Sechzehn

Die chaotische Menge aus Polizisten, Zivilisten und Rollenspielern auf dem Parkplatz war immer noch ziemlich groß, sodass Sam und Dean sich unentdeckt dem mobilen Kriminallabor nähern konnten.

Die Kriminaltechniker bewegten sich bereits auf das Schlachtfeld zu, und die State Police war mit der Evakuierung von Rollenspielern und Zivilisten beschäftigt. In dem Gewühl schien niemand zu bemerken, wie Sam und Dean in das Laborfahrzeug stiegen und sich zwei überzählige Bio-Schutzanzüge samt Masken ausliehen. Sam nahm zwei laminierte Arbeitsausweise an einem Lanyard an sich und warf einen zu Dean hinüber.

Dean sah sich den Namen an. „Wie spricht man das aus – Cerasi?“

„Ist doch egal. Durch die Hauben können sie unsere Gesichter nicht sehen.“

Sam und Dean setzten die Hauben der Schutzanzüge auf und senkten den Augenschutz. Dann sprangen sie vom Wagen. Dean sah sich um. Es störte ihn, dass sein peripheres Gesichtsfeld eingeschränkt war. Er drehte sich im Laufen einmal um die eigene Achse und bekam so einen besseren Eindruck.

Am westlichen Rand des Kraters sammelte sich derweil eine bunt zusammengewürfelte Menge von Medienleuten, Feuerwehrleuten, Polizisten und Bürgerkriegsdarstellern, die das Geschehen beobachten wollten. Überraschenderweise „und entgegen den Anweisungen der State Police“ schien ein großer Teil der Soldaten nicht abgereist zu sein.

Dean erschrak, als er beim Rückwärtsgehen mit jemandem zusammenstieß.

„Hey!“, schnauzte ihn die Frau an. „Pass auf, wo du hinläufst, Kollege!“

Dean blickte auf und sah, dass er geradewegs mit Sheriff Daniels kollidiert war. Zum Glück bedeckte die Maske sein Gesicht, sodass sie ihn nicht erkannt hatte.

„Sorry!

Er und Sam gingen weiter, bis sie den Rand der Grube erreicht hatten. Dean nahm einen tiefen Zug aus dem Atemgerät und beugte sich über die Kante, um nach unten zu sehen. Dieses Loch war so tief, dass wohl mehr als ein Treffer nötig gewesen war, um es auszuheben.

Dean blickte in ein Massengrab. In gut zehn Metern Tiefe waren die Außenwände der Grube rundherum mit alten Skeletten und Knochensplittern übersät. Dazwischen lagen Brocken von Schrapnellen und rostiger Munition aus der Bürgerkriegszeit. Hier ein Kanonenlauf, dort eine verbogenes Knäuel, das einmal ein Wagen gewesen sein musste. In der Mitte ein Chaos von Rippen, Wirbeln und vergilbten Knochenstücken, die einmal ein Mensch gewesen waren. Oder vielmehr Dutzende Menschen. Oder noch mehr. Baumwurzeln hatten sich um die sterblichen Überreste der Toten gewunden und umklammerten sie mit ihren knorrigen Fäusten.

Als Dean Winchester in das Loch hinunterblinzelte, war seine erste Reaktion reine Erleichterung, ein überwältigendes Gefühl von Oh, ist das alles? Nicht, dass irgendein selbst verwirklichter Teil von ihm ernsthaft erwartet hatte, ein bodenloses Höllenloch zu finden, irgendeinen Kanal in die Unterwelt, aus der es Schwefel spuckte und aus dem dämonische Scheusale ihm wild entgegensprangen – oder so etwas – und trotzdem

Trotzdem tat er es.

Er tat es.

Weil er es nach all den Jahren, die er da unten damit verbracht hatte, das zu tun, was er dort eben getan hatte, einfach tun musste.

Er überlegte.

Er war besorgt.

Er hatte Angst.

Durch pure Willenskraft schob Dean diese Vorstellungen – alle – von sich weg, und zwar so weit und so entschieden, wie er nur konnte. Mehr als jemals zuvor wollte er, dass diese Erfahrung nicht länger seine Art, die Welt zu sehen, befleckte … Und eine Wahl hatte er ohnehin nicht. Die Hölle war sein Vietnam gewesen. Sie hatte ihn für alle Zeiten gezeichnet und das konnte er weder verleugnen noch durch selbst verordnetes Nicht-wissen-Wollen ändern.

Niemals.

