Zehn

Ihr Motelzimmer war blau und grau gestrichen. Die eine Seite des Raumes war mit Fotos von Unionssoldaten und Gemälden von Yankees dekoriert. In der anderen Hälfte hingen Rebellenflaggen und Nachbildungen von Gebrauchsgegenständen der Konföderierten. Eine imaginäre Mason-Dixon-Linie verlief sauber zwischen den beiden durchgelegenen Einzelbetten.

„Willst du Lee oder Sherman?“, fragte Sam.

„Hä?“

„Nord- oder Südstaaten?“

Dean antwortete nicht. Er legte sich einfach auf eines der Betten und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er starrte hinauf zum Deckenventilator, der die feuchte Nachtluft in Bewegung versetzte.

Nach einem Moment des Schweigens stellte Sam den Laptop auf den Schreibtisch und ging online, um nach Bildern von verschiedenen Arten von Schlingen zu suchen. Durch die Stille hindurch konnte er spüren, wie es in seinem Bruder vor Anspannung zu brodeln begann. Als er es nicht mehr ignorieren konnte, drehte Sam sich um und blickte ihn an.

„Dean? Gibt es etwas, was du mir sagen möchtest?“

Dean bewegte sich nicht.

“Nö.“

„Du willst also die ganze Nacht daliegen und dem Ventilator beim Rotieren zuschauen?“

„Ich dachte gerade daran, mir die Zähne zu putzen.“

„Komm schon! Wenn du noch mehr dunkle Gedanken in dich hineinfrisst, wirst du irgendwann explodieren.“

Dean setzte sich schnell im Bett auf. Seine dunklen Augenringe ließen ihn zugleich erschöpft und voller nervöser Energie wirken. Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Dein Kumpel McClane spricht über die Hölle, als hätte er selbst eine Weile dort eingesessen. Dabei könnte ich dort den verdammten Fremdenführer für ihn spielen.“

„Er weiß von der Schlinge“, sagte Sam.

„Und das ist die andere Sache. Was weiß er wirklich? In Geschichte bin ich etwas schwach auf der Brust, und mir könnte es gar nicht gleichgültiger sein, wer den Bürgerkrieg gewonnen hat und warum. Ich bin hier, um dieses Ding auszuräuchern und anschließend aus Dodge City zu verschwinden.“

„So einfach ist es nicht.“ Sam stand vom Schreibtisch auf. „Worum geht es dir eigentlich? Um McClane oder um mich?“

Dean blieb stehen und blickte ihn von der anderen Seite des Zimmers her an.

„Es ging eigentlich mal um uns, Sammy. Dich und mich und Bobby, und das war’s. Jetzt geht es um dich und mich und irgendwen, dem du an irgendeinem x-beliebigen Tag gerade dein Vertrauen schenkst. Und offen gesagt gefällt mir das nicht gerade.“

„Nun, jetzt ist es etwas zu spät, um ihn außen vor zu lassen“, sagte Sam. „Also, konzentrieren wir uns auf das Wesentliche, um diesen Fall zu lösen.“

Er setzte sich wieder an den Computer und fügte hinzu: „Schau dir das mal an!“

Er klickte sich zurück bis zu dem digitalisierten Bild von Jubal Beauchamp, das den Henkersknoten in der Schlinge um seinen Hals zeigte. Dean stellte sich hinter ihn und starrte mit verschränkten Armen auf den Bildschirm herunter.

„Beauchamps Seil war sechsmal um die Schlaufe gewunden, die Standardtechnik, richtig?“

„Klar.“

„Je öfter man das Seil um die Schlaufe windet, desto mehr Spannung bekommt das Seil, heißt es hier“, sagte Sam.

„Und?“

„Wenn du dir dieses Bild ansiehst …“ Sam vergrößerte das Bild von Beauchamp und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die körnigen Pixel. Er zentrierte die Schlinge und sah noch einmal genau hin. „… dann ist da eine siebte Windung.“

„Sehr fesselnd. Echt.“ Dean ging wieder zurück zum Bett. „Was bringt uns das?“

„Wir müssen morgen rausfahren und noch mal mit Oiler reden. Wir müssen herausfinden, was er genau gesehen hat – was bei der Hochzeit passiert ist. Er verschweigt uns ganz bestimmt etwas.“

„Und dieses Mal wird er uns definitiv die Wahrheit sagen“, entgegnete Dean ironisch.

„Nein“, sagte Sam. „Er wird Ausflüchte machen und lügen und versuchen, alles zu vertuschen – genau wie alle anderen. Aber wir werden Druck machen – nur du und ich –, bis er nachgibt.“ Er drehte sich um und sah zum Bett. „Weil ich für meinen Teil die Schnauze voll davon habe, dass wir nicht die ganze Geschichte kennen.“

Dean sah seinen Bruder eingehend an, sah den kalten, stahlharten Blick in seinen Augen und wollte ihm glauben.

„Und dann?“

„Dann finden wir dieses Ding“, sagte Sam. „Und wir beseitigen es.“

Dean sagte nichts.

Sam schloss die Augen und lauschte in die Stille. Irgendwo in weiter Ferne konnte er das Pfeifen einer Lok hören.

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