Siebenunddreißig

Sarah Rafferty packte mit beiden Händen zu und zog sich auf die Ladefläche des Flachwagens. Dort stand das auf einen Drehturm montierte Gatling-Geschütz. Sheriff Daniels hatte bereits dahinter Position bezogen und inspizierte die Handkurbel des Geschützes. Sie umklammerte den Griff mit beiden Händen und mühte sich ab, ihn zu drehen. Sie drückte ihn mit ihrem ganzen Gewicht nach unten, aber der Mechanismus saß wie festgewachsen.

„Glauben Sie, dass das funktionieren wird?“, fragte Sarah.

„Ob ich glaube …?“ Dean lehnte sich aus dem Fenster der Lokomotive und sah zu Sam hinab. „Sag’s ihnen, Sammy!“

„Was soll er mir sagen?“

„Dean liebt Filme mit Clint Eastwood“, erklärte Sam.

Sarah starrte die Winchester-Brüder an.

„Das verstehe ich nicht.“

„Schon mal Der Mann, der niemals aufgibt gesehen?“

„Nein, ich glaube nicht.“

Dean verdrehte die Augen. „Niemand weiß die Klassiker noch zu schätzen. Okay. Eastwood spielt einen heruntergekommenen Cop, der ein Ex-Straßenmädchen zu einem Prozess fährt. Sie soll gegen den korrupten Polizeichef einer Großstadt aussagen. Eastwood hat nur den Auftrag, die Zeugin lebendig abzuliefern. Allerdings hat der Oberbulle jedem Cop auf der Straße befohlen, ihn abzufangen – und diese Polizisten sind bis an die Zähne bewaffnet. Sie haben die Innenstadt von Phoenix in den größten Schießstand der Welt verwandelt. Dann taucht Eastwood mit einem alten, klapprigen Greyhoundbus in einem Vorort auf. Er hat ein Blech auf die Windschutzscheibe montiert, und er und seine Zeugin müssen den Spießrutenlauf wagen.“

Er sah die Frauen erwartungsvoll an. Sarah und Sheriff Daniels starrten mit leerem Blick zurück.

Sarah fand zuerst die Sprache wieder.

„Und warum soll ich mich deswegen jetzt besser fühlen?“

Dean setzte gerade zu einer geistreichen und sarkastischen Antwort an, als sein Blick zum ersten Mal in das Innere des Lokführerstands fiel. Plötzlich war er sich auch nicht mehr so sicher. Der massive Eisenkessel vor ihm sah so groß wie ein Haus aus. Überall sprossen Messinstrumente, Hebel, Ventile und Rohre. Ein klobiges Ding, das aussah wie ein Teekessel aus Aluminium mit einem Messinghenkel, ragte direkt neben seinen Beinen hervor. Weiter unten klaffte die Öffnung der Feuerklappe, kalt und tot, wie das Maul eines Riesen, der die längst vergessenen Dämpfe der vor hundert Jahren verbrannten Kohlen ausatmete.

Komm schon! Reiß dich zusammen!, dachte Dean. Das ist schließlich auch nur ein Verbrennungsmotor, oder? Wie sehr kann der sich schon vom Impala unterscheiden?

Dean legte die Hände auf den großen Hebel, der horizontal von rechts nach links durch den Führerstand verlief. Das musste der Gashebel sein. Er legte seine Hände fest um den Griff und riss so kräftig daran, wie er konnte.

Er bewegte sich keinen Millimeter.

„Äh, Sam?“

Sam kam durch den leeren Kohlenwagen in den Führerstand der Lok. Er trug auf beiden Armen ein blutiges Bündel Bandagen.

„Du hältst dich besser fest.“

„Was? Warum …“

Ohne sich zu einer Antwort herabzulassen, schob Sam die Hälfte der blutbefleckten Lumpen in die leere Feuerbüchse, schlug die Metallklappe zu und trat zurück.

Nichts passierte.

Sam und Dean standen einen Moment schweigend da und sahen auf die Klappe.

„Ich fand, als Doug Henning den Trick vorgeführt hat, hat er besser funktioniert“, sagte Dean beiläufig.

„Warte mal!“ Sam bückte sich und spähte durch Schlitze in der Klappe. Er konnte sehen, dass die Lumpen auf einem Haufen lagen. Dort schien sich nichts verändert zu haben. Er zog die Feuerklappe wieder auf, nahm das lange Schüreisen, das am Kessel lehnte, und steckte es hinein. Vorsichtig, Stück für Stück, schob Sam es auf den Haufen mit den blutigen Stofffetzen zu. Er stieß sie vorsichtig an, wie ein Kind, das eine schlafende Schlange mit einem Stock neckt.

