkramte – stieg vom Beifahrersitz und hielt den Knüppel in Bereitschaft, falls irgendetwas schiefgehen sollte. Zuerst dachte Dean, dass der Typ ihn gleich abtasten würde. Das hätte bewiesen, dass er gerade mitten in einer dicken Pechsträhne steckte. Aber der Deputy hatte das Autowrack gesehen, das ein Stück weiter die Straße runter stand, und ging weiter.

„Hey, Sheriff“, rief er ihr zu, „das wollen Sie sich sicher auch ansehen.“

„Warten Sie!“ Daniels legte Dean eilig Handschellen an. Er fühlte, wie sie ihre Hände schnell über seinen Körper gleiten ließ, während sie ihn grob abklopfte.

„Hey!“, sagte Dean. „Versuchen Sie’s mal etwas zärtlicher, hm?“

„Was ist das?“ Sie riss Rubys Dämonenmesser heraus und betrachtete es.

„Das hätte ich gern wieder zurück.“

„Daraus wird nichts.“ Sie öffnete die Autotür, schob ihn neben Sam und schloss sie wieder. Es war eng und roch nach irgendeinem Desinfektionsmittel auf Basis von Chlorbleiche. Weil Deans Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, musste er sich nach vorne beugen. An den hinteren Türen befanden sich zwei Griffe, ein Drahtgeflecht trennte sie von den Vordersitzen.

„Also, das ist Mist“, stellte Dean fest.

Sam nickte und sah Sheriff Daniels die Straße entlang auf ihren Deputy zugehen. Plötzlich hörte er Jerrys Stimme.

„Heilige Scheiße!“

„Hört sich so an, als hätten sie die Hüllen gefunden“, sagte Dean.

„Jep.“

„Das werden die uns in die Schuhe schieben.“

„Zweifellos.“

Sie sahen, wie Sheriff Daniels sich umdrehte und wieder auf den Streifenwagen zukam. Sie ging schnell, rannte fast. Daniels rutschte auf den Fahrersitz, nahm das Mikro des Funkgeräts in die Hand und drückte eine Taste.

„Hier ist Sheriff Daniels. Ich brauche sofort Verstärkung bei einem Verkehrsunfall auf Highway Siebzehn, bei Kilometer Einhundertdreiunddreißig. Mehrere bestätigte Opfer, massive Verletzungen, bitte die Rettungskräfte benachrichtigen!“

Das Funkgerät rauschte, und die Notfallleitstelle bestätigte die Anfrage, indem sie das Gesagte wiederholte.

„Ich hoffe, Sie beide haben einen guten Anwalt“, sagte Daniels und blickte sie finster aus dem Rückspiegel an. „Den werden Sie brauchen.“

„Wir haben ein paar Leute, die wir anrufen können“, sagte Dean.

Der Sheriff antwortete nicht. Sie drehte das Mikrofon zu und klinkte es wieder ein. Dabei rutschte ihr Ärmel hoch, und Dean sah etwas, das er vorher noch nicht bemerkt hatte. Die Symbole eines kleinen Tattoos breiteten sich auf ihrem rechten Handgelenk aus. Es war ein Kreis aus Zahlen, umgeben von winzigen Sternen. Innerhalb des kleineren Kreises formten zwei überlappende Pentagramme ein merkwürdig symmetrisches Muster wie eine Art Netz. Dean warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu, den dieser mit einem Nicken erwiderte. Auch Sam hatte es gesehen.

„Schickes Tattoo“, sagte Dean.

Daniels blieb stocksteif sitzen. Ohne sich umzudrehen, zog sie die Manschette ihres Hemds wieder über das Muster und verdeckte es.

„Ich bringe Sie zur Wache zurück“, sagte sie. „Mein Deputy wartet auf Verstärkung.“

„Das ist ein Santeria-Zauber, oder?“, fragte Sam.

Der Sheriff startete den Motor und wendete den Wagen. Sie trat das Gaspedal voll durch, und die V8-Maschine röhrte, während die Landschaft um sie herum in Vergessenheit geriet.

