7.

Die Brücke war unmöglich, aber sie existierte. Sie tauchte irgendwann um die Mittagszeit aus dem Dunst der Ebene auf, ein dünnes, mit Schatten gemaltes Filigran, das mit jedem Hufschlag der Pferde an Substanz - aber nicht an Glaubwürdigkeit - gewann. Ihre Stützen zogen sich in einem kühnen, weit geschwungenen Bogen über die Schlucht; ein doppeltes, sichelförmiges Geländer, das sich irgendwo auf der anderen Seite in wehenden Nebel aufzulösen schien, kurz bevor es den Boden berührte. Die ganze Konstruktion schien zu beben und im Rhythmus des Windes über dem Nichts zu tanzen; eine optische Täuschung, bedingt durch die Entfernung und die schlechten Sichtverhältnisse, aber trotzdem eindrucksvoll.

Sie hielten, noch immer in respektvollem Abstand von der Felskante, nebeneinander an und starrten das bizarre Bauwerk stumm und lange an, und selbst Skar, der geglaubt hatte, gegen alles gewappnet zu sein und sich von keinem auch noch so gewaltigen Anblick mehr beeindrucken zu lassen, rang lange und vergeblich nach Worten. Es war nicht die Größe der Brücke allein - das Goldene Tor von Kohon, das die Zufahrt des Kriegshafens überspannte, war nahezu ebenso lang wie diese Brücke, und seine steinernen Stützpfeiler mußten ebenso hoch, wenn nicht höher in die Luft ragen, aber dem Goldenen Tor fehlte - wie eigentlich jedem Bauwerk, an das er sich erinnern konnte - die graziöse Leichtigkeit, die dieser Steg trotz seiner ungeheuren Abmessungen ausstrahlte. Der Bogen, in dem er sich über das Nichts spannte, spottete der Schwerkraft und den Naturgesetzen, jeder einzelne Pfeiler, jede Stütze, war ein Triumph über die Natur, eine Absage an alles, was er jemals über Anziehungskraft und Statik gehört hatte.

Schließlich war es El-tra, der das Schweigen brach. »Wir sollten uns weiter von der Schlucht zurückziehen«, sagte er mit dem ihm eigenen Pragmatismus. »Wenn es Wachen gibt, so sehen sie uns zu früh.«

Skar löste widerwillig den Blick von der Brücke und sah nach Westen. Sie waren, ohne daß er es bisher bewußt wahrgenommen hätte, seit Stunden über vollkommen flaches, deckungsloses Gelände geritten, aber es war nur ein Streifen, der - wenn auch Meilen breit - sich doch eng an die Konturen der Hellgor anschmiegte und ihr folgte wie grüner Uferbewuchs dem Lauf eines Flusses. Zur Rechten, jenseits der polierten dunkelgrünen Glasebene, zogen sich die zerborstenen Ruinen Tuans in gleichbleibender Monotonie dahin. Dort würden sie sich der Brücke nähern können, ohne zu früh gesehen zu werden.

»Könnt ihr ... feststellen, ob sie bewacht ist?« fragte er unsicher.

El-tra wandte den Blick, sah ihn an und schüttelte nach einer merklichen Pause den Kopf. »Wir können sehen, was war und was ist«, erklärte er geheimnisvoll. »Nicht was sein wird.«

Skar grinste säuerlich. »Wenn das, was du jetzt so umständlich erklärt hast, nein heißen soll, dann stimme ich dir zu«, sagte er. »Reiten wir ein Stück nach Westen.«

El-tra gab einen Laut von sich, der Ähnlichkeit mit einem Lachen hatte. »Das soll es heißen«, bestätigte er.

Sie wichen im rechten Winkel von ihrem bisherigen Weg ab und ritten zurück in die Alptraumlandschaft, der sie vor wenigen Stunden erst entronnen waren. Der Wind blies ihnen jetzt in die Gesichter, und schon aus diesem Grunde war eine Unterhaltung unmöglich. Sie legten den Weg schweigend zurück, langsam, aber mit verbissener Stetigkeit, und bewegten sich auch dann noch weiter von der Hellgor fort, als sich die Reihe der geschwärzten Ruinen wie eine dunkle Festungsmauer hinter ihnen geschlossen hatte; ein Wall, der nicht dem Ansturm des Feuers, wohl aber dem der Zeit standgehalten hatte. Erst, als El-tra sicher war, daß ihre Bewegungen in dem schwarzgrünen Labyrinth der toten Stadt nicht mehr auszumachen sein würden, schwenkten sie abermals herum und ritten wieder parallel zur Hellgor. Das gewaltige schwarze Gespinst der Brücke wanderte langsam auf sie zu, schwang schließlich, der Krümmung des Weges, den sie nahmen folgend, ein Stück zurück und lag dann neben ihnen.

El-tra zügelte sein Pferd, deutete wahllos auf eine niedrige, halbrunde Mauer und winkte mit der anderen Hand seinen Bruder zu sich heran.

»Wir reiten voraus, um den Weg zu erkunden«, sagte er. »Skar und Gowenna bleiben zurück. Ruht euch aus. Vor Dunkelwerden können wir nicht weiter.«

Diesmal war es kein Vorschlag, begriff Skar, sondern ein Befehl, nicht aus einem Führungsanspruch geboren, sondern aus dem Wissen, daß dieser Weg der einzig mögliche war. Zwischen ihnen und der Schlucht lag noch immer ein zwei Meilen breiter, deckungsloser Streifen; selbst wenn sie das Letzte von ihren Pferden verlangten, war er zu breit, um die Wächter der Brücke - wenn es sie gab - noch überraschen zu können. Skar stieg kommentarlos aus dem Sattel, führte das Pferd in einen windgeschützten Winkel und hockte sich erschöpft auf den Boden. Gowenna unterhielt sich leise mit einem der Sumpfmänner, aber Skar hätte auch nicht hingehört, wenn er ihre Sprache verstanden hätte. Mit einem Mal schlug die Müdigkeit mit aller Kraft zu; eine bleierne, eisige Decke, die sich auf ihn herabsenkte und seine Glieder lähmte. Sie waren einen Tag, eine Nacht und einen weiteren halben Tag unterwegs gewesen, und er spürte plötzlich jede Meile, die sie zurückgelegt hatten.