„Das verstehe ich nicht.“ Sam stocherte jetzt kräftiger, und die Spitze des Eisens kratzte Funken sprühend über den Metallboden. „Vielleicht ist es zu wenig Bl…“

Die Lumpen explodierten.

Es war, als ob eine Rakete in einem Pulverfass explodierte. Flammen schossen in einem dicken blauen Lichtstrahl aus der Feuerklappe, direkt auf Sams Gesicht zu. Er warf sich im letzten Augenblick zur Seite. Das Schüreisen glitt ihm aus der Hand und fiel scheppernd zu Boden. Für eine schwindelerregende Sekunde verlor Sam das Gleichgewicht und fiel fast aus dem Führerstand.

Dean schnappte ihn am Kragen und zog ihn weg.

„Schließ die Tür!“, schrie Sam. „Mach sie zu!“

Dean griff nach dem Schüreisen, rammte es gezielt vorwärts gegen die Klappe und schlug sie zu. Blaue Flammen spuckten und flackerten begierig wie Schlangenzungen durch die Ritzen der Feuerklappe.

Die Führerstand der Lok erbebte, und ein heftiges Scheppern ertönte. Dean konnte hören, wie das alte Eisen um ihn herum zu arbeiten begann. Die Luft füllte sich mit beißendem Rauch, Dampf quietschte durch die Rohre der Maschine, und die Ventile ächzten unter längst vergessenem Druck. Auf den Instrumenten vor Dean und Sam fingen die Nadeln an sich zu bewegen, sie zuckten und schossen schnell in optimistischen Sprüngen nach oben.

Aus den Nähten des Kessels sah Dean ein kleines Wölkchen aus Wasserdampf aufsteigen. Er fasste ein Rohr an, spürte, wie es immer heißer wurde, und ließ erst los, als er es nicht mehr aushielt. Er beugte sich aus der Tür. Eine der Frauen – Dean glaubte, dass es Sheriff Daniels war – rief ihm vom Flachwagen aus etwas zu.

„Was ist los? Funktioniert es?“

Bevor er ihr antworten konnte, machte die Lok einen Satz nach vorne.

Im Juli 1938 hatte eine Lokomotive namens Mallard den Geschwindigkeitsrekord für Dampffahrzeuge an Land bei einer Fahrt auf der East Coast Main Line vom Bahnhof King’s Cross in London aufgestellt. Die Offiziellen stoppten sie mit einhundertsechsundzwanzig Meilen pro Stunde, bevor die Lager überhitzten und der Maschinist die Geschwindigkeit verringern mussten. „Noch ein bisschen schneller, Freunde“, soll er zu seinem Heizer gesagt haben, „dann landen wir direkt im Schoß des Allmächtigen.“

Als die Winchesters die Außenbezirke von Mission’s Ridge auf sich zukommen sahen, fuhren sie relativ schnell – wahrscheinlich nur achtzig Meilen, obwohl es sich im Lokführerstand wie über hundert anfühlte. Dean hatte den Hebel auf volle Kraft gestellt. Die Pfeife stieß ein stetiges Signal aus. Das zweite Stellventil war ein sogenannter Johnson-Hebel. Einen halben Kilometer vor der Innenstadt hatte Dean auch den Johnson auf volle Leistung gestellt.

Sie würden in wenigen Minuten da sein.

Rauch spuckend und mit stampfenden Kolben schoss der Zug wie eine Rakete auf den Schienen entlang. Eigentlich war es unmöglich, sich diesen Zug nicht als ein Lebewesen vorzustellen. Dean hielt den Regler ständig auf Maximum fest, während die letzten Ausläufer der Wälder an ihnen vorbeiflirrten, um Wohnhäusern und Farmgebäuden Platz zu machen.

„Dean!“

Sam stand im Führerstand, seine Augen tränten vom Fahrtwind, und er musste brüllen, damit Dean ihn hören konnte.

„Wir müssen anhalten!“

„Was?“

Anhalten!“

„Das ist doch verrückt! Es …“

Doch dann sah Dean, warum. Ziemlich weit vor ihnen, dort, wo die ersten Schaufenster und Läden den eigentlichen Ortseingang von Mission’s Ridge anzeigten, lagen Körper auf den Bahngleisen. Und einige von ihnen schienen noch am Leben zu sein.