„Was wissen Sie über diese Schlinge?“, fragte Sam. „Was haben Sie damit vor?“

Daniels Gesicht leuchtete sie rot aus dem Rückspiegel an.

„An Ihrer Stelle würde ich nichts ohne meinen Anwalt sagen.“

„Sie haben viel größere Probleme als uns, Lady“, sagte Dean. „Sie haben den Fahrer gesehen. Glauben Sie ernsthaft, dass wir das waren?“ Er schüttelte den Kopf. „Da draußen in den Wäldern laufen Dinge rum, für die es nicht mal einen Namen gibt.“

Der Sheriff warf einen Blick nach hinten.

„Sie wären überrascht …“, begann sie, als gut fünfzig Meter vor ihnen etwas aus dem Wald hervorbrach und auf die Straße rannte. In der ersten Überraschung dachte Dean, es wäre ein Tier, vielleicht ein Hirsch. Dann sah er, dass es ein Mensch war, der auf der durchbrochenen gelben Linie stehen blieb. Die Person starrte sie mit einer Intensität an, die Dean nur mit einem einzigen Individuum in seinem ganzen Leben verband.

„Achtung!“, rief er.

Vor ihnen rührte Castiel sich kein Stückchen. Daniels warf ihren Kopf herum, sah ihn dort stehen und trat voll auf die Bremse. Der Wagen rutschte seitwärts, brach aus und schlitterte über beide Fahrbahnen und den Seitenstreifen. Dann rollte er auf die Seite und blieb im Straßengraben liegen.

Der zweite Unfall an einem Tag, dachte Dean leicht benebelt. Gute Quote.

Daniels saß zur Seite gelehnt auf dem Fahrersitz, war aber bei Bewusstsein und kämpfte mit dem Sicherheitsgurt.

Draußen lief Castiel an der Fahrertür vorbei und riss die Heckklappe auf. Er griff nach Dean und zog ihn hervor, dann streckte er die Arme nach Sam aus.

Der Sheriff wandte sich nach ihm um.

„Wer zur Hölle sind Sie?“

„Lauft!“ Castiel sah erschöpft aus, so als ob das, was er gerade getan hatte, ihn vollkommen an seine Grenzen gebracht hätte. „Los!“

Sam und Dean, die nach wie vor mit Handschellen gefesselt waren, stolperten die Böschung hinunter und rannten aufs Geratewohl in den angrenzenden Wald. Die Brüder liefen tiefer in das gleichförmig wirkende Gewirr aus Bäumen hinein, und nach einer Weile wurde Dean klar, dass sie die Orientierung verloren hatten und niemals wieder herausfinden würden. Sie liefen trotzdem weiter, ungefähr eine halbe Stunde lang. Zu ihrem Erstaunen wurde das Grün um sie herum immer noch dichter und dichter. Das Gestrüpp zog und zerrte an ihren Sachen, als ob die Natur selbst sich gegen sie gewandt hätte. Keiner von beiden sagte ein Wort.

Der holprige Untergrund war mit heruntergefallenen Ästen, verfilztem Gestrüpp und Löchern übersät. Sam wusste, dass sie geliefert waren, falls einer von ihnen stolperte und sich den Knöchel verstauchte. Keiner von beiden konnte den anderen tragen oder ihm helfen, solange seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren.

Was wäre, wenn es dich trifft, Sam?, fragte eine Stimme. Es war die Stimme aus seinem Traum. Würdest du deinen Bruder zurücklassen?

Nein, natürlich nicht, antwortete Sam, ohne den Mund zu öffnen.

Oh wirklich? Dreißig Silberlinge behaupten das Gegenteil.

Sam verdrängte den Gedanken. Das war nicht schwer. Er zwang sich dazu, sich aufs Laufen zu konzentrieren. Weiter, weiter, weiter!

Dann erreichten sie einen Sumpf.

