Vierunddreißig

Sam landete mit voller Wucht auf dem Dämon. Er hatte gehofft, dass der bloße Schwung ausreichen würde. Der Dämon ließ erwartungsgemäß Sarahs Hals los, allerdings nur, um seine volle Aufmerksamkeit Sam zuzuwenden. Der Dämon hatte Sam Winchester im Handumdrehen zu Boden gedrückt. Er war auf Blut aus.

Sam hatte keinen Plan und nichts, womit er sich verteidigen konnte. Das Wesen presste ihn auf den Boden. Der Schwefelgestank war überwältigend. Der Dämon griff nach einem der blutigen Lumpen, die einst als Druckverband gedient hatten, riss Sams Mund auf und versuchte, den Lumpen hineinzustopfen.

Sam würgte, wieder und wieder wurde sein Würgereflex ausgelöst, bis es ihm schließlich gelang, den Mund zu schließen. Trotzdem konnte er das Blut riechen. Aber es war nicht irgendein Blut. Es war schwer, fast berauschend mächtig und zugleich auch irgendwie verdorben – Dämonenblut. Der Rollenspieler hatte auch noch in die Verbände geblutet, als der Dämon längst Besitz von ihm ergriffen hatte.

Sam versuchte, den Kopf wegzudrehen und seinen Mund geschlossen zu halten. Der Dämon aber umklammerte seinen Unterkiefer noch fester und versuchte weiter, Sams Mund aufzudrücken.

Im Hintergrund, in ungefähr einer Million Kilometern Entfernung, tat sich etwas. Ashgrove und Bendis versuchten, Sam von seinem Angreifer zu befreien. Aber der Dämon schüttelte die beiden wie lästige Insekten ab. Sam konnte nicht viel sehen. Der Raum um ihn herum verschwamm schnell und versank in verschiedenen Grauschattierungen.

Lass ihn in Ruhe!“, sagte eine Stimme.

Der Dämon schoss nach oben und nahm damit sein Gewicht von Sams Brust. Als Sam wieder etwas klarer sehen konnte, erkannte er Castiel, der den Angreifer von ihm heruntergezogen hatte und an der Kehle gepackt hielt. Er würgte ihn mit beiden Händen, während der Dämon nur noch ein Gurgeln von sich geben konnte.

„Cass“, sagte Sam. „Ich dachte …“

Die Tür des Eisenbahnschuppens wurde aus den Angeln gerissen und flog wie ein weggeworfenes Spielzeug in den Raum hinein.

Castiel verschwand.

Und inmitten dieses Chaos schoss Sam ein Bibelvers durch den Kopf: Und der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Woher kam dieser Gedanke nur?, fragte er sich benommen, und warum fiel ihm das ausgerechnet in diesem Moment ein?

Der Tür folgte die ganze Wand. Das Holz und der gehärtete Stahl des Schuppens sprengten in einem flammenden Geysir von der Breite eines Sattelzugs nach innen. Die Stichflamme saugte den gesamten Sauerstoff aus dem Gebäude. Die Decke senkte sich mit einem verschrumpelten Kreischen aus splitterndem Eichenholz und gemartertem Stahl. Es war, als wären sie gefangen in einer riesigen Konservendose, die gerade zerquetscht wurde.

Das Dach kommt herunter, dachte Sam. Und es …

Das Geräusch verstummte. Die letzte Reihe der Querbalken hatte standgehalten. Sam sah nach oben zu den Stahlplatten, die teilweise eingedrückt keine fünf Meter über ihren Köpfen hingen. Er zwang sich aufzustehen, spuckte den blutigen Lumpen aus und steckte sich einen Finger in den Hals. Sam spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. Dann würgte er einen dicken Fleck blutiger Flüssigkeit auf die Erde.

Bin ich es los?

Ich glaube schon. Ich hoffe es. Ich glaube, wir werden das früh genug herausfinden.