McClane war die Idee in letzter Minute gekommen, als er gesehen hatte, wie sein Dämonenbruder den armen Teufel vor der Videothek mit einem Säbel an die Wand genagelt hatte. Als er das Pfeifen der Lokomotive hörte, wurde ihm sofort klar, wie die Winchesters die Schlinge zurück in die Kirche bringen wollten. Er war mitten auf der Main Street in die Knie gegangen und hatte eine Hand auf die Gleise gelegt. Er hatte bereits spüren können, wie sie vibrierten.

„Schnell!“, hatte er gesagt. „Holt mir ein paar Kinder!“

Sie waren auf die Schienen gefesselt. Dean konnte ihre Gesichter bereits aus Hunderten von Metern Entfernung erkennen, obwohl sein Hirn sich einen Moment lang weigerte, es zu akzeptieren. Vorne lag ein kleines blondes Mädchen in einem blauen Kleid und weißen Kniestrümpfen. Ihr Gesicht war weiß wie Porzellan, und aus ihren Zügen sprach die blanke Angst.

Ungefähr ein Dutzend anderer Kinder lagen an Armen und Beinen gefesselt hinter ihr. Alle blickten den Zug an und schrien. Dean blieb fast das Herz stehen. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf – Wo sind ihre Eltern? –, aber die Antwort kannte er schon. Sie verschaffte sich stampfend wie die Räder der Lok Einlass in seinen Kopf.

Besessen. Oder schlimmer.

Tot. Tot. Tot.

Dean griff nach der Druckluftbremse und zog, so fest er konnte. Das Metall kreischte gequält auf. Die Maschine rumpelte vorwärts, weil die Kupplungen der Waggons zusammenstießen. Kolben rauchten, eiserne Räder wetzten auf den Schienen und schleuderten ganze Funkenschwärme in alle Richtungen. Trotzdem donnerte die Lok als Gefangene ihres eigenen Schwungs weiter vorwärts.

„Wir schaffen es nicht“, schrie Sam.

Der Zug kratzte weiter auf den Schienen vorwärts, die Bremsklötze fauchten, während die Lokomotive unaufhaltsam und ohne ausreichende Reibung zum Bremsen die Main Street entlangschlitterte. Sie wurden langsamer – zuerst zwanzig, dann fünfzehn Meilen die Stunde –, aber es dauerte einfach zu lange. Dean stand an der Bremse. Er presste seinen Mund in vollkommener Konzentration zusammen, ganz so, als ob er versuchte, die Fahrt irgendwie durch pure Willenskraft zu beenden.

Sam sprang.

Dean hatte nicht einmal gemerkt, was Sam getan hatte, bis er seinen Bruder rennen sah. Er rannte nicht nur. Dean sah etwas in Sams Hand aufblitzen. Es sah aus wie eine Zange. Sam lief damit an den Schienen entlang vor der Lok her. Er erreichte das blonde Mädchen, beugte sich zu ihm herunter und begann die Seile durchzuschneiden. Er schnitt, so schnell er konnte. Als das Mädchen frei war, sprang es mit tränenerfüllten Augen auf, und Sam wandte sich dem nächsten Kind zu. Es war ein fünfjähriger Junge in einem zerrissenen T-Shirt und schmutzigen roten Shorts. Sam konnte den Arm des Jungen befreien, aber seine Beine waren vom Schweiß und der Schmiere auf den Schienen schlüpfrig, und er wollte einfach nicht stillhalten. Schließlich schaffte Sam es doch, und der Junge kroch zur Seite.

Er machte beim nächsten weiter, konnte aber hinter sich bereits spüren, wie der Zug herandonnerte. Die Lok erschütterte die Schienen nicht nur, sie schien sie mit Vibrationen von unvorstellbarer Kraft und Gewalt regelrecht zum Leben zu erwecken.

Sam sah die anderen Kinder an. Es waren so viele – viel zu viele –, mindestens noch zehn, und jedes einzelne war fest an seinen Platz gefesselt.

Sie starrten ihn an.

Der Schatten des Zuges fiel bereits auf sie, und Sam Winchester wurde klar, dass er nicht alle retten konnte. Er drehte sich um, um nachzusehen. Der Zug kam immer noch auf sie zu.

Noch fünfzehn Meter.

Noch zehn.

Fünf.