Die beiden Sumpfmänner verschwanden, und er blieb allein mit Gowenna zurück. Sie sprachen nicht miteinander; nicht aus Feindschaft oder Furcht, sondern einfach, weil es nichts zu bereden gab. Die unzähligen Stunden angespannten, lauernden Schweigens, die zwischen ihnen und dem Felstrichter, in dem ihre Odyssee begonnen hatte, lagen, hatten alles ausgedrückt, was sie hätten sagen können.

Er schloß die Augen, lehnte sich müde mit dem Rücken gegen den glasierten Fels und lauschte in sich hinein. Aber auch in ihm war nur Schweigen. Sein Dunkler Bruder schien fort zu sein. Er hatte ihn gespürt, einmal, aber auch da war es anders gewesen als die Male zuvor, leiser, müder - erschöpft, als hätte die dunkle Kraft, die irgendwo in ihm schlummerte, ihre gesamte Energie beim Kampf mit Del und den Söldnern verbraucht.

Irgendwann schlief er ein, trotz der unbequemen Stellung, in der er dahockte, und der Kälte, die ihn auch hier noch mit den Zähnen klappern ließ. Er war so erschöpft, daß er nicht einmal träumte, und als er später, geweckt durch Hufschlag und hektische Bewegung neben sich, die Augen aufschlug, fühlte er sich ausgeruht und frisch, als hätte er tagelang geschlafen. Trotzdem war es nur Illusion - er mochte sich im Moment stark fühlen, aber das würde nicht lange anhalten.

Skar stand auf, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, um den letzten Rest von Schlaf daraus zu vertreiben, und sah flüchtig in den Himmel. Die Sonne war ein gutes Stück weitergewandert und schimmerte als verzerrter, rötlicher Kreis mit zerfaserten Rändern durch die Wolken. Später Nachmittag. Er mußte sechs, sieben Stunden geschlafen haben.

»El-tra kommt zurück«, sagte Gowenna mit einer Kopfbewegung nach Osten. Sie ging mit keinem Wort darauf ein, daß er geschlafen und ihr die Last der Wache aufgebürdet hatte. Aber ihre Stimme klang müde.

Skar schlug seinen Umhang zurück, trat neben Gowenna und lauschte. Der Hufschlag kam rasch näher, und schon nach wenigen Augenblicken erschien einer der Sumpfmänner, tief über den Hals seines Pferdes gebeugt, zwischen den gezackten Felsklauen der Ruinenlandschaft. »Versteckt euch!« rief er. »Die Pferde weg und dann in Deckung! Wir werden verfolgt!«

Zum ersten Mal, seit Skar mit den beiden Brüdern aus Cosh zusammen war, hörte er echte Erregung in der Stimme El-tras. Er fuhr herum, hastete zu den Pferden hinüber und führte zwei der Tiere tiefer in der Schutz der zerborstenen Mauern hinein. Gowenna ergriff den Zügel des dritten Pferdes, aber das Tier scheute, aufgeschreckt durch die plötzliche Bewegung und die Aufregung, die es mit seinen feinen Instinkten deutlicher spürte als die Menschen, stieg auf die Hinterläufe und schlug mit den Hufen aus. Gowenna brachte sich mit einem hastigen Sprung in Sicherheit, fluchte lauthals und versuchte erneut, sich dem Tier zu nähern. El-tra sprengte wortlos an ihr vorüber, bückte sich im Sattel nach dem Zügel und riß den Kopf des Pferdes mit einem brutalen Ruck herum.

»Schnell!« befahl er. »Geht in Deckung! Sie müssen in wenigen Augenblicken hier sein!«

»Wer muß hier sein?« fragte Skar, ohne sich von der Stelle zu rühren.

El-tra fuhr ungeduldig herum. »Krieger«, keuchte er. »Eure Befürchtung war berechtigt - die Brücke wird bewacht. Und sie reiten Patrouille. Zwei von ihnen verfolgen meinen Bruder. Er wird versuchen, sie hierherzulocken. Rasch jetzt!«

»Nur zwei?« wunderte sich Gowenna. »Und darum -«

»Bitte!« unterbrach El-tra sie. »Es ist keine Zeit zu reden. Sie müssen jeden Augenblick hier sein! Verbergt euch! Wenn sie die Falle erkennen und fliehen, war alles umsonst. Wir kommen niemals über die Schlucht, wenn die Wächter gewarnt sind.«

Gowenna wollte noch mehr sagen, aber Skar ergriff sie einfach am Arm und zog sie hinter sich her in Deckung. El-tra schlug seinem Pferd die Absätze in die Flanken und verschwand hinter einem Mauerrest.