„Warte!“, keuchte Dean. „Hörst du das?“

Sam schüttelte den Kopf. Sie waren fünfzehn Minuten lang schnell gelaufen, und das Einzige, was Sam im Moment hören konnte, war sein laut pochendes Herz und sein rasselnder Atem. Seine Brust brannte wie Feuer, und die Flammen schossen durch seinen Hals in seinen Kopf.

„Hör zu!“

„Dean …“

„Pssst!“

Sam schwankte zur Seite, der Schweiß lief an seinem Gesicht herunter. Sie standen hier in einem Geflecht von Wurzeln und Ranken, inmitten von summenden Mückenschwärmen, die in Wolken über ihren Gesichtern schwebten und ihre Ohren mit einem konstanten Sirren peinigten. Sams feuchte Handgelenke wanden sich in den Handschellen hin und her. Seine Hände bettelten geradezu darum, die Schwärme wegscheuchen zu dürfen. Moosiger Pilzgeruch stieg vom Boden auf. Sams Beine waren bis zu den Knien mit dickem schwarzem Matsch bedeckt, der bei jedem seiner mühsamen Schritte am Stoff seiner Hosen zu saugen und zu kleben schien. Er wartete und lauschte. Und dann hörte er es.

Bellen. Japsen. Hunde.

„Sind das Bluthunde?“

Dean antwortete nicht. Er sah in die andere Richtung. Als Sam endlich den Ausdruck auf dem Gesicht seines Bruders erkennen konnte, sah er, dass Deans Wangen und Stirn kalkweiß waren. Es sah aus, als ob ihm jemand das Blut bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt hätte, und er wirkte verängstigt und klein. Seine Augen leuchteten so fiebrig grün, dass sie beinahe glühten.

„Dean …“

„Wir müssen abhauen.“ Dean zitterte so sehr, dass seine Stimme versagte. Er warf fieberhaft Blicke in alle Richtungen. „Wir müssen sie abschütteln, Sammy.“

„Das sind keine Höllenhunde, Dean. Es sind nur einfache Hunde.“

„Sie sind uns auf der Spur!“

„Okay, sieh mal.“ Sam stapfte ein paar Schritte vorwärts und fühlte, wie der Matsch unter seinen Stiefeln immer weicher wurde. „Hier ist es sumpfig. Das heißt, dass wir in der Nähe eines Flusses sein müssen. Wenn wir da durchlaufen, werden sie unsere Witterung verlieren. Stimmt’s?“

Dean antwortete nicht. Er horchte immer noch auf das Bellen und Heulen, das beständig näher kam und durch das Unterholz krachte. Er schien von dem Geräusch völlig paralysiert.

Keine Zeit mehr. Wenn wir etwas unternehmen wollen, dann jetzt!

Sam stieß seinen Bruder mit der Schulter an, schubste ihn vorwärts und zwang ihn, neben sich herzustampfen. Die Ausdünstungen des Sumpfes erfüllten seine Nase mit einem intensiven, pilzartigen Geruch nach toten Bäumen und stehendem Wasser. Es kam direkt von vorne. Sie stapften durch tiefe Pfützen. Weiter vorne raschelten Schilf und Rohrkolben mit merkwürdigen, knisternden Seufzern. Sam fühlte, wie das Wasser – sonnenwarm an der Oberfläche und darunter kalt und zäh – ihm bis zu den Knien ging. Dann, ganz plötzlich, reichte es bis zur Hüfte.

Nach dem ersten Schreck grunzte Sam nur und ging weiter. Von Zeit zu Zeit sah er sich nach seinem Bruder um, aber Dean bewegte sich jetzt von allein vorwärts.

Es wurde immer schwieriger, die Stiefel vom Grund zu heben. Die Hunde hörten sich an, als ob sie ziemlich nahe wären. Gerade so, als ob man, wenn man sich umdrehte, ihre Bewegungen im Unterholz erkennen könnte. Erschöpfung hatte sich in Sams Muskeln breitgemacht und seine Beine schwer werden lassen.

Sie bahnten sich den Weg durch Ansammlungen von Seerosen und Algenmasse. Als das Wasser ihnen bis zum Hals reichte, legten Sam und Dean die Köpfe in den Nacken.