Er stand völlig paralysiert da, wie angewurzelt. Das Schicksal schien mit dem Finger direkt auf ihn zu zeigen. Für einen Moment dachte er daran, sich selbst auf die Schienen zu werfen, in der unbegründeten Hoffnung, mit seinem Körper das letzte entscheidende Hindernis zu schaffen. Vielleicht konnte er so das letzte Kind in der Reihe retten. Vielleicht würde …

Er schloss die Augen.

Mit einem letzten Kratzen und Kreischen hielt die Maschine an.

Sam blickte wieder nach oben. Die Lok hatte weniger als einen Meter vor ihm gestoppt. Er hätte die Hand ausstrecken können, um den Kuhfänger zu berühren.

„Sam!“, rief Dean aus dem Lokführerstand. „Mach diese Kinder los! Wir sind …“

Da ertönten aus den oberen Fenstern in der Main Street bereits die ersten Schüsse. Sam stand jetzt voll unter Adrenalin und arbeitete schnell. Seine Hände bewegten sich mit nahezu übermenschlicher Geschwindigkeit. Zwei der Kinder waren verletzt, eines hatte sich an seiner Schneidezange verletzt, das andere war von einer Kugel ins Bein getroffen worden.

Dann merkte Sam, dass Dean neben ihm war und ihm mit dem Dämonenmesser half, die Seile mit schnellen, gezielten Schnitten zu durchtrennen. Er machte die Kinder los und schob sie in offene Türen auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Sie konnten Splitter aus Asphalt und Beton gegen sich spritzen fühlen, als die Musketen feuerten. Sam musste gar nicht hinsehen, um zu wissen, was passierte.

Dämonen schossen von beiden Seiten auf sie herunter und ließen einen Hagelsturm aus Schrot über das Pflaster peitschen.

Sie zielen um mich herum, dachte Sam. Sie wollen trotz allem das Gefäß nicht beschädigen.

Als er seinen Kopf wieder hob, sah Sam, wie die letzten der Kinder sich gerade in ein Restaurant namens Whotta Lotta Pizza flüchteten. Zehn Sekunden später zersprang die Fensterfront der Pizzeria unter schwerem Gefechtsfeuer in Millionen Splitter. Sam hoffte – betete –, dass die Kinder schlau genug gewesen waren, in Deckung zu gehen.

Sam, völlig ohne Deckung und von Kugeln mehr oder weniger eingerahmt, warf Dean einen Blick zu. Nun konnte er auch die Soldaten erkennen. Ihm wurde klar, dass die erste Salve eher spielerisch gemeint war und ihnen Angst einjagen sollte. Jetzt war das Spiel vorbei. Die Dämonen duckten sich hinter den Fenstern oder lauerten auf den Dächern, sodass der Vergleich mit Der Mann, der niemals aufgibt gar nicht mehr so weit hergeholt schien. Es passierte wirklich, und Sam und Dean waren mittendrin.

Wir sind mausetot, dachte Sam. Zumindest Dean ist es.

Plötzlich hörten sie vom Flachwagen am Ende des Zuges ein neues Geräusch, ein lautes, mechanisches Rattern. Eine Salve von Schüssen ertönte, als ob gerade jemand das Feuer mit einem Maschinengewehr eröffnet hätte.

Was zur …

Bevor Sam verstand, was da passierte, begannen die Dämonen zu fallen. Oben auf den Dächern wurden ihre Körper in alle Richtungen gewirbelt und tanzten im Kugelhagel zuckend einen bizarren Tanz, um schließlich zu erschlaffen und wie Steine auf die Erde zu stürzen. Sam kamen sie beinahe wie Rollenspieler aus der Hölle vor, die den berühmten Sturz ihres eigenen Lichtbringers nachspielten. Er drehte sich nach dem Flachwagen um. Sheriff Daniels stand hinter dem Gatling-Geschütz aus dem Bürgerkrieg und drehte die Kurbel mit wütender Konzentration. Die rauchende Trommel rotierte gleichmäßig und spuckte einen wahren Feuersturm aus. Die eisernen Schäfte der Gatling glänzten dort rot, wo sie mit den blutigen Lumpen abgewischt worden waren.

Daniels drehte die Kurbel jetzt schneller. Sarah Rafferty stand hinter ihr und half, den Geschützturm zu bewegen, damit sie die Dächer rundum mit Feuer bestreichen konnte. Daniels sah, dass Sam sie anstarrte, nahm eine Hand von der Waffe und schwenkte sie in der Luft vor und zurück.

„Bewegt euch!“, brüllte sie. „Lauft!“

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