Sieben

Sam erreichte die mit Säulen geschmückte Front des Gebäudes der Historischen Gesellschaft von Mission’s Ridge. Auf dem Weg hierher hatte er beim Impala einen Zwischenstopp eingelegt und seine FBI-Jacke und die Krawatte abgelegt. Er erklomm die Granitstufen zur Eingangstür aus massivem Eichenholz, an der ein imposanter Griff aus Eisen prangte, den er in der Erwartung betätigte, dass die Tür abgeschlossen sein würde. Aber zu seiner Überraschung gab sie nach und schwang auf gut geölten Scharnieren weit auf. Beim Eintreten schlug Sam eine angenehme Kühle entgegen.

Die Eingangshalle besaß keine Fenster und war dunkler, als er erwartet hatte. Seine Schritte hallten auf dem steinernen Boden wider, wie man es von Gebäuden kannte, die lange Zeit niemand mehr betreten hatte. Es roch nach Kampfer und altem Papier, Leinwand und Schimmel. Sams Augen hatten sich immer noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Für einen Moment konnte er noch nicht einmal sehen, wie groß die Halle eigentlich war.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine Männerstimme hinter ihm.

„Kommt ganz darauf an“, antwortete Sam. Der Strahl einer Taschenlampe streifte sein Gesicht und blendete ihn einen Moment lang. „Arbeiten Sie hier?“

„Genau“, sagte der Mann. „Tut mir leid wegen der Taschenlampe. Probleme mit der Verkabelung. Es ist ein wunderschönes altes Gebäude, aber die Elektrik macht nichts als Zicken, wenn Sie meine Ausdrucksweise bitte entschuldigen.“ Der Mann griff in einen Sicherungskasten an der Wand und fummelte einen Moment lang darin herum. Dann ertönte ein lautes Klacken, und das Licht kehrte flackernd zurück.

„Ah, geht doch.“

Sam blickte nach oben und sah, dass sie in einem großzügigen Foyer standen. Der Mann ihm gegenüber trug eine Baseballmütze der Atlanta Braves, ein schwarzes T-Shirt und ausgewaschene Levis-Jeans. Er sah nicht viel älter als Mitte dreißig aus, aber die ersten Fältchen hatten sich bereits um Augenwinkel und Mund angesiedelt und gaben seinem Gesicht den zufriedenen Ausdruck eines Mannes, der mitten im Leben steht. Die Stoppeln auf seinem Kinn waren schon ein wenig angegraut und schimmerten sanft im künstlichen Licht.

Neben ihm stand ein Junge von vielleicht elf oder zwölf Jahren, der ebenfalls Jeans und ein T-Shirt trug. Er war blond, hatte helle Haut und neugierige blaue Augen, die alles in sich aufzusaugen schienen. Der Mann hielt einen riesigen, altertümlichen Werkzeugkasten. Mit der Art, wie er dastand, imitierte der Junge – er hatte einen Stapel dicker gebundener Bücher unter den Arm geklemmt – unbewusst die Körperhaltung des Mannes. Es gab keinen Zweifel, die beiden waren Vater und Sohn.

„Ich bin Tommy McClane“, sagte der Mann, stellte den Werkzeugkasten ab und wischte sich die Rechte an der Hose ab, bevor er sie Sam entgegenstreckte. „Das ist mein Sohn Nate.“

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen“, sagte der Junge förmlich.

Sam schüttelte ihnen die Hände und musste etwas über die Ernsthaftigkeit lächeln, mit welcher der Junge den schweren Bücherstapel vom einen unter den anderen Arm schob, um ihm seine kleine Hand reichen zu können.

„Arbeiten Sie für die Historische Gesellschaft?“, fragte Sam.

„Wir sind die Historische Gesellschaft“, sagte Tommy ironisch. „Der alte Pop Meechum hat das hier mal geleitet, aber seit ihn ein Schlaganfall niedergestreckt hat, kümmern sich nur noch Nate und ich um die Sachen hier.“ Er kniff die Augen etwas zusammen. „Haben Sie auch einen Namen, oder soll ich Sie einfach ‚Phantom Stranger‘ nennen?“

Sam lächelte erneut.