„Sam?“, flüsterte Dean, und seine Stimme klang unsicher und hoch. „Hier wird es nicht seichter.“

Sam nickte und machte noch einen Schritt. Plötzlich war der schlammige Untergrund verschwunden, und sein Kopf geriet unter Wasser. Sein Fuß traf auf etwas am Boden, und er stieß sich ab. Keuchend kam er wieder an die Oberfläche, prustete und spuckte dreckiges Wasser aus, als er spürte, wie sich etwas an seinem Unterschenkel bewegte. Kurz darauf schlängelte sich eine Wasserschlange an der Wasseroberfläche entlang und verschwand zwischen den hohen Schilfgräsern.

Sam stieß ein heftiges Keuchen aus, und ein Gefühl der Panik breitete sich blitzartig in seinem Magen aus. Er sprang nach vorne und fand wieder mit den Füßen Halt. Ohne auf die Geschwindigkeit, Richtung oder Lärm zu achten, warf er sich vorwärts. Er wusste nicht einmal mehr, wie viel Zeit vergangen war, seit Dean hinter ihm seinen Namen gezischt hatte.

„Warte!“, sagte Dean. „Keine Bewegung!“

Sam erstarrte. Der Schleier aus fliegenden und stechenden Insekten legte sich immer dichter um seinen Hals und auf sein Gesicht. Sie schienen auf jedem Zentimeter seiner Haut zu krabbeln. Er sah, dass sein Atem vor dem Mund kleine Wellen auf dem Wasser aufwarf.

„Sie gehen in die andere Richtung.“

Dean hatte recht – das heulende Getöse der Hunde bewegte sich jetzt von ihnen fort, entfernte sich weiter, tiefer in den Wald.

„Abgeschüttelt.“ Dean atmete auf und schnüffelte dann in der Luft. Seine Stimme klang auf einmal anders. „Warte mal! Riechst du den Rauch?“

„Ja.“ Sam sah sich um und bemerkte einen orangefarbenen Schein zwischen den Bäumen. „Es kommt von da drüben.“

Mit vorsichtigen Bewegungen manövrierten die beiden sich aus dem Wasser zurück an Land. Dann bahnten sie sich den Weg zu einer kleinen Lichtung.

Auf der Lichtung brannte ein Lagerfeuer unbeaufsichtigt vor sich hin. Nicht weit davon entfernt standen zwei Zelte, die beide ebenso improvisiert wirkten wie die Behelfszelte aus Segeltuch und Seilen, die sie auf dem Schlachtfeld in Mission’s Ridge gesehen hatten. Die Zelte waren an der am weitesten vom Sumpf entfernten Stelle neben einem niedrigen Eichengehölz aufgebaut. An der Feuerstelle waren die Flammen bereits ziemlich schwach, und die Glut kokelte gerade noch stark genug, um die Insekten in Schach zu halten. Fetzen von wollenen Uniformen, zurückgelassenen Kniehosen, Rucksäcken und Stiefeln lagen am Rand des Lagers verstreut herum. Wer immer sie einst getragen hatte, musste sie achtlos hingeworfen haben. Einige der Sachen sahen aus, als wären sie zerrissen.

„Dean?“

Dean schnüffelte.

„Ja, das ist Schwefel.“

„Okay, Dämonen.“ Sam stieß das Feuer mit dem Fuß an. Daneben lagen Kanister mit Feuerzeugbenzin. „Das bedeutet was?“

„Wir sollten nicht hierbleiben, um Marshmallows zu rösten?“

„Wir sollten die Zelte durchsuchen.“

Dean sah ihn eindringlich an.

„Ernsthaft?“

„Vielleicht sind da Werkzeuge, mit denen wir diese Dinger abkriegen“, schlug Sam vor.

„Ja. Und wenn da irgendetwas drin ist, das größer als eine Hummel ist, wird es uns gewaltig in den Hintern treten.“

„Da ist nichts drin.“

Dean ging hinüber, trat die Zeltklappe zur Seite und bückte sich.