Gowennas Hand glitt zum Schwert. Skar legte ihr rasch die Rechte auf den Unterarm, schüttelte den Kopf und gab ihr mit Gesten zu verstehen, in Deckung zu bleiben. Dann richtete er sich vorsichtig wieder auf, schob sich, den Rücken eng an die Wand geschmiegt, bis zum Ende ihrer Deckung und spähte nach Osten. Wieder war Hufschlag zu hören, das hektische, arhythmische Stampfen mehrerer Pferde diesmal, dazwischen ein helles Sirren, der Klang einer Bogen- oder Armbrustsehne. Ein Schauen erschien zwischen den Mauerresten, verschwand und tauchte wieder auf, verdreifacht diesmal. El-tra sprengte heran, setzte, seinem Pferd gnadenlos die Sporen gebend, über eine brusthohe Wand hinweg und wurde durch den Aufprall beinahe aus dem Sattel geschleudert. Sein Pferd scheute, stieg auf die Hinterläufe und schrie vor Schmerz und Angst.

Skars Herz schien einen erschrockenen Sprung zu machen, als er sah, wie einer der Verfolger seine Armbrust hob und auf den Sumpfmann zielte. El-tra registrierte die Gefahr im letzten Moment, warf sich zur Seite und versuchte sein Pferd herumzuzwingen. Aber so gewaltig seine Kraft auch war, das Tier war halb wahnsinnig vor Furcht und widersetzte sich ihm. Die Armbrust des Söldners entspannte sich mit einem peitschenden Knall, der Bolzen verwandelte sich in einen flirrenden Schatten, riß eine blutige Spur in den Hals des Pferdes und bohrte sich tief in El-tras Schulter. Das Tier bäumte sich auf, verlor auf dem spiegelglatten Boden die Balance und fiel mit einem schmerzerfüllten Klageruf auf die Seite. El-tra wurde in hohem Bogen aus dem Sattel geschleudert, prallte mit furchtbarer Wucht auf dem Boden auf und blieb, nachdem er sich sieben-, acht-, neunmal überschlagen hatte, reglos liegen.

Gowenna stieß einen halblauten Schreckensschrei aus. Skar machte eine hastige Geste, warf ihr einen warnenden Blick zu und lief, im Zickzack von einer Deckung zur anderen hastend, los. Er erreichte den Kampfplatz im gleichen Moment, in dem die beiden Krieger aus den Sätteln stiegen, um nach ihrem Opfer zu sehen. Seine Schritte waren zu laut, und das Gelände bot, so unübersichtlich es schien, nicht genug Deckung; die Männer waren gewarnt, lange bevor er nahe genug heran war. Einer von ihnen wirbelte herum und riß sein Schwert aus dem Gürtel, in einer Bewegung, die schnell genug war, einem Satai Ehre zu machen. Der andere griff hastig an seine Seite, nahm einen neuen Bolzen aus dem ledernen Köcher und legte ihn mit raschen, sicheren Bewegungen auf die Sehne.

Skar erstarrte. Zwischen ihm und den beiden Kriegern lagen noch fünf, vielleicht sechs Schritte. Unter normalen Umständen hätte er nicht gezögert, einen Angriff zu riskieren. Aber er war erschöpft und am Ende seiner Kräfte. Seine Reaktionen waren die eines Greises, und das Stärkegefühl in ihm täuschte. Jeder weitere Schritt wäre Selbstmord gewesen.

Die beiden Krieger schienen zu erraten, was hinter seiner Stirn vorging. Der Armbrustbolzen deutete drohend auf seine Brust; der Finger des Mannes krümmte sich um den Abzug. Es war eine schwere Waffe, die fingerlange, nadelspitz geschliffene Eisenbolzen verschoß. Selbst ein Harnisch würde Skar keinen ausreichenden Schutz bieten.

»Laß die Waffe fallen, Satai«, sagte einer der Krieger. Seine Stimme klang schrill, mühsam beherrscht, aber voller Furcht. »Leg dein Schwert auf den Boden! Schnell!«

Skar gehorchte. Langsam, um die Krieger nicht durch eine zu hastige Bewegung zum Angriff zu reizen, legte er sein Schwert vor sich ab, löste die Haltespange seines Umhanges und ließ ihn von den Schultern gleiten.

»Jetzt komm her!« befahl der Mann mit der Armbrust. »Aber langsam! Und mit ausgestreckten Armen!« Sein Kamerad schob das Schwert zurück in die Scheide, nahm seine Armbrust vom Rücken und spannte sie ebenfalls.

»Die Falle war nicht schlecht«, sagte er anerkennend. »Diese Sumpfkreatur sollte uns hierherlocken, wie?« Er lächelte, aber es war nur ein Ausdruck seiner Nervosität. »Wo ist der andere?«

»Welcher andere?« fragte Skar ruhig. »Wir waren allein.« Der Finger spannte sich ein wenig mehr um den Abzug. Der Druckpunkt war erreicht. Ein winziges, nervöses Zucken noch, und die Waffe würde ihr tödliches Geschoß abfeuern. Skar spannte sich.

»Ihr seid zu dritt«, behauptete der Krieger. In seinem Gesicht arbeitete es. Die Waffe blieb starr auf Skars Brust gerichtet, aber der Blick seiner dunklen Augen irrte unstet über die Felsen hinter Skar.

»Sumpfmann!« rief er mit erhobener Stimme. »Ich weiß, daß du da bist! Hör mir zu!«

»Du solltest deine Stimme schonen«, sagte Skar gelassen. »Hier ist niemand. Nur El-tra und ich.«

»Hör zu!« fuhr der Krieger unbeeindruckt fort. »Wir haben einen von euch erledigt. Und der Satai stirbt, wenn du nicht ohne Waffen und mit erhobenen Händen herkommst. Ich spaße nicht.« Skar machte einen halben Schritt auf die beiden Krieger zu und blieb abrupt stehen, als sich nun auch die zweite Armbrust auf ihn richtete.