„Ich bin Sam.“

„Sam also.“ Tommy McClane sah zu seinem Sohn hinab. „Nate, warum bringst du die nicht zurück in die Bibliothek und schaust mal, ob wir von dort noch etwas holen müssen. Wir treffen uns dann im Museum.“

„Ja, Sir.“

Tommy sah ihm hinterher und nickte dann in die andere Richtung.

„Kommen Sie doch einfach mit nach hinten.“ Er hob den Werkzeugkasten auf und schlenderte zurück durch den Korridor. Dann stoppte er erneut, als ob ihm etwas eingefallen wäre. „Sie kommen nicht von hier, stimmt’s?“

„Nein.“

„Sind Sie einer von diesem Rollenspiel-Hokuspokus draußen am Fluss?“

„Das könnte man so sagen.“

„Ein Haufen verrückter Hinterwäldler, die mit Spielzeuggewehren im Wald rumlaufen und sich zum Narren machen“, sagte er und beobachtete, wie Sam reagieren würde. „Habe ich recht?“

„Eigentlich“, sagte Sam, „Finde ich es schon sehr beeindruckend, wie sehr sie sich der Authentizität verschrieben haben. Sie sind Geschichtsrekonstrukteure.“

Tommy kniff einen Moment die Augen zusammen, dann grinste er.

„Sie sind in Ordnung, wissen Sie?“

„Wie bitte?“

„Sehen Sie, Sie reden gerade mit einem von diesen Trotteln.“ Tommy hielt eine Hand hoch und zeigte Sam einen angelaufenen Ring. „Konföderierte Staaten von Amerika. Mein Urgroßvater trug diesen Ring auf eben dem Schlachtfeld da draußen. Nicht, dass ich alles unterschreibe, für was der Süden gekämpft, hat, bestimmt nicht. Hier gibt es keinen außer mir, der glücklicher war, als ein Afroamerikaner ins Weiße Haus eingezogen ist. Wurde auch verdammt noch mal Zeit, sage ich. Nate und ich sind zur Amtseinführung rauf nach DC gefahren. Aber ich bin ebenso höllisch stolz auf die Männer, die ihr Leben im Dienst für ihre Sache gelassen haben.“ Er drehte sich wieder um und ging weiter den Korridor entlang.

Sam nickte und folgte ihm. Er wusste nicht so recht, was er von dieser merkwürdigen Mischung aus Hinterwäldlergelehrsamkeit und bescheidener Zurückhaltung halten sollte. Wie auch immer, er hatte sich bereits entschieden, dass er Tommy McClane mochte. Und im Moment konnte er es sich nicht gerade leisten, bei seinen Verbündeten wählerisch zu sein.

„Hören Sie mir mal zu“, sagte Tommy, während er einen Schrank öffnete und den Werkzeugkasten wegstellte. „Ich habe mir jetzt lange genug den Mund fusselig geredet, also sagen Sie mir mal – was kann ich für Sie tun?“

„Ich hatte gehofft, dass Sie mir etwas über einen konföderierten Soldaten namens Jubal Beauchamp erzählen können.“

„Beauchamp?“ Tommy blickte zu ihm auf und machte aus seiner Überraschung kein Hehl. „Wozu wollen Sie denn etwas über den wissen?“

„Nun, ich bin sicher, dass Sie gehört haben, was gestern mit Dave Wolverton passiert ist. Er spielte die Rolle von Beauchamp. Ich würde gerne wissen, ob Sie mir einige Informationen über ihn geben können. Über den historischen Soldaten Beauchamp, meine ich.“

Tommy sah ihn lange mit einer undurchdringlichen Miene an. Er neigte den Kopf etwas zur Seite.

„Sie sind kein Cop, oder?“

„Nein.“

„Bundesagent?“

Sam atmete ein und sah tief in Tommys graue Augen. Er wusste, dass jetzt wahrscheinlich seine letzte Möglichkeit war zu lügen. Instinktiv schüttelte er den Kopf.

„Nein.“

„Habe ich auch nicht gedacht. Also, was wollen Sie?“

„Ich …“, setzte Sam an, und ihm wurde klar, dass er sich keine Hintertür offengehalten hatte. „Belassen wir es dabei, dass es für das, was sich da gestern auf dem Schlachtfeld zugetragen hat, keine vernünftige Erklärung gibt. Und das ist genau die Art von Ereignissen, auf die sich meine Aufmerksamkeit richtet.“

Tommy starrte ihn einen Moment an und brach dann in Gelächter aus.