„Du hast recht“, sagte er. „Nur ein paar Schokoriegel-Verpackungen. Alter, diese Dämonen sind wirklich totale Schlampen! Bei dir auch?“

Sam hockte sich hin und sah in das Zelt. Zuerst dachte er, dass der Haufen im Schatten nur ein dreckiger Schlafsack wäre, auf dem noch mehr zerrissene Sachen lagen. Dann hörte er, wie die Fliegen mit ihren nichtssagenden, monotonen Fliegengeräuschen darum herumschwirrten. Er schob einen Fuß hinein und zog die fleckige Konföderiertenflagge herunter, mit welcher der Haufen drapiert war.

Das war kein Schlafsack.

Die aufgedunsene Leiche des Mannes unter der Fahne schien ihn anzulächeln. Er war bis zur Hüfte entkleidet. Die Arme und Beine waren an Seilen festgebunden, die mit Pflöcken in den Boden gerammt worden waren. Durch seine Lippen, Wangen und Augenlider hatte man Haken gestochen, die von Drähten gehalten wurden. Das Fleisch an Brust und Bauch hatte jemand Lage für Lage abgezogen. Die roten Muskeln und das Gewebe darunter waren wie bei einer Anatomiestunde freigelegt worden. In der Mitte der Brust hatte man einen größeren Eisenhaken, der an einer schwereren Kette hing, durch den geöffneten Brustkorb gestochen. Der Haken durchbohrte das Herz der Leiche.

„Heilige Scheiße!“, sagte Dean, als er Sam über die Schulter schaute. „Das ist Winston.“

„Wer?“

„Der Gerichtsmediziner, Ben Winston. Der Schwager des Sheriffs.“

„Er ist gefoltert worden.“

„Dämonen machen so etwas eigentlich nicht. Sie foltern Seelen in der Hölle, aber …“ Dean schüttelte den Kopf und ging ins Zelt. „Die wollten wirklich Informationen von ihm haben, und zwar dringend.“

Er beugte sich vor und stieß ein Bündel Lumpen neben Winstons Kopf mit dem Fuß an, und Sam hörte, wie Metallinstrumente darin klimperten.

„Klingt nach Zeug aus dem Mittelalter.“

„Wie was zum Beispiel?“

Dean antwortete nicht. Er starrte auf das, was er entdeckt hatte. Das Werkzeug zu seinen Füßen sah aus wie eine Kreuzung aus einer überdimensionierten Zange und einer Knochensäge. An seiner gezackten Schneide klebte getrocknetes Blut, Haarklumpen und menschliches Fett ungezählter Dekaden.

„Weißt du, wie man das benutzt?“

„Ja“, sagte Dean monoton. „Das weiß ich.“

Dean näherte sich Winstons ausgeweideter Leiche rücklings und ging neben ihr in die Knie, um das Instrument hinter seinem Rücken zu greifen. Einen Moment lang bewegte Dean seine Schultern und Ellbogen, dann hörte Sam, wie die Kette mit einem scharfen, spröden Klirren zersprang. Deans Hände erschienen wieder vor seinem Körper. An jedem Handgelenk trug er jetzt ein Armband aus Stahl.

„Ich hab’s“, sagte er. „Jetzt du.“ Er hob die scharfe Zange wieder hoch und zerschnitt die Kette an Sams Handschellen.

„Danke!“

„Keine Ursache.“

Dean trat aus dem Zelt und sah sich das Lagerfeuer an. Er bückte sich, hob den Kanister mit Feuerzeugbenzin auf und verschüttete es in weitem Bogen auf dem Boden, während er zurück zum Zelt ging.

„Geh zurück!“

„Warte mal! Ich will erst noch einen weiteren Blick auf Winstons Leiche werfen.“

„Was? Warum?“

„Ich glaube, ich habe da etwas an seinem Handgelenk gesehen.“ Sam schob die Zeltklappe nach innen, duckte sich ins Zelt und bückte sich neben der Leiche. Er untersuchte ihren Arm.