»Ich meine es ernst!« schrie der Mann. Unter dem Stirnschutz seines bizarr geformten Helmes perlte feiner, glitzernder Schweiß hervor. »Ich zähle jetzt bis fünf! Wenn du danach nicht hier bist, erschieße ich den Satai. Eins!«

»Hört auf! Ich komme!« El-tras Stimme kam von irgendwo hinter und neben Skar. Ein Pferd schnaubte, dann hörte Skar rasche, klirrende Schritte.

Der Ausdruck von Furcht auf den Gesichtern der beiden Männer vertiefte sich. Skar sah, wie ihre Hände zu zittern begannen, unmerklich, aber doch zu stark, als daß sie es ganz unterdrücken konnten.

»Ich gebe auf!« rief El-tra noch einmal. »Tut ihm nichts!« Die Schritte wurden lauter. Eine der beiden Armbrüste schwenkte herum und deutete jetzt auf eine Stelle hinter Skar. Ein grauer Schatten zuckte hinter den beiden Kriegern vom Boden hoch und warf sich auf sie. Skar ließ sich zur Seite fallen, rollte über die Schulter ab und war, das Schwert in den Händen, wieder auf den Beinen, noch bevor der Armbrustbolzen dort durch die Luft schnitt, wo er gestanden hatte.

Der Kampf war vorbei, bevor er bei den beiden Kriegern ankam. El-tras Fäuste hatten mit gnadenloser Kraft unter ihnen gewütet; einer der Männer lag reglos auf dem Gesicht, der andere krümmte sich stöhnend zusammen und preßte die Hände gegen den Leib. Aus seinem Mund lief Blut. Skar kniete neben ihm nieder, legte das Schwert griffbereit neben sich und drehte ihn auf die Seite. Der Mann war schwer. Skar konnte selbst durch den eisenharten Panzer hindurch fühlen, wie er zitterte. Behutsam löste er den Kinnriemen seines Helmes, zog ihn ab und berührte den Mann im Gesicht.

»Kannst du mich verstehen?« fragte er.

Die Augen hinter den geschlossenen Lidern bewegten sich hektisch hin und her. Das Blut, das aus dem Mundwinkel des Mannes lief, wurde heller; schaumig.

»Er stirbt«, sagte Skar vorwurfsvoll. Er hob den Kopf, sah El-tra einen halben Herzschlag lang ausdruckslos an und beugte sich dann wieder über den Krieger. »Du hättest ihn nicht gleich töten müssen«, sagte er ruhig.

El-tra schwieg einen Moment. Seine Hand kam unter dem Umhang hervor, tastete nach seiner Schulter und spannte sich um den federbewehrten Schaft des Bolzens. Als Skar den Laut hörte, mit dem das Geschoß aus der Schulter des Sumpfmannes glitt, wurde ihm übel. An der Spitze klebte kein Blut.

Hinter ihm wurden Schritte laut, als der andere El-tra herankam. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, leicht und doch von unendlicher Stärke erfüllt, drückte in einer kurzen, beinahe tröstenden Geste zu und schob ihn dann mit sanfter Gewalt zur Seite. Skar nahm sein Schwert, stand gehorsam auf und entfernte sich drei, vier Schritte. Die beiden Sumpfmänner knieten wortlos neben den beiden Soldaten nieder; ihre Hände legten sich auf Gesicht und Stirn der Männer.

Augenblicke lang geschah nichts. Das Stöhnen des Sterbenden wurde leise, verklang. Seine Glieder zuckten noch einmal wie unter einem letzten, knochenbrechenden Krampf, dann erschlaffte er, mit einem schnellen, endgültigen Rucken, das Skar sagte, daß er tot war.

Skar wandte sich ab. Er wußte nicht, was die beiden Männer aus Cosh da taten, und er wollte es auch nicht wissen. Es war irgend eine barbarische Zeremonie, vielleicht die Art, in der sie ihre Opfer töteten. Schlugen, dachte Skar. Plötzlich, zum ersten Mal seit Tagen wieder, wurde ihm bewußt, daß El-tra keine Menschen waren. Sie handelten anders, dachten - lebten - nach eigenen, für ihn unverständlichen Gesetzen und Regeln.

Er rammte sein Schwert in die Scheide zurück, drehte sich vollends um und ging in die Richtung, aus der er gekommen war. Hinter ihm erscholl ein spitzer, unmenschlicher Schrei.

Gowenna kam ihm entgegen, als er die halbe Strecke zurückgelegt hatte.

»Ich habe alles gesehen«, sagte sie.

Skar blieb stehen. Sein Blick mußte Zorn ausdrücken, denn sie wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück und hob in einer unbewußten, instinktiven Abwehrbewegung die Hände. »Urteile nicht, bevor du nicht alles weißt«, sagte sie hastig. »Sie hatten keine andere Wahl. Sie hätten dich erschossen, wenn El-tra sie nicht niedergeschlagen hätte.«

»O ja, und das durftest du nicht zulassen, wie?« fragte er gepreßt. »Mein Leben wiegt mehr als das zweier Unschuldiger. Verzeih, daß ich das vergaß.« Seine Stimme bebte vor Zorn. »Es war nicht nötig, sie umzubringen«, zischte er. »Wenn sie dir gehören, wie du sagst, dann hättest du sie zurückhalten können.«

»Wir mußten sie töten, Skar«, sagte Gowenna.

