18.

Er erinnerte sich hinterher kaum, wie er die nächsten drei Tage verbrachte. Er war nicht die ganze Zeit bewußtlos, aber doch in einem Zustand, der dem der Bewußtlosigkeit sehr nahekam. Es gab Zeiten des Schmerzes und Zeiten, in denen er taub und jenseits aller Gefühle dahindämmerte, vage Laute und Geschehen um sich wahrnahm aber nicht wirklich begriff, was vorging.

Das erste, was er wieder bewußt wahrnahm, war Kälte; nicht die beißende Eisigkeit Tuans, sondern ein klammes, feuchtes Gefühl wie Nebel. Er öffnete die Augen und sah ein durchbrochenes Blätterdach über sich, kunstvoll verwobene Zweige, mit Erdreich und Moos abgedeckt, aber so alt, daß es schon wieder zu verfallen begann. Sein Kopf fühlte sich seltsam leicht an, und er spürte, daß Zeit vergangen war. Viel Zeit. Er lag auf einem niedrigen, aus Moos und geflochtenen Grasbüscheln gefertigten Lager; eine dünne, aus braunen Pflanzenfasern geknüpfte Decke war über seine Beine gebreitet, und in seinen Füßen pochte ein sanfter, beinahe wohltuender Schmerz. Er setzte sich auf, schlug die Decke zurück und begutachtete seine Beine. Bis zu den Knien herauf waren sie verbunden; grauer, grober Stoff, unter dem sich noch etwas anderes befinden mußte, denn der Verband war dicht und hatte das Aussehen von Stiefeln. Er bewegte prüfend die Zehen; es ging, wenn es auch weh tat.

»Du solltest das nicht tun«, sagte eine Stimme. »Unsere Heilkunst ist sehr gut, aber Wunder können wir auch nicht wirken. Du mußt deinem Körper Ruhe gönnen.«

Skar sah erschrocken auf. Im ersten Moment erkannte er nicht, woher die Stimme gekommen war, dann gewahrte er einen grauen, gebeugten Schatten, der in einer Ecke der Hütte hockte. »El-tra?«

Der Schatten vollführte eine Bewegung, die Skar als Kopfschütteln deutete. »Mein Name ist Kor-tel«, antwortete er. »Doch du kannst mit mir reden wie mit ihm. Was er weiß, weiß auch ich, und was ich weiß, weiß auch er.«

Skar seufzte. »Ich vermute, ich bin in Cosh«, murmelte er. »Jedenfalls hört es sich so an.«

Kor-tel nickte. »Du bist in Sicherheit. Deine Freunde auch.«

»Dann haben wir es geschafft. Habt ihr uns aus dem Wald herausgeholt?«

»Aus dem Kristalldschungel? Nein. Ihr habt euch aus eigener Kraft gerettet. El-tra kam zu uns, doch wir waren nicht rechtzeitig zurück. Und wir hätten euch auch nicht helfen können. Doch nun sollst du ruhen. Zum Reden ist später noch Zeit genug.«

»Ruhen?« Skar ächzte. »Wie lange bin ich hier?«

»Drei Tage und zwei Nächte, bald drei. Die Sonne geht bereits unter.«

Skar lächelte. »Und du glaubst, ich würde Ruhe brauchen, nachdem ich drei Tage geschlafen habe?« Er setzte sich vollends auf, verlagerte das Körpergewicht auf die Seite und versuchte sich hochzustemmen. Seine Füße quittierten die Bewegung mit stechenden Schmerzen, aber sie trugen sein Körpergewicht. Er stand auf, blieb für die Dauer von drei, vier Lidschlägen reglos stehen und bückte sich dann nach seinen Kleidern. Kor-tel schüttelte den Kopf.

»Du bist ein erstaunlicher Mann, Skar. Was Gowenna über dich erzählt hat, scheint zu stimmen.«

Skar versuchte zu lächeln. »Warum auch nicht?« fragte er. »Offen gestanden würde ich lieber liegenbleiben, aber wir haben schon viel zuviel Zeit verloren. Drei Tage ...« Er schüttelte den Kopf, schloß mit zitternden Fingern die Schnalle seines Umhangs und sah prüfend an sich hinunter. Er wirkte eher wie die boshafte Karikatur eines Satai als wie ein Angehöriger der Kriegerkaste: Sein Körper war über und über mit Verbänden und Pflastern bedeckt, und dort, wo die Haut sichtbar blieb, war sie zerschunden und rot, mit winzigen Linien wie Messerschnitten übersät. Seine Kleider waren nur noch Fetzen, und selbst sein Harnisch war zerschrammt und eingerissen. Aber für den Moment würde es gehen. »Bring mich zu Gowenna«, sagte er.

Kor-tel stand auf, ging gebückt an ihm vorbei und schlug die Decke zur Seite, die den Ausgang verschloß. Skar blinzelte, als er hinter dem Sumpfmann ins Freie trat. Die Sonne sank, wie Kor-tel gesagt hatte, aber ihr Licht war noch grell und stechend und suggerierte eine Wärme, die nicht da war.

