Zweiunddreißig

Sechs Uhr fünfzehn morgens. Während der Rest der Ostküste gerade aufwachte, sich die erste Tasse Kaffee einschenkte und die Nachrichten einschaltete oder sich im Internet die ersten Updates zu einem Ereignis holte, das später als die merkwürdigste Attacke in der jüngeren Geschichte in die Bücher eingehen würde, passierten auch noch andere Dinge. Es waren weniger als zwei Stunden vergangen, seit Tommy McClane die Schlinge aufgeschnitten und seine Armeen der Nacht auf Mission’s Ridge losgelassen hatte. Aber in einem Zeitalter moderner Wunder, in dem die Warnstufe des Heimatschutzministeriums für die nationale Gefahrenlage mehr oder weniger permanent auf Orange stand, waren zwei Stunden eine Menge Zeit.

Die Nachricht hatte sich verbreitet. Die Alarmglocken hatten geschrillt. Beamte waren aus den Betten geholt und instruiert worden. Und gewisse Bundesbehörden hatten mit dem angemessenen Grad von Engagement und Enthusiasmus reagiert.

Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte das Ministerium für Heimatschutz die Gründung mehrerer regionaler, streng geheimer Einsatztruppen autorisiert. Das waren Armeen im Bereitschaftszustand, die mit den neuesten Waffen ausgerüstet waren und sowohl über Boden- als auch über Luftunterstützung verfügten. Anders als die Nationalgarde trainierten sie nur für einen einzigen Ernstfall – den eines massiven Terrorangriffs auf amerikanischem Boden. Als sich die Karte über Mission’s Ridge, Georgia, rot färbte, genau um sechs Uhr an diesem Morgen, waren sie in Bereitschaft und wurden sofort mobilisiert.

Als der erste schwarze Helikopter über ihre Köpfe brummte, rannten Sam und Sarah gerade, so schnell sie konnten, über das Schlachtfeld, in jeder Hand die Tragestange einer Bahre. Sam beachtete den Helikopter nicht weiter. Dafür war er in diesem Moment viel zu beschäftigt. Der Größenunterschied zwischen ihm und Sarah machte es schon schwer genug, die Bahre zu tragen, aber deren Gewicht machte es beinahe unmöglich. Auf der Trage lagen zwei verletzte Rollenspieler aus dem Zelt, von denen einer so aussah, als würde er den Ausflug nicht überleben. Ashgrove und ein weiterer Rollenspieler namens Bendis rannten hinter ihnen her und trugen eine weitere Bahre mit zwei Verletzten.

Den Rest würden sie später holen müssen – wenn sie noch die Gelegenheit dazu bekamen.

„Hier lang“, schrie Sarah. „Passt auf die Bahnschienen auf!“ Im Krebsgang kletterten sie und Sam über die Eisenbahnschienen, stiegen über schwere, hölzerne Bahnschwellen hinter dem aus Dampflok, Kohlenwagen und Flachwagen bestehenden Zug aus dem neunzehnten Jahrhundert. Dahinter stand der Eisenbahnschuppen an der westlichsten Ecke des mit dichtem Unterholz bewachsenen Waldes, der die äußere Begrenzung des Schlachtfelds markierte.

Der Helikopter wendete über dem Wald und vollendete damit seinen Rundflug über das Gelände.

Sam lief rückwärts auf den Eisenbahnschuppen zu, holte mit dem Knie aus und trat die schwere Holztür ein. Sie flog weit auf. Sarah und er duckten sich hinein. In den Schatten roch es nach Kohle und Öl und uraltem Eisen.

„Das Dach ist aus verstärktem Stahl“, sagte Sarah. „Das war in den Konföderierten Staaten von Amerika üblich, um die Züge zu schützen. Ich dachte, hier wären wir sicherer.“

„Gut“, nickte Sam und zuckte etwas zusammen, als sie die Bahre ablegten.

„Wie geht’s Ihnen?“, fragte sie.

„Mein Knöchel … er kommt schon in Ordnung.“

Ashgrove und Bendis kamen bereits mit ihren Verwundeten durch die Tür und legten die Trage so sanft wie möglich ab.

„Was ist mit den anderen?“, fragte Bendis.

„Ich kann versuchen, noch einmal zurückzugehen“, sagte Sam. Über ihnen zog der Helikopter eine weitere Runde im Tiefflug. Das Brummen der Rotoren übertönte für einen Moment alles andere.

„Habt ihr das Ding gesehen?“, fragte Bendis weiter. „Wer ist das?“

„Wer immer das ist“, sagte Sarah, „ist nicht hier, um uns zu helfen.“

„Vielleicht sind die von der Katastrophenschutzbehörde“, überlegte Ashgrove.