»Wir?« Skar hob die Hände und betrachtete demonstrativ seine Finger. »Ich habe sie nicht getötet, Gowenna. Und es war nicht notwendig. Sowenig wie das, was sie jetzt mit ihnen tun. Auch wenn ich nicht weiß, was es ist.«

»Sie sind unsere Feinde, Skar«, fuhr Gowenna eindringlich fort. »Wir konnten sie nicht am Leben lassen. Du bist ein Krieger und solltest wissen, daß man einen Feind im Rücken nicht dulden kann.«

Skar starrte an ihr vorbei zum Horizont. Die schwarzen Pfeiler der Brücke streckten sich in kühnem Bogen zur Sonne empor, aber mit einem Mal erschienen sie ihm nicht mehr graziös und elegant, sondern irgendwie feindselig. Ein klebriges Spinnennetz, in dem sie sich verfangen und elend zugrunde gehen würden. »In diesem Land ist ein Mann ohne Pferd und Waffen kein Feind«, sagte er halblaut.

Er redete Unsinn, und er wußte es. Aber in ihm war Zorn, nicht einmal Zorn über die Tatsache, daß die Sumpfmänner die beiden Krieger so gnadenlos abgeschlachtet hatten, sondern Zorn - eigentlich mehr Schmerz - darüber, daß ihre erste Begegnung mit Menschen (das erste Mal, daß sie nach dieser bizarren Reise durch ein Land des Schweigens und des Todes auf Leben stießen) wieder mit dem Tod geendet hatte.

»Es ist der Fluch Tuans«, sagte Gowenna plötzlich. Skar drehte überrascht den Kopf. Gowenna sah an ihm vorbei, aber ihr Blick schien ins Leere zu gehen. Wie leicht es in diesem Land ist, dachte er, die Gedanken eines Menschen zu erraten. »Man nennt es wohl nicht umsonst das Tote Land. Vielleicht hat der Tod hier Leben gewonnen und läßt nichts Lebendes neben sich zu.«

»Unsinn«, murmelte Skar. Aber er spürte auch, daß Gowenna - wenn auch vielleicht in einer ganz anderen Art, als ihr selbst bewußt war - recht hatte. Trotzdem fuhr er aufgebracht fort: »Vielleicht machst du es dir auch einfach nur zu leicht, Gowenna.« Er wollte sich abwenden und wieder zu den beiden Sumpfmännern zurückgehen, aber Gowenna hielt ihn rasch am Arm zurück und schüttelte den Kopf.

»Jetzt nicht, Skar«, sagte sie. »Sie brauchen Zeit.«

»Wozu?« fragte er in absichtlich verletzendem Tonfall. »Werden sie sie auffressen, oder begnügen sie sich damit, sie -«

»Bitte, Skar!« Ihr Griff verstärkte sich, so heftig, daß es schmerzte und Skar seinen Arm mit einem Ruck befreite. »Sie brauchen eine Stunde. Gib sie ihnen, und du wirst alles verstehen.«

»Ich glaube, ich verstehe jetzt schon zuviel«, antwortete er. »Ich beginne jedenfalls zu verstehen, warum du Vela nicht wirklich hassen kannst, Gowenna. Ihr seid euch zu ähnlich. Du wirfst ihr vor, unmenschlich zu sein, aber bisher bist du es, die über Menschenleben spricht, als wären sie nichts.«

Gowenna schwieg eine Weile. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme nicht mehr bittend oder traurig, sondern nur noch verwundert. »Ich begreife deinen Zorn nicht, Skar. Du hast mehr Menschen getötet als sie. Du bist der Krieger, nicht sie oder ich.« Skar lachte bitter. »Das Stirnband eines Satai ist kein Freibrief für Mord, Gowenna«, sagte er.

Sie setzte dazu an, etwas zu sagen, schüttelte aber statt dessen bloß stumm den Kopf und senkte den Blick.

»Wie du meinst. Ich werde mich nicht mit dir streiten, nicht jetzt.« Sie drehte sich um, machte einen Schritt und blieb noch einmal stehen. »Ich hole ihre Pferde«, sagte sie. »Vielleicht haben sie Wasser bei sich. Das heißt«, fügte sie hinzu, »wenn du ein solches Vorgehen gestattest. Vielleicht legst du es ja als Leichenfledderei aus.«

Skar zog es vor, darauf nicht zu antworten. Er ließ sie stehen, ging ziellos ein paar Schritte und stützte sich schwer mit den Händen auf einen brusthohen Mauerrest. Der Stein war kalt, von einem eisigen Hauch erfüllt, der nicht allein aus den niedrigen Temperaturen und dem Wind resultierte. Skar wußte nicht, ob die glitzernde Schicht unter seinen Fingern Glas oder Eis war; beides versinnbildlichte in seiner schimmernden Starre mehr als alle Worte den Geist Tuans.

Er schloß die Augen, atmete ein paarmal tief durch und genoß das Gefühl von Leere, das die eisige Luft in seinem Schädel schuf. Ich benehme mich wie ein Narr, dachte er. Gowenna mußte ihn für einen kompletten Idioten halten, nach dem, was er geredet hatte. Aber seine Worte waren nur Ausdruck seiner Hilflosigkeit gewesen, des ohnmächtigen Zornes, der in ihm war. Er hatte es vielleicht bis jetzt nicht begriffen, aber der Kampf, für den Gowenna ihn hatte kaufen wollen, hatte längst begonnen, im gleichen Moment, in dem sie nicht in Richtung des Gebirges, sondern hierher, hinein ins Herz Tuans, losgeritten waren. Und es war ein Kampf gegen einen Gegner, den er nicht besiegen konnte, ein Kampf gegen dieses Land, gegen den Geist Tuans, wie Gowenna es ausgedrückt hatte. Nicht der Kampf gegen Vela oder ihren Drachen - das war nur die Spitze des Eisberges, vielleicht die letzte Runde -, sondern eine fundamentale Auseinandersetzung zwischen Leben und Tod. Und sie hatten schon verloren, ehe sie ihren Gegner überhaupt erkannt hatten.