„Sie sind ein Jäger“, sagte er und klopfte Sam auf die Schulter. „Jetzt ergibt das alles einen Sinn.“

Sam fuhr erstaunt zurück.

„Ich habe Ihren Namen noch nie gehört“, sagte er. „Ich kenne auch keinen, der in dieser Gegend arbeitet.“

„Ich habe Rufus erwartet“, sagte McClane. „Was ist mit ihm passiert?“

„Ihm ist etwas dazwischengekommen. Mein Bruder und ich sind eingesprungen.“ Sam schüttelte den Kopf. Er verarbeitete immer noch die Informationen, die der andere ihm gerade aufgetischt hatte. „Also haben Sie mit Rufus Turner gejagt?“

„Nicht aktiv. Man sollte nicht auf die Jagd gehen, wenn man einen kleinen Sohn hat. Sie wissen, was ich meine.“

Sam nickte.

„Das ist wahr.“

„Nates Mutter ist vor vier Jahren gestorben. Autounfall. Ein paar Teenager bei ihrem ersten Date, alle vollkommen nüchtern – so zufällig wie die Dinge eben sind. Man kann keinem die Schuld geben. Es gab keine Überlebenden. Es war schwer für uns, besonders für den Jungen. Während ich selbst damit fertig werden musste, wurde mir klar, dass es sehr wichtig ist, dass ich für ihn da bin.“ McClane schüttelte den Kopf. „Das heißt aber nicht, dass ich nicht Augen und Ohren offen halte, um anderen Jägern einen Tipp zu geben, wenn die Dinge anfangen, brenzlig zu werden.“

„Ist das hier eine brenzlige Angelegenheit?“

McClane nickte düster.

„Sehen Sie selbst!“

Tommy führte Sam durch ein Labyrinth von miteinander verbundenen Räumen tiefer in das Gebäude hinein. Während sie an Reihen von Glasvitrinen vorbeigingen, erhaschte Sam einige Blicke auf alte Pistolen und Musketen, vergilbte Dokumente, Stiefel und Uniformen, die allesamt sorgfältig beschriftet und gestapelt waren. Immer wenn er dachte, dass er Tommy eingeholt hatte, war der schon zum nächsten Ausstellungsstück weitergeeilt.

Er bog um eine Ecke und holte Tommy endlich ein. Der war vor einem Schaukasten stehen geblieben, der die erste, zweite und dritte Nationalfahne des Südens während des Krieges zeigte.

„Welche Art von Aktivität haben Sie vor dem Vorfall in der Stadt bemerkt?“, fragte Sam den Historiker. „Gab es davor etwas Ungewöhnliches?“

„Zuerst mal“, sagte McClane, „wimmelt es hier nur so von Geistern.“

„Metaphorisch gesprochen?“

McClane schenkte ihm einen langmütigen Blick.

„Sehe ich so aus wie einer, der gerne metaphorisch spricht?“

„Ich meine ja nur …“

„Haben Sie die Bahngleise gesehen, die durch die Stadt verlaufen? Es war einmal, da hatten die Konföderierten einen Zug, der mitten durch die Main Street bis zum Schlachtfeld fahren konnte. Sie hatten einen Flachwagen, auf den ein Gatling-Geschütz montiert war, das die erste Welle der Unionssoldaten direkt zur Hölle schickte.“ Er nickte. „Der Zug steht mittlerweile nur noch brav im Schuppen, aber die Gleise sind noch da. Die Leute erzählen sich, dass man, wenn man nachts genau hinhört, noch das Pfeifen der Lokomotive hören kann.“

Sam zog eine Augenbraue hoch.

„Wirklich?“

„Das ist längst nicht alles.“ Tommy verstummte und deutete um die Ecke. „Gleich hier durch.“

Sam folgte ihm in ein Zimmer und sah, dass Nate sie bereits erwartete. Die Bibliothek war ein heller Raum mit hohen Decken, in dem hölzerne Bücherregale die Wände säumten. Davor lehnte eine Trittleiter, die bis zur Spitze reichte und auf einer Schiene montiert war. Lesetische aus Eiche und Arbeitsnischen glänzten unter Reihen von Schwanenhals-Lampen. Zur Linken stand ein weiterer Schreibtisch mit einer ordentlich platzierten Computerausrüstung und einem Monitor. Mehrere eingerahmte Diplome und Zertifikate hingen an der Wand.