Durch den Rauch hindurch sah Sam, wie Tommy McClane aus den Flammen auf ihn zukam. McClanes Gesicht war ein verrücktes expressionistisches Gemälde aus blauen Flecken. Auf einem seiner schwarzen Augen flimmerte der Abdruck einer Sigille, die ihm jemand direkt in seine optische Membran eingebrannt zu haben schien. Er war von mehr Dämonen flankiert, als Sam zählen konnte, und sie alle waren mit Säbeln, Musketen und Bajonetten bewaffnet. Und als auch die Rückwand des Eisenbahnschuppens anfing, sich zu verbiegen und zu kollabieren, konnte Sam sehen, dass sie von allen Seiten umstellt worden waren.

„Wir haben lange Zeit auf das hier gewartet“, sagte McClane. „Ich glaube, jetzt bist du bereit.“

„Was meinen Sie …?“

„Deine wahre Natur. Es ist mir bewusst, dass es ein Gemetzel von gewissem Umfang und einen erhöhten Grad von Verzweiflung erfordert, sie zum Vorschein zu bringen.“ McClanes funktionierendes Auge rollte nach oben und wirkte dabei seltsam losgelöst von dem anderen. Er deutete mit dem Kopf auf den Dämon, der die Bandagen in Sams Mund gestopft hatte. „Er hat versucht, es selbst zu machen, aber er wusste nicht so recht, was er da tat. Und außerdem musste ich es mit meinen eigenen … nun, Augen sehen.“

„Was?“, fragte Sam. „Wovon sprechen Sie?“

„Ich spreche über dich. Du bist sein Gefäß. Sag Ja! Bring ihn hervor!“

„Luzifer?“

McClane nickte.

„Darum geht es hier also?“

„Du wirst der Bringer des Lichts sein, Sam.“ McClane stand plötzlich ganz dicht vor ihm, nur wenige Zentimeter entfernt. Sam konnte seinen Atem spüren. Alles ging so schnell, dass es dem Begriff „Bewegung“ gründlich spottete.

„Gewiss hast du von den Gnostischen Evangelien gehört. Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird das, was in dir ist, dich erretten. Wenn du nicht hervorbringst, was in dir ist, wird das, was du nicht hervorbringst, dich zerstören.“ McClane lächelte jetzt fast freundlich. „Also stelle ich dich vor die Wahl. Zeige mir jetzt dein wahres Selbst, oder du wirst zerstört!“

„Bei Ihnen hört sich das so verlockend an.“

„Verlockend oder nicht“, sagte McClane. „Das ist unser Höchstgebot, und du wirst kein besseres Angebot mehr bekommen.“

Sam schüttelte den Kopf.

„Ich glaube, dann solltet ihr mich besser umbringen.“

McClane sah ihn einfach nur an, ein dünnes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er schien nicht einmal verärgert zu sein. Eher schon zufrieden.

„Aber schön der Reihe nach.“ Er gab einem der Kavallerie-Dämonen zu seiner Linken ein Zeichen und sagte: „Tötet das Mädchen!“

„Warten Sie!“, begann Sam. „Sie hat nichts …“

Der Dämon packte Sarah Rafferty an den Haaren und riss sie zu sich hin. Die Spitze seines Bajonetts kam an ihrer Kehle zu ruhen. Auf dem blanken Metall der Klinge spiegelte sich das Pochen des Pulsschlags dicht unter Sarahs Haut.

„Wollen wir es noch einmal versuchen?“, fragte McClane. „Nein?“ Dann wandte er sich an den Dämon mit dem Bajonett. „Fang an! Aber lass dir Zeit!“

Die Klinge senkte sich in Sarahs Hals. Sam sah, wie ihr Mund sich erschrocken zu einem dunklen Oval des Schmerzes weitete.

Aber was er als Nächstes hörte, war nicht ihr Schrei.

Es war die Stimme seines Bruders.

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