Gowenna kam zurück, zwei prall gefüllte Wasserschläuche in den Händen. Sie legte einen davon vorsichtig auf den Boden, löste den Verschluß des anderen und reichte ihn Skar, nachdem sie selbst einen tiefen Zug genommen hatte.

Skar trank, goß wenige Tropfen der kostbaren Flüssigkeit in seine Handfläche und fuhr sich damit über das Gesicht. Das Wasser war eisig und prickelte auf der Haut, aber es tat gut. Er gab Gowenna den Schlauch zurück und sah zu, wie sie noch einmal trank und sich anschließend, seinem Beispiel folgend, ebenfalls das Gesicht benetzte. Ihre Bewegungen hatten, trotz der Fertigkeit, die die Kälte ihren Gliedern aufzwang, etwas seltsam Graziöses an sich. Sie stand so, daß er nur den unversehrten Teil ihres Gesichts sehen konnte, so wie sie sich seit Tagen zunehmend so bewegte, daß ihre Narben unsichtbar blieben, und wieder - wieder nach einem Streit, dachte Skar mit einer Mischung aus Staunen und Erheiterung - spürte er Erregung. Plötzlich und ehe er sich selbst wirklich über die Bedeutung seines Handels im klaren war, ergriff er sie bei den Schultern, zog sie zu sich heran und küßte sie. Sie wehrte sich, aber nur einen Moment lang. Dann wurden ihre Lippen weich, und ihre Arme schlangen sich so heftig um seine Schultern, daß sie ihm fast den Atem abschnürten. Er spürte die Wärme ihres Körpers durch den dicken Stoff ihrer und seiner Kleidung hindurch, und ein aberwitziges, bohrendes Gefühl der Lust stieg in ihm auf. Er wollte sie schlagen, küssen, quälen und streicheln zugleich, sich an sie klammern wie ein Ertrinkender an einen Ast, die Nähe des einzigen lebenden Wesens, das es vielleicht in diesem Teil der Welt gab, spüren.

Und als er ihrem Blick begegnete, spürte er, daß sie es wußte. Für die Dauer von drei, vier bangen Herzschlägen sah er sie an, und wie schon einmal sah er plötzlich alles mit phantastischer Klarheit - jedes winzige Detail ihres Gesichts, jede Falte, jede Linie, die die Jahre oder irgendein längst vergessener Schmerz hineingegraben hatten, und er sah auch das Gesicht unter dieser Maske, die wirkliche Gowenna, die sich unter stolzer Unantastbarkeit auf der einen und fleischgewordenen Flammen auf der anderen Seite ihres Antlitzes verbarg, das lebende, atmende, fühlende Wesen, und mit fast schmerzhafter Wucht wurde ihm klar, daß sie das, was er in diesem Moment fühlte, die ganze Zeit über gefühlt haben mußte, daß sie ihn hatte haben wollen, vielleicht schon vom ersten Augenblick an. Und er sah noch mehr. Als wäre plötzlich ein unsichtbarer Schleier, den sie die ganze Zeit über getragen hatte, beiseitegezogen worden, sprang ihn die Erkenntnis an, daß sie in Wirklichkeit viel mehr Frau war, als er jemals begriffen hatte. Eine sehr schöne Frau, eine Frau, die stolz auf ihren Körper und seine Vollendung gewesen war. Aber dieser Körper hatte erst zerstört werden müssen, ehe sie selbst soweit war, es zuzugeben.

Warum jetzt? dachte er müde. Warum hatten sie sich erst bis ans Ende der Welt jagen lassen müssen, ehe sie - beide - erkannt hatten, was sie wirklich füreinander empfanden?

Gowenna drehte mit einer kraftlosen Bewegung den Kopf zur Seite, damit sein Mund nur den lebenden, unversehrten Teil ihrer Lippen berührte, aber er hielt sie mit sanfter Gewalt fest.

»Eigentlich müßtest du mich hassen«, sagte sie.

»Ich habe es versucht«, antwortete Skar.

»Und?« Sie lächelte, müde, traurig, aber auch resignierend. »Ist es dir gelungen?«

Skar hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, antwortete er offen. »Ich weiß, daß ich irgend etwas für dich empfinde, Gowenna. Aber ich weiß nicht, ob es Haß oder Liebe ist. Vielleicht beides. Vielleicht... Nein, ich glaube nicht, daß ich dich wirklich hassen kann.«

»Und warum nicht? Weil ich eine Frau bin und es vielleicht das letzte Mal ist?« Plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, versteifte sie sich in seinen Armen, und ihre Stimme, die zuvor weich und voller zitternder Begierde geklungen hatte, wurde plötzlich so spröde wie das Glas, das sie umgab. Ihre rechte Hand löste sich mit einem Ruck aus seiner Umklammerung und fuhr zu ihrem verätzten Gesicht, krallte sich in die kaum verheilten Narben, die der Atem des Drachen in ihr Fleisch gegraben hatte. »Nimmst du deshalb sogar das in Kauf? Lieber eine verstümmelte Frau als gar keine?«

Ihre Worte hatten bewußt verletzend klingen sollen, aber der einzige Schmerz, den Skar spürte, war ihr eigener. Die Waffe war stumpf geworden, und ihr Angriff auf ihn nichts als ein letzter verzweifelter Versuch, sich selbst zu belügen. Mit einer plötzlichen wütenden Bewegung machte sie sich ganz los, riß Umhang und Kettenhemd herunter und streifte die Bluse ab. Nicht nur ihr Gesicht war verunstaltet. Ein breiter, wie blasig erstarrter roter Schaum aussehender Streifen verätzter Haut zog sich über ihren Hals bis weit hinab zur Schulter, dünne, rote Finger bis zu ihrem Ellbogengelenk und ihrer linken Brust herabschickend. Darüber lag ein Netz grauer Fäden, der Baumwollstoff ihrer Bluse, vom Höllenatem der Bestie für alle Zeit in ihre Haut gebrannt.