„Bloß, dass das hier nicht die Hölle ist“, murmelte er leise. „Das ist nur ein Haufen toter Soldaten.“

Er musste daran denken, dass man im Alltag wilde Haufen leerer Bierflaschen gerne als „tote Soldaten“ bezeichnete, und dieser Begriff kam ihm plötzlich unglaublich komisch vor. Er stellte sich ein Loch voller leerer Bierflaschen vor, mit Pabst Blue Ribbon und Coors und dem vielleicht schlechtesten Bier Amerikas, Meister Brau. Die Spannung fiel von ihm ab, und er spürte, wie sich ein durchaus willkommenes Gefühl der Benommenheit in ihm ausbreitete. Ein Labortechniker neben ihm deutete seine Reaktion offenbar als pure Verzweiflung und klopfte ihm auf die Schulter.

„Reiß dich zusammen, Mann! Das erste Mal war für uns alle schwer.“

„Ja“, brachte Dean hervor und war einmal mehr dankbar für die Maske, die sein Gesicht verdeckte. „Ist schon verdammt schwer.“

„Wir machen hier nur unsere Arbeit.“

„Du sagst es, Kumpel.“

„Hey, Dean!“ Es war Sam, der ihm auf die andere Schulter klopfte. „Siehst du das?“

„Was genau?“

„Da drüben?“

Dean sah, wie das spontan zusammengewürfelte Untersuchungsteam eine merkwürdige Seilkonstruktion über den Rand in die Grube hinunterließ. Unten befestigte ein Mann das Seil an einer rechteckigen Kiste, die halb aus dem Schmutz am Kraterboden ragte. Sie schien aus Kupfer oder Messing gefertigt zu sein. Anders als bei den übrigen Bürgerkriegsrelikten und -trümmern in der Grube schienen die vergangenen eineinhalb Jahrhunderte ihr kaum etwas angehabt zu haben.

Wenn überhaupt wirkte das Metall noch glänzender – noch strahlender –, als es nach Lage der Dinge sein durfte. Dean stellte sich vor, wie es für diese Kiste gewesen sein musste, Jahrzehnt um Jahrzehnt unter Tonnen von Dreck begraben zu sein und mutterseelenallein vor sich hin zu strahlen. Tief unter der Oberfläche, mit einer nackten, unheilvollen Intensität, die von ihrem Inneren ausging.

Während die Winde das Ding an einem seiner beiden Griffe aus dem Loch heraushievte, konnte man den Gegenstand immer besser erkennen. Dean entdeckte eine Reihe von Inschriften, die an den Seiten glitzerten. Der Sarg drehte sich langsam und reflektierte das Tageslicht, während der improvisierte Kran ihn auf der entgegengesetzten Seite des Kraters absetzte.

„Komm schon!“, forderte Sam seinen Bruder auf, und Dean folgte ihm den Kraterrand entlang. Mehrere Mitglieder von Sheriff Daniels Ermittlungsteam hatten sich bereits um den Sarg versammelt und betrachteten ihn neugierig. Es waren noch mehr Leute auf dem Weg, außerdem eins der Fernsehteams und eine Abordnung von zwei Rollenspielern, die offenbar keine Bedenken mehr hatten, „den Tatort zu kontaminieren“. Im Schutz der Menschenmenge krümmte Dean den Rücken zu einem Buckel, um sich kleiner zu machen, und zog die Kapuze des Schutzanzugs herunter. Die Brise trocknete den Schweiß, der sich auf seiner Stirn und der Oberlippe gebildet hatte, und er nahm einen tiefen Atemzug. Entweder hatte er begonnen, sich an den Geruch aus der Grube zu gewöhnen, oder der Geruch war verflogen.

„Kannst du das lesen?“, fragte er Sam.

Sam sah sich nervös um und nahm die Maske ebenfalls ab, um besser sehen zu können. Dann bückte er sich und wischte einen Klumpen Dreck vom Deckel der Kiste ab. Die Oberfläche glänzte hell, zwinkerte ihnen fast zu.

„Es kommt mir bekannt vor“, begann er. „Diese Schriftzeichen …“ Er hielt inne. „Ich glaube, diese Zeichen sehen so aus wie die in Beauchamps Tagebuch.“

„Dann ist das Beauchamps Sarg.“

„Ja.“

* * *

Bevor Sam den Sarg noch genauer unter die Lupe nehmen konnte, hoben ein paar Männer ihn hoch und trugen ihn auf das mobile Kriminallabor zu. Sam war klar, dass sie, wenn sie ihnen zum Parkplatz folgten, das Risiko eingingen, erkannt zu werden.

Aber da war es bereits zu spät.

„Sam!“

Er blickte auf und sah, was Dean bereits bemerkt hatte. Auf der anderen Seite der Grube, vielleicht zwölf Meter entfernt, stand Sheriff Daniels und starrte ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der irgendwie eine Mischung aus Wiedererkennen, Entschlossenheit und Wut widerspiegelte. Sam vermutete, dass ihm bereits klar gewesen war, dass es dazu kommen würde, als er die Kapuze abnahm … aber irgendein Teil von ihm hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. „Wir sind geliefert“, sagte Sam.