„Das ist beeindruckend“, sagte Sam. „Bezahlt die Stadt das alles hier?“

„Die Leute hier nehmen ihre Geschichte sehr ernst“, sagte Tommy. Mit einem leichten Anflug von Stolz fügte er hinzu: „Nate und ich haben ziemlich viel selbst getischlert.“ Er streckte die Hand aus und zerzauste Nates Haar. „Tu mir mal einen Gefallen, Sohn, und bring uns bitte diese Folianten aus der oberen Ecke rechts hinten, siehst du sie? Mai 1863. Buchstaben A bis C.“

Der Junge nickte und kletterte die Leiter hinauf. Er zog einen Stapel Bücher heraus, der aussah, als wäre er in Tierhaut gebunden, und schleppte ihn zum Tisch herüber. Tommy schlug das Buch auf und blätterte in den steifen Seiten, die so alt waren, dass sie beim Umblättern knisterten.

„Jubal Beauchamp war ein Mistkerl“, begann Tommy. „Entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, aber dafür gibt es kein besseres Wort. Er kam aus Hattiesburg, ungefähr zwanzig Meilen von hier. Er war der einzige Sohn eines Predigers aus Tennessee, und zog hierher, nachdem er es in seiner Gemeinde dort wohl etwas zu bunt getrieben hatte. Was da genau los war, weiß ich nicht, aber das kann man sich ja gut vorstellen, denke ich.“

Tommy fuhr fort.

„Wie dem auch sei, Jubal wurde wie sein Daddy für die Kanzel gedrillt, aber gleich nach dem Priesterseminar ist ihm etwas zugestoßen, das seine Sicht der Dinge verändert hat.“

„Sie scheinen eine Menge über ihn zu wissen“, sagte Sam.

„Sagen wir einfach, Sie sind nicht der erste Jäger, der hier auftaucht und sich nach ihm erkundigt. Wie man es auch dreht und wendet, unheimlicher als bei diesem Beauchamp kann’s kaum werden. Schauen Sie!“

Tommy zeigte auf ein dünneres, in Leder gebundenes Heft, das aussah, als wäre es in den Rücken des größeren Buches eingenäht.

„Sehen Sie das hier?“, fragte er. „Das ist Beauchamps Tagebuch. Das haben wir 2005 von einem Sammler in Louisiana gekauft.“ Tommy öffnete es, und der Mief, der daraus aufstieg, roch intensiv nach toter Tierhaut mit einer animalisch-stechenden Note.

Tommys Tonfall wurde nun regelrecht ehrfürchtig.

„Wollen Sie mal etwas wirklich Gruseliges sehen?“

Sam beugte sich über die Zeilen der engen, ordentlichen Schrift, die über die Seiten zu kriechen schien. Sie waren voller Bibeltexte, die Jubal anscheinend wortgetreu abgeschrieben hatte. Was Sam wiedererkannte, war eher banal. Es fanden sich Notizen, die Beauchamp gemacht hatte, Listen von Büchern, Anmerkungen zu Predigten und Seminaren.

„Jetzt sehen Sie sich das an.“ Tommy zeigte auf das Buch. „Mai 1862. Er verlässt das Priesterseminar und geht zur Armee der Konföderierten.“

„Die Seiten sind leer“, sagte Sam.

„Nur ein paar.“ Tommy blätterte weiter. „Hier wird es dann erst richtig interessant.“

Der Unterschied war unverkennbar. Beauchamps gerade, ordentliche Handschrift war zu einem zittrigen, fast gewalttätigen Kritzeln geworden. Es war, als hätte er es geschrieben, während er im Sattel saß oder unter dem Einfluss eines Cocktails psychotroper Substanzen mit hochgradig angstauslösender Wirkung. Dazwischen eingestreut fanden sich Zeichnungen, Pentagramme und dämonische Insignien, die ganze Seiten einnahmen.

Allmächtiger, Herr der Fliegen.

Unsterblicher Schwarzer Vater,

Bewahrer der Ziegen,

nimm mein Opfer an und

schenke mir den vollkommenen

Schutz deines Zorns.

Dein ist das Reich

und die künftige Kraft,

in Ewigkeit.