»Gefällt dir, was du siehst?« keuchte sie. »Du kannst es haben, Satai! Sei stolz darauf - du bist der erste Mann, dem ich mich freiwillig hingebe. Und wenn dich der Anblick zu sehr stört, dann wirf einfach ein Tuch über mein Gesicht, damit du es nicht zu sehen brauchst...« Ihre Stimme zitterte, verlor den Halt und ging plötzlich in ein würgendes Schluchzen über. Sie krümmte sich wie unter Schmerzen, schlug die Hände vor das Gesicht und begann haltlos zu weinen.

»Warum quälst du dich?« fragte Skar.

Ihr Kopf flog mit einem Ruck in den Nacken. Ihre Lippen zitterten, aber sie brachte keinen Laut hervor. Skar trat auf sie zu, nahm sie in die Arme und hielt sie, wortlos und fest, bis ihre Schultern aufhörten zu zucken und die Tränen an seiner Brust versiegten. Dann nahm er sie auf - sie war seltsam leicht, als wäre ihr Körper nicht mehr als eine leere Hülle - trug sie wie ein Kind in den Schutz der Ruine zurück und legte sie behutsam hin. Sie liebten sich auf einem Bett aus Glas und unter einem Himmel aus wirbelndem Weiß, und die ganze Zeit über spürte Skar, daß es nichts Echtes war, daß seine und ihre Gefühle noch immer so starr und kalt waren wie die schimmernden Wände, die sie umgaben, daß das, was sie taten, im Grunde nichts als Trotz und Verzweiflung ausdrückte; die vielleicht letzte Möglichkeit, sich gegen die Kälte und den Tod, die dieses Land beherrschten, zur Wehr zu setzen. Die Gefühle, die er noch vorhin zu spüren geglaubt hatte, waren da, aber sie waren eingesperrt, für ewig gefangen hinter der Kluft, die sie voneinander trennte.

Gowenna schlief hinterher ein, eingehüllt in ihren Mantel und an seine Seite gepreßt, aber Skar lag weiter wach auf dem harten Glas. Er war müde, doch je tiefer seine körperliche Müdigkeit wurde, desto unruhiger und wacher wurde sein Geist. Es war seltsam still in dem nach oben offenen Raum, und selbst das Atemholen des Windes schien gedämpft. Vorsichtig drehte er den Kopf und sah auf die schlafende Frau neben sich herab. Ihr Gesicht war bleich, und wäre das regelmäßige Heben und Senken ihrer Brust nicht gewesen, so hätte er sie für tot gehalten. Aber vielleicht waren sie es ja auch bereits, so wie diese beiden Krieger dort drüben und all die anderen, die auf dem Weg hierher gestorben waren. Vielleicht.

Aber vielleicht, dachte er, kann man ein Totes Land auch nur mit einer Armee von Toten erobern.

Er stand auf, so behutsam, wie er konnte, um Gowenna nicht zu wecken, zog sich rasch an und breitete eine zweite Decke über sie, ehe er sie verließ. Die Sonne senkte sich dem Horizont entgegen, und die Schatten wurden länger. Er blieb einen Moment stehen, sah sich unschlüssig um und ging schließlich wieder zu den beiden Sumpfmännern zurück.

Die Stunde, von der Gowenna gesprochen hatte, war vorüber, zweimal, aber sie hockten noch immer in der gleichen Stellung, in der er sie verlassen hatte, neben den beiden gefallenen Kriegern, die Hände flach auf Gesichtern und Stirnen der Männer.

Er blieb stehen, räusperte sich - mehrmals und so laut, daß sie es hören mußten - und ging erst weiter, als die beiden Schattenmänner aus ihrer Starre erwachten und ihm die Gesichter zuwandten.

Der Anblick traf ihn wie ein Fausthieb.

Unter den tief in die Stirn gezogenen Kapuzen waren keine Schatten mehr, keine Nebelgesichter, in denen nur wogendes Grau und Geheimnisse waren.

Die Gesichter der beiden El-tra waren menschlich; das des einen schmal und mit dünnen, wie mit einem Griffel gezogenen Linien, dunkeläugig - das des anderen breitflächiger, gerötet und jünger, versehen mit einem dünnen Oberlippenbart, der vergeblich versuchte, ihm einen etwas markanteren Anstrich zu geben.

Die Gesichter der beiden Krieger, die sie getötet haben!!! durchzuckte es Skar. Ein eisiges Gefühl der Lähmung machte sich in ihm breit, eine Furcht, die ihn warnungslos ansprang und sein Denken übermannte.

Auch ihre Gestalten waren verändert. Bisher waren sie identisch gewesen, kleine, graue gefährliche Zwillinge, einer der Schatten des anderen. Jetzt war einer von ihnen, der Jüngere, deutlich größer und breitschultriger, und seine Bewegungen waren eckig und starr, nicht mehr die eines Sumpfgeistes, sondern eines Menschen. Für einen winzigen Moment dachte Skar an den Tag zurück, an dem er die Sumpfmänner zum ersten Mal gesehen hatte. Sie waren, damals noch zu dritt, in der Maske von Menschen aufgetreten. Es war keine Maske gewesen.