Bendis schenkte ihm einen finsteren Blick.

„Verkneif’s dir!“

„Komm schon, Alter!“ Ashgrove schüttelte den Kopf. „Es könnte ein Rettungshubschrauber sein. Wenn wir aufs Dach kommen …“

Eine donnernde Explosion erschütterte den Eisenbahnschuppen. Es dröhnte, und die Wände zitterten, als wären sie in einer Blechtrommel gefangen. Von der Decke rieselten Staub und Kalkbrocken. Sam hatte sich in Abwehrhaltung hingekauert. Als das Nachbeben vorbei war, ging er zurück zur Tür und blickte, immer noch geduckt, auf das Schlachtfeld hinaus.

Dann verließ ihn der Mut.

„Es ist zu spät.“

Sarah kam zu ihm und blickte ebenfalls hinaus. Das Zelt, das sie vor ein paar Minuten verlassen hatten, stand in Flammen. Die letzten vier hatten es nicht nach draußen geschaff, und jetzt konnten sie das auch nicht mehr. Die Dämonen, die es in Brand gesteckt hatten, trieben ihre Pferde durch die Feuersbrunst und feuerten wahllos hinein.

Über ihnen dröhnte wieder der Hubschrauber vorbei.

Sam stand auf und machte eine kurze Bestandsaufnahme ihrer neuen Umgebung. Der Eisenbahnschuppen war ungefähr sechzig Meter lang und zehn Meter breit. Ähnlich wie die Räume der Historischen Gesellschaft hatte man ihn mit kleinen Ausstellungsstücken verschönert, die zeigten, wie die Schlacht damals verlaufen war. In den Vitrinen an den Wänden waren Eisenbahnwerkzeuge, Zeitungen und andere Relikte ausgestellt.

Bendis und Ashgrove beugten sich über die Verwundeten und führten eine Triage durch, um die Schwere der Verletzungen einzuschätzen.

„Mann“, sagte Bendis. „Das hier ist ja schlimmer als in Falludscha.“

Sarah sah ihn überrascht an.

„Du warst dort?“

„Zweimal. Da habe ich diesen Blödmann kennengelernt.“ Er blickte Ashgrove an. „Achtzehn Monate und nicht ein einziger Kratzer. Dann ruft er mich letztes Jahr an und fragt mich, ob ich Lust auf ein bisschen Spaß am Wochenende habe.“ Bendis schüttelte angesäuert den Kopf. „Ein bisschen Spaß.“

Ashgrove sah ihn eiskalt an.

„Willst du damit sagen, dass du aufgibst, Marine?“

Bendis erhob sich. Seine Wangen waren gerötet.

„Negativ. Was immer da draußen ist, was zur Hölle das auch ist, es versucht uns umzulegen. Zwei der Männer, die da draußen heute ihr Leben gelassen haben, haben mit dir und mir gedient.“

„Gut“, antwortete Ashgrove. „Ich habe mir einen Moment lang schon Sorgen um dich gemacht.“

Entweder waren diese beiden ziemlich mutig, dachte Sam, oder ziemlich dumm. Dann half er ihnen mit den Verwundeten.

Eine weitere Explosion erschütterte den Boden. Der Eisenbahnschuppen zitterte, und noch mehr rostfarbener Staub rieselte von der Decke.

Sam beugte sich über einen der Verletzten. Das Bein des Mannes war unterhalb des Knies fast vollständig abgetrennt und hing nur noch an ein paar Hautfetzen. Sams Hände waren voller Blut. Er entfernte die rotgetränkten Lumpen von dem Bein und warf sie zu einem unordentlichen, feuchten Haufen auf die Seite.

„Hey!“, rief er plötzlich aus.

„Was ist denn?“, fragte Sarah.

„Eine Aderpresse.“ Sam sah Ashgrove und Bendis an.„Wer von euch beiden hat sie angelegt?“

„Ich“, meldete sich Bendis. „Warum, ist das wichtig?“

„Wo hast du das Ding hier gefunden?“

„Irgendwo da draußen. Da lag ein Stück Seil, und ich habe es genommen. Seine Oberschenkelarterie war durchtrennt, und ich brauchte etwas, um den Verband zu befestigen, um die Blutung zu stoppen. Was macht das für einen Unterschied?“

Sam benutzte Gazestreifen, um die dicke Seilschlinge anzufassen, die fest um das Bein des Mannes geschlungen war, und inspizierte sie. Es war die letzte Windung der Judas-Schlinge. Sarah beugte sich zu ihm herüber, um einen genaueren Blick darauf zu werfen.

„Was ist das?“

Der Verletzte setzte sich kerzengerade auf und packte sie. Seine Augen waren aufgerissen und pechschwarz.

Er grinste.

Sarah schrie.

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