„Hey, Dean?“

„Ja?“

„Schau dir das mal an!“ Sam zeigte auf Winstons linkes Handgelenk. Die Haut hatte Blasen geworfen und war versengt, als ob jemand versucht hätte, etwas auszubrennen. Man konnte die Tätowierung trotzdem noch erkennen. „Das ist eine weitere Santeria-Sigille, oder?“

„Wie die des Sheriffs, ja“, sagte Dean. „Was bedeutet das?“

„Die Dämonen wollten es entfernen.“

„Oder jemand anders.“ Dean hob den Brandbeschleuniger hoch. „Sind wir hier fertig?“

Sam nickte, und Dean warf ihm einen Kanister zu. Sie verspritzten ihn auf dem Zelt und den Sachen des Dämons. Als sie fertig waren, zog Dean ein glühendes Holzstück aus dem Feuer und warf es ins Zelt.

„Gute Reise“, murmelte er, als sie sich umdrehten und weggingen.

Die Winchesters wählten eine Richtung und gingen los. Sie bahnten sich den Weg durch das Unterholz. Es war jetzt einfacher, weil sie die Hände freihatten – oder zumindest war es einfacher, die Mücken wegzuscheuchen. Sam hatte seinen Orientierungssinn noch nicht so recht wiedergefunden. Das Dämonenlager hatte seinen inneren Kompass geradezu durchdrehen lassen, so als wäre er geradewegs durch ein Magnetfeld gestolpert.

„Es wird wieder feuchter“, sagte Dean, der durch eine weitere Wasserpfütze stapfte. „Wir gehen doch hoffentlich nicht im Kreis, oder?“

„Weiß ich nicht.“

„Super.“

Stöhnend griff Dean in die Tasche und zog sein Handy heraus. Er drückte lustlos auf verschiedenen Tasten herum. „Das Ding ist am Ende. Wusste ich doch. Funktioniert deins noch?“

„Nein. Ist ebenfalls hin.“

Dean runzelte die Stirn.

„Eine Sekunde … Was zur Hölle ist das?“

Sam kniff die Augen zusammen. Weiter vorne lichtete sich der Wald, und die letzten Ranken und Zweige gaben den Blick auf einen Parkplatz frei.

„Ist das …“ Dean schirmte seine Augen mit der Hand ab. „… ein Wal Mart?“

Sie wateten aus dem Wasser, vorbei an einem einsamen Einkaufswagen, und standen dort tropfnass und dreckig in der Hitze des späten Nachmittags. Einen Moment lang sagte keiner von beiden ein Wort.

Von ihrem Standort aus, an der äußeren Grenze des Sumpfgebiets, wirkte der in der Ferne glitzernde Supermarkt wie eine ganze Stadt, wenn nicht ein ganzer Planet. Hier, in der entlegensten Ecke des Parkplatzes, waren die meisten Stellplätze leer, bis auf ein paar Wohnmobile und Sattelzüge, die aussahen, als stünden sie schon seit Monaten an Ort und Stelle. Ganz in ihrer Nähe parkte ein Winnebago von der Größe eines Stadtbusses. Das Gefährt hatte eine Satellitenschüssel auf dem Dach, und an der Seite prangte eine Airbrush-Lackierung, die eine Herde Wildpferde zeigte, die durch die Wüste trabte. Der Wagen sah aus, als würde er entweder einem Rentnerpaar gehören, das bei der Planung seiner Altersvorsorge ein gutes Händchen gehabt hatte – oder der Begleitband von Kid Rock.

„Ich glaube, wir können da nicht einfach so hingehen und fragen, ob uns wer mitnimmt“, sagte Sam.

„Nein“, antwortete Dean. Dann hellte seine Miene sich auf. „Aber ich wette, da ist ein Münztelefon im Laden.“

Sam betrachtete seinen Bruder in seinem völlig zerfledderten Schutzanzug, der total zerrissen und voller Schlamm war. Er sagte nichts.

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