»Bist du bereit?« Es war nicht mehr El-tras Stimme, die zu ihm sprach.

»Ich ...« Skar stockte verwirrt, sah hilflos von einem der Sumpfmänner zum anderen und schüttelte den Kopf. »Was ist geschehen?« fragte er. »Wie ...«

»Die Zeit drängt«, fiel ihm El-tra ins Wort. »Verion und Bend sind bereits überfällig. Die Wachen an der Kluft werden mißtrauisch werden, wenn sie nicht zurückkehren. Wir haben nur diese eine Chance. Geh und wecke Gowenna.«

Noch während Skar, noch immer starr vor Überraschung und ungläubigem, nur allmählichem Begreifen, dastand und die beiden auf so unglaubliche Weise verwandelten Brüder anstarrte, begannen diese sich ihrer Umhänge zu entledigen. Darunter waren sie nackt; wie ihre Gesichter waren auch die Körper der beiden Krieger perfekt nachgeahmt bis ins letzte Detail. Skar sah, daß die Männer krank sein mußten - ihre Haut wies große, haarlose Flecken auf, in deren Zentren kleine entzündete Eiterpusteln saßen. Sie bückten sich, zogen die Toten aus und schlüpften hastig in deren Kleider; die Helme hoben sie zwar auf, streiften sie jedoch nicht über. Skar löste sich mühsam von dem bizarren Anblick und ging mit eiligen Schritten zu Gowenna zurück. Sie schlief noch immer, öffnete jedoch sofort die Augen, als er sie an der Schulter berührte. Ihr Blick war klar.

»Sind sie bereit?« fragte sie.

Skar nickte wortlos. Gowenna würde über die Verwandlung der El-tra nicht erstaunt sein. Sie mußte gewußt haben, was geschehen würde.

Sie stand auf, zog sich eilig an und begab sich dann an seiner Seite zu den El-tra. Die Sumpfmänner waren mittlerweile damit fertig, sich umzuziehen. Es gab jetzt nichts mehr, was sie noch von den beiden echten Kriegern unterschieden hätte. Sie waren perfekte Kopien; mehr noch, sie ahmten die beiden Soldaten nicht nach - sie waren es.

»Wir nehmen die Tiere von Verion und Bend«, sagte der Jüngere. »Ihr sucht euch unter den anderen die ausgeruhtesten Pferde aus.«

Skar setzte sich gehorsam in Bewegung, blieb aber nach zwei Schritten wieder stehen und sah den Sumpfmann verwirrt an. »Du meinst, wir - sollen euch begleiten?« fragte er stockend.

»Natürlich. Ihr seid unsere Gefangenen. Die Männer an der Schlucht haben gesehen, wie die Patrouille hinter uns hergejagt ist. Wenn wir euch als Gefangene mitbringen, haben wir noch am ehesten eine Chance, sie zu überraschen. Aber wir müssen uns beeilen. Wir sind schon zu lange fort, und sie werden mißtrauisch werden.«

Wir, dachte Skar. El-tra sprach, als wäre er einer der Krieger. »Wie viele sind es?« fragte Gowenna, während sie zu den Pferden hinübergingen.

»Sechs«, antwortete El-tra. »Mit uns. Also noch vier. Aber sie sind gut ausgebildet und haben Befehl, beim geringsten Verdacht zu schießen. Auch auf ihre Kameraden.«

Gowenna nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Sie ist mißtrauisch«, sagte sie halblaut. »Sie ahnt, daß wir noch leben. Werden die Männer den Befehl ausführen?«

El-tra nickte. »Ja.«

Skars Verwirrung wuchs mit jedem Wort, das er hörte. »Ich verstehe nichts mehr«, murmelte er. »Soll das heißen, ihr habt ihre Gedanken gelesen?«

»Nicht ihre Gedanken«, antwortete Gowenna an El-tras Stelle. »Ihre Erinnerungen. Sie sind sie. Was diese Männer wußten, wissen auch sie.«

»Nicht ganz«, sagte El-tra. »Etwas ist anders.«

Gowenna blickte zuerst den Sumpfmann, dann Skar, dann wieder El-tra verwundert an. »Wie meinst du das?«

»Die Matrix war vorhanden«, antwortete El-tra. Skar spürte, wie schwer es ihm fiel, auf die Frage zu antworten. Seine Worte kamen schleppend, als müsse er sich jede Silbe genau überlegen. »Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das ich nicht beschreiben kann. Es ...« Er stockte, sah Skar in die Augen und lächelte flüchtig. »Die Matrix war überlagert. Ein fremder Einfluß hat diese Männer ergriffen.«

»Matrix?« wiederholte Skar verständnislos.

Gowenna machte eine ungeduldige Handbewegung. »Nenn es von mir aus Seele«, sagte sie rasch. »Das eine Wort ist so falsch wie das andere.« Sie wandte sich wieder an El-tra. »Was soll das heißen - ein fremder Einfluß?«

El-tra schwieg einen Moment. »Ihre Seelen sterben«, sagte er schließlich. »Diese Männer waren nicht mehr als leere Hüllen. Ihre Matrix war schwach, aber da war etwas anderes an ihrer Stelle. Etwas wie Tuan.« Damit wandte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort der Erklärung zu seinem Kameraden hinüber.

Skar schwang sich mit einem Kopfschütteln in den Sattel. »Irgendwann«, knurrte er übellaunig, »wirst du mir vielleicht einmal erklären, wer diese beiden Brüder wirklich sind.«

Gowenna blieb ernst. »Bist du sicher«, fragte sie, »daß du es überhaupt wissen willst?«

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