Sam blinzelte und sah zu seinem Gastgeber auf.

„Das ist eine Entweihung des Vaterunsers.“

McClane starrte ihn an.

„Woher wissen Sie das?“

„Diese Worte hier, sie …“, begann Sam und stockte. Er sah auf die Seite hinunter und bemerkte, dass die Worte, die dort geschrieben standen, nicht nur in einer fremden Sprache abgefasst waren, sondern auch in Buchstaben, die dem lateinischen Alphabet nicht im Entferntesten ähnelten. Trotzdem hatten sie sich vor seinen Augen automatisch übersetzt.

Sam blinzelte erneut und spürte, wie sein Puls immer stärker im Hals pochte, bis er das Blut in seinen Ohren dröhnen hörte. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Dann schaute er sich noch einmal die Buchstaben auf der Seite an und sah nur einen undurchdringlichen Dschungel voller Symbole.

„Ich weiß nicht …“, brachte er heraus. „Ich weiß nicht mal, warum ich das lesen konnte. Ich weiß nicht einmal, was für eine Sprache das ist.“

„Es ist Koptisch“, sagte McClane, dessen Stimme vor Überraschung vollkommen hohl klang. „Es ist eine tote Sprache. Niemand spricht das – jedenfalls nicht mehr.“

„Nun …“ Sam schluckte und versuchte, sich wieder zu sammeln. „In letzter Zeit haben sich die Dinge für mich etwas anders entwickelt.“

„Das hört sich auch so an“, sagte Tommy misstrauisch. Er sah Sam eine Weile schweigend an und schien dann zu einem Entschluss gekommen zu sein. „Wo wir gerade von anders sprechen, schauen Sie sich das mal an.“ Er blätterte weiter in dem Tagebuch und zog eine dicke, steife Daguerreotypie heraus, die er vorsichtig an der Ecke anfasste und sie Sam reichte. „Das ist die einzige bekannte Fotografie des alten Jubal.“

Sam betrachtete es. Das Foto zeigte einen hageren Soldaten mit einem keilförmigen Gesicht in einer schmutzigen, schlecht sitzenden Uniform. Seine Augen lagen im Schatten seiner Schirmmütze, aber es gab keinen Zweifel, dass ein düsteres Grinsen seinen Weg auf das Gesicht des Mannes gefunden hatte. Beauchamp sah aus wie jemand, der ein Geheimnis im Herzen trug – eines, das so finster und verheißungsvoll war, dass es, einmal enthüllt, kein Halten mehr geben würde.

Um den Hals trug er ein altes Seil, das zu einer Schlinge geknüpft war.

„Haben Sie ein Vergrößerungsglas?“, fragte Sam. Dann sah er den Computer an. „Oder noch besser: einen Scanner? Ich muss das unbedingt in Großaufnahme sehen.“

„Sicher“, piepste Nate und sah zu seinem Vater auf. „Darf ich, Dad?“

„Du weißt, wie man ihn benutzt“, sagte Tommy, und der Junge lief mit dem alten Foto zu einem der Computer, die Sam auf dem Weg in die Bibliothek gesehen hatte.

Als Nate außer Hörweite war, lehnte sich McClane näher zu Sam hinüber.

„Hören Sie“, sagte er, „hier sind noch ein paar Einträge in dem Tagebuch. Lauter Zeug, das ich noch nicht übersetzen konnte. Nach der Nummer, die Sie gerade mit der koptischen Schrift abgezogen haben, wollen Sie sich das vielleicht ansehen. Mal schauen, ob Sie sich darauf einen Reim machen können.“

Sam schlug die nächste Seite von Beauchamps Tagebuch auf. Seine Handschrift hatte sich so verändert, dass sie aussah, als würde sie von einer ganz anderen Person stammen. Die Buchstaben waren verdreht und zackig und mit Symbolen und Zeichen durchsetzt, die wie zufällig auf der Seite verteilt waren, und doch …

Sam starrte auf die Buchstaben und sah, wie sich die Zeilen verformten, ein wenig über die fleckige Oberfläche schwammen und sich irgendwie zu etwas Bekanntem anordneten.