„Bleib an mir dran!“ Dean wich zurück und blickte nach rechts und links. Er ähnelte einem Quarterback, der im Geist das komplette Repertoire seiner Spielzüge durchging, selbst die hoffnungslos verrückten. Aber die Zeit war abgelaufen. Sheriff Daniels und ihre Männer kamen bereits auf sie zu. Es gab keinen Ausweg.

Verdammt!, dachte Sam. Jetzt verbringen wir die Nacht im Knast. Vielleicht sogar noch länger. Und so viel Zeit haben wir nicht.

Plötzlich sah Dean etwas, was das Spiel zu seinen Gunsten änderte. Mit einem Ruf streckte er eine Hand in die Luft.

„Hey, Komantschen!“

Sam drehte sich um und sah mehrere State Trooper, die eine Gruppe von Rollenspielern wegeskortierten. Er hatte sie hinter den panischen Pferden der konföderierten Kavallerie als Mitglieder von Dave Wolvertons Division – dem Kämpfenden Zweiunddreißigsten Georgia – erkannt. Der Soldat ganz vorne kam Sam besonders bekannt vor, und er brauchte weniger als fünf Sekunden, um Sarah Rafferty wiederzuerkennen.

Es sah so aus, als wollte sie die Pferde freilassen.

Sarah sah, wie Sheriff Daniels sich den Winchesters näherte.

„Private Will Tanner!“, rief Dean. „Können Sie mal hier drüben helfen?“

Einen Moment lang schien Sarah nicht zu verstehen, was Dean von ihr wollte. Dann begriff sie.

Die Lösung der gesamten Gleichung – der Gesichtsausdruck des Sheriffs, ihr Blick, der auf Dean und Sam gerichtet war –, alles entfaltete sich in ihren Gesichtszügen. Sie griff nach dem Bolzen am Pferch und öffnete das Tor.

Die Pferde drängten sich in einer galoppierenden Welle heraus. Es war, als ob die Vierbeiner sämtlicher Angst, die sich während des Donnerns der Kanonen in ihnen angestaut hatte, nun mit einem Mal die Zügel schießen ließen. Die Tiere kreuzten das offene Schlachtfeld vor Dean und Sam. Ihre Hufe donnerten hart über den Boden zwischen den Polizisten und Rettungshelfern und zwangen alle mit dem Urinstinkt der Angst, die einen vor einer durchgehenden Herde Reißaus nehmen lässt, zurückzuweichen.

„Jetzt!“ Sam fühlte Deans Hand an seinem Arm. „Los!“

Sam und Dean nutzten die wilde Flucht der Pferde als Deckung, um sich die Masken herunterzureißen, und liefen hinter den Kriminaltechnikern her, die den Sarg zum mobilen Kriminallabor trugen. Sie halfen, die Kiste hinten in das Fahrzeug zu laden und kletterten mit an Bord. Der Rest des forensischen Ermittlungsteams – vier Mann und ein Fahrer – wollten zu ihnen in den Wagen steigen.

„Bleibt hier“, sagte Dean. „Mein Partner und ich kümmern uns darum.“

„Ganz allein?“ Der vorderste Mann zog die Maske herunter und ließ seine Augen über die Marke streifen, die um Deans Hals baumelte. „Auf wessen Befehl?“

Bevor Dean etwas entgegnen konnte, war ein Krachen zu hören, und irgendwo hinter ihnen schrie jemand. Die Pferde waren auf dem Parkplatz angekommen, liefen zwischen den Autos herum und machten das Chaos damit komplett.

Der Mann ganz vorne fuhr herum, weil er nachsehen wollte, was passiert war.

„Abfahrt!“, bellte Dean. Er zog die Tür zu und rief nach vorne in Richtung des Fahrers: „Wohin fahren wir?“

„Das ist jetzt ein Fall für die Bundesbehörden“, rief der Mann hinter dem Steuer zurück. „Wir haben ein Flugzeug, das auf dem Malcolm County Flughafen auf uns wartet. Sind Sie die Einzigen, die mitkommen?“

„Sieht so aus“, sagte Sam.

„Wo sind denn die anderen?“

Dean sah aus dem Heckfenster und konnte sehen, wie es diverse Mitglieder der lokalen und bundesstaatlichen Polizeikräfte den Rollenspielern gleichtaten und vor der wild gewordenen Pferdeherde flüchteten.

„Die treiben die Pferde zusammen. Sieht so aus, als ob die uns mit der Leiche hier sitzen gelassen hätten.“ Er zuckte mit den Schultern. „Was soll man machen?“

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