Zweiundzwanzig

Die Gehirnerschütterung ließ Sam die steile Treppe, die aus dem Raum nach oben führte, nur verschwommen erkennen. Tommy thronte am Treppenabsatz und hatte seine Taschenlampe auf den Sammler gerichtet, während Nate neben ihm stand und seine eigene fest mit seinen kleinen Händen umklammert hielt. Keiner von beiden machte Anstalten, näher zu kommen.

Die sind schlau, dachte Sam benebelt. Wollen nichts hiervon abbekommen.

„Sam?“, fragte Tommy. „Dean? Geht’s Ihnen gut?“

Dean antwortete nicht, aber Sam setzte sich auf und sah ihn an.

„Gut würde ich nicht gerade sagen“, antwortete er. „Wollten Sie nicht nach Hause fahren, nachdem Sie uns abgesetzt hatten?“

„Heute ist doch der Tag, an dem man einen Freund in die Kirche einladen soll, oder?“, sagte Tommy und ließ keinen Moment die Augen von der fremden Gestalt. Sam konnte das Dämonenmesser jetzt ganz klar erkennen. Es blitzte in der Hand des Sammlers. „Geben Sie mir das Messer!“, sagte Tommy. „Und die Schlinge!“

Der Sammler machte ein kurzes, glucksendes Geräusch, das wohl ein Lachen sein sollte. „Wenn du es so sehr haben willst, warum kommst du nicht herunter und holst es dir?“

„Das müssen wir gar nicht.“

„Das dachte ich mir schon.“ Der Sammler schüttelte den Kopf. „Ihr habt keine Ahnung, mit was ihr es hier zu tun habt.“

„Ich denke, das werden wir noch sehen“, sagte Tommy und zuckte mit den Schultern. „Mach schon, Sohn!“

Nate stand immer noch in der Tür und griff in seine hintere Hosentasche. Er zog ein Stück gelbes Pergament hervor, faltete es flink auseinander und richtete die Taschenlampe darauf. Es sah sehr groß in seiner kleinen Hand aus.

Nate begann vorzulesen.

Die Beschwörungsformel war ein Gemisch aus Französisch, Latein und einer weiteren poetisch klingenden Sprache, die Sam nicht erkannte. Nates hohe Knabenstimme ließ die Worte fast so hell wie ein Lied klingen.

„Was ist das?“, fragte der Sammler.

„Ein Hoodoo-Bindungszauber.“

„Ich fühle mich geehrt“, sagte er. „Unglücklicherweise, solange ich ihn mit dem Klang meiner eigenen Stimme abwehren kann …“

Sam sah, wie sich Dean hinter der verhüllten Gestalt erhob. Er wuchtete den Reliquienschrein hoch über den Kopf und ließ ihn hinuntersausen. Man hörte einen deutlichen, harten Knall. Der Sammler taumelte vorwärts, und das Messer fiel ihm aus der Hand. Aus seinen Taschen ergoss sich klirrend eine riesige Ladung Silbermünzen.

„Dann wehre mal schön ab, du Mistkerl!“, grunzte Dean während Sam nach dem Dämonenmesser griff. „Mach schon, Sam!“

Sam brauchte keine Ermutigung. Er erhob das Messer und rammte es in die Brust des Sammlers. Judas’ Scherge schrie und schlug um sich, wurde aber nicht bewusstlos. „Der Klingelbeutel hat die Wahrheit gesagt“, sagte Dean. „Kein Dämon. Nun ja, ich glaube, das ist …“

Der Sammler richtete sich ruckartig wieder auf, sein Gesicht war ein einziger Ausdruck von Zorn und Gewalt. Er legte seine Finger um Sams Hals und hielt ihn auf Armeslänge, genau wie er es mit Dean getan hatte bei seinem Versuch, dessen Luftröhre zu zerquetschen.

Sam reagierte rein instinktiv. Seine rechte Hand schoss mit dem Dämonenmesser geradewegs nach oben und stieß hart und schnell zu. Der Stoß landete im Brustkorb des Sammlers, dort, wo Sam sein Herz vermutete – nur für den Fall, dass er eines besaß. Die Gestalt stieß einen erstickten, schwächer werdenden Schrei aus. Sam stach noch einmal zu und dann noch zweimal, bis der Sammler fiel. Die Gestalt schlug auf dem Boden auf und lag vollkommen still.

Keuchend und japsend trat Sam einige Schritte zurück, wobei er vorsichtig nach irgendwelchen Lebenszeichen an der Gestalt Ausschau hielt. Aber die schienen auszubleiben.

„Wo ist die Schlinge?“, fragte Tommy von der Tür aus. „Fassen Sie das Ding ja nicht mit bloßen Händen an!“

„Ja, das haben wir auch schon gemerkt.“ Sam gab Dean das Messer zurück. Dann beugte er sich herunter, riss ein Stück Stoff aus dem Umhang des Sammlers und wickelte es um die Hand wie einen Handschuh. Solcherart ordnungsgemäß geschützt hob er die Schlinge vom Boden auf – sie schien irgendwie schwerer zu sein, als sie eigentlich sein durfte – und warf Tommy einen Blick zu.

„Ich hoffe, Sie können uns von hier wegbringen. Ich will das hier nicht länger festhalten, als ich muss.“

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