„Jemand anders hat das geschrieben“, erklärte er, „Es besagt, dass Jubal Beauchamp getötet und wiederbelebt wurde – aber durch die Macht der Schlinge …“ Er hielt inne, wollte es genau richtig treffen. „Der Mann, der das getan hat, war ein Bürgerkriegsarzt namens Percy. Als der Doktor mit seinen Experimenten an Jubals Körper fertig war, beerdigte er Beauchamps Überreste in einem Eisensarg. Sein Geist wurde von einem Zauber gebunden, dem er nicht entrinnen konnte.“

Als er aufsah, starrte Tommy ihn an.

„Sie sind kein gewöhnlicher Jäger, oder?“, fragte der Mann.

„Ich …“, Sam wog eine ganze Anzahl möglicher Antworten ab, dann schüttelte er einfach nur den Kopf. „Nein.“

Ein längeres Schweigen senkte sich auf die beiden, nicht unangenehm, aber auch nicht wirklich angenehm. Dann fasste Sam sich ein Herz.

„Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen.“

Tommy antwortete nicht sofort. Stattdessen schob er seinen Stuhl zurück, drehte sich um und nickte in Richtung der Tür, durch die sie hereingekommen waren. Darüber konnte Sam ein kleines, dunkles Objekt erkennen, nicht viel größer als eine Hand, das an der Wand über dem Eingang angebracht war. Er stand auf, um es sich anzusehen.

Es war ein Bündel aus Haar oder Pelz, das sorgfältig um eine Auswahl von Wurzeln und Hühnerknochen gewickelt war.

„Eine Sigille gegen Unglücksboten“, sagte Sam. „Haben Sie das selbst gemacht?“

„Ich passe auf mich und die Meinen auf“, sagte Tommy in ruhigem Ton. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin auf dem College gewesen. Ich bin kein autodidaktischer Hinterwäldler. Aber wir sind hier im Süden. Sie wären überrascht, was wir hier so alles zu sehen bekommen.“ Er sah Sam prüfend an. „Oder vielleicht auch nicht.“

„Weiß jemand, wo Beauchamp begraben wurde?“

„Nein. Die Überlieferungen besagen, dass er und Dutzende anderer Soldaten irgendwo in einem Massengrab auf dem Schlachtfeld begraben worden sind. Anonym und an die Zeit verloren. Und wahrscheinlich ist’s am besten, alles so zu belassen, wenn Sie mich fragen.“

„Danke für Ihre Hilfe“, sagte Sam.

Tommy McClane nickte. Irgendetwas schien ihn immer noch zu beschäftigen – eine Art Unruhe, die er nicht mit Worten ausdrücken konnte. Als Sam sich zum Gehen wandte, sprach er mit leiser Stimme.

„Sam?“

„Ja?“

„Ich weiß, dass Sie ein Jäger sind, also wissen Sie, worauf Sie sich einlassen. Aber der Boden hier ist blutgetränkt. Was immer Sie auch tun werden, Ich hoffe für Sie, dass Sie nicht zu fest auftreten.“ Er atmete ein und wieder aus. „Ein Teil des Zeugs liegt nicht allzu tief begraben.“

„Sie wissen doch, was Faulkner über die Vergangenheit gesagt hat“, entgegnete Sam.

„Ja. Er sagte, sie ist nicht tot. Nicht einmal vorbei.“ Dann hellte sich Tommys Miene etwas auf, und er fügte hinzu: „Geben Sie mir Ihre Telefonnummer und E-Mail-Adresse. Ich sorge dafür, dass Nate Ihnen den Scan als Anhang schickt.“

Sam nickte.

„Und hey!“

„Ja?“

„Sie wollen bestimmt wissen, wie der Süden den Krieg wirklich verloren hat?“

Sam runzelte die Stirn.

„Ich bin nicht sicher, ob ich das …“

„Schauen Sie nach dem Abendessen bei mir zu Hause vorbei, wenn Sie möchten. 440 Baxter Springs Road. Wir setzen uns auf die Veranda, trinken Eistee und reden über Geister. Und vergessen Sie Ihren Bruder nicht …“

„Dean“, sagte Sam und willigte ein.

Der Junge kam zurück und legte das Foto vorsichtig wieder an seinen angestammten Platz. Dann bahnten sich die drei ihren Weg zurück zur Haustür.

Sam winkte Tommy und Nate zum Abschied zu und ging die Treppen hinunter in die Nacht hinaus.

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