Der Anblick war beinahe enttäuschend. Wie jedermann auf Enwor hatte Skar viel über Cosh gehört; viel und doch wenig, eigentlich, wenn er es recht bedacht, nichts außer Vermutungen. Gowenna war der erste Mensch, den er traf, der Cosh wirklich betreten - und auch wieder verlassen - hatte. Er wußte nicht, was er erwartet hatte; aber das nicht.

Die Hütte lag am Rand einer kreisrunden, vielleicht tausend Fuß durchmessenden Lichtung. Der Boden war mit kurzem, hartem Gras und Büscheln einer dornigen Pflanze bewachsen; hier und da lugte der gelbe oder weiße Farbfleck einer Blume hervor, und vom Waldrand aus schlängelte sich ein schmaler Trampelpfad in scheinbar sinnlosen Windungen heran. Es gab drei weitere Bauwerke - wie das, in dem er erwacht war; halbrunde Kuppeln aus geflochtenem Gras und Ranken ohne Fenster oder feste Türen. Sonst nichts. Cosh war keine Stadt, nicht einmal ein Dorf. Selbst diese vier Hütten sahen aus, als wären sie schon seit langem verlassen. Die Anzeichen des Verfalls waren unübersehbar. »Was hast du?« fragte Kor-tel, als Skar überrascht stehenblieb. »Enttäuscht?«

Skar wollte nicken, besann sich aber im letzten Moment anders; schließlich wollte er den Sumpfmann nicht verletzen. So suchte er Zuflucht in einem verlegenen Lächeln. »Nein«, sagte er hastig. »Ich war nur ... überrascht. Ich hätte etwas anderes erwartet.« Obwohl er Kor-tels Schattengesicht nicht sehen konnte, war er fast sicher, daß der Sumpfmann lächelte. »Du hast eine Stadt erwartet«, vermutete er. »Oder eine Burg. Eine von Ranken und Baumwurzeln überwucherte Festung im Herzen der Sümpfe.« Seine Stimme klang amüsiert. »Du wirst sie nicht finden. Dies hier ist Cosh.«

»Aber wo lebt ihr?« fragte Skar verwirrt.

Kor-tel machte eine weit ausholende Geste. »In den Sümpfen, Skar. Unsere Heimat ist der Wald und der Sumpf. Wir brauchen keine Häuser oder gar« - diesmal klang seine Stimme eindeutig abfällig - »Festungen. Braucht ihr sie?«

Skar antwortete nicht gleich. Im Grunde hatte der Sumpfmann recht - die Zeiten, da er selbst ein festes Dach über dem Kopf hatte, waren selten. Den größten Teil seines Lebens hatte er im Sattel oder unter freiem Himmel verbracht. Trotzdem konnte er sich mit der Vorstellung eines Volkes, das ständig im Freien lebte, dort schlief und aß und seine Kinder gebar, nicht anfreunden. Seine Vorstellung von Zivilisation war zu sehr mit der von Festungen und Häusern und Städten verbunden.

»Wo ist... Gowenna?« fragte er stockend.

Kor-tel deutete wortlos auf eine der Hütten und setzte sich in Bewegung. Skar folgte ihm, langsam und mit kleinen, behutsamen Schritten, als wäre er ein alter Mann. Er fühlte sich auch beinahe so; das Gefühl der Stärke, das er nach seinem Erwachen verspürt hatte, war verschwunden, und er bereute schon, nicht auf Kor-tels Rat gehört zu haben.

Der Sumpfmann blieb vor dem Eingang der Hütte stehen und machte eine einladende Bewegung. »Ich werde hier warten«, sagte er. »Ruf mich, wenn du etwas brauchst.«

Skar nickte, schlug die Decke beiseite und trat gebückt in die Hütte. Im ersten Moment erkannte er nicht viel; seine Augen hatten sich in den wenigen Minuten, die er draußen gewesen war, bereits an die Helligkeit gewöhnt. Aber die Hütte schien sich kaum von der zu unterscheiden, in der er erwacht war. Sie bestand aus einem einzigen runden Raum, und die gesamte Einrichtung bestand aus zwei niedrigen Lagern und einer grob zusammengezimmerten Kiste. Gowenna kauerte vor einer der Lagerstätten und wandte ihm den Rücken zu, als er die Hütte betrat. Vor ihr lag eine reglose, halbnackte Gestalt. Del.

Skar trat lautlos neben Gowenna, ließ sich auf die Knie sinken und berührte sie am Arm. Sie wandte kurz das Gesicht, nickte und legte den Finger auf die Lippen. Er verstand. Del schlief, zumindest hatte er die Augen geschlossen.

Gowennas Hand strich sanft über die Stirn des jungen Satai, verweilte einen Moment über seinen Augen und berührte sie. Del regte sich; die langsamen, unsicheren Bewegungen eines Mannes, der aus einem sehr sehr tiefen Schlaf erwacht. Er öffnete die Augen, starrte einen Moment blicklos zur Decke und hob dann den Kopf. Sein Gesicht zeigte nicht die mindeste Regung, als er Skar ansah.

»Erkennst du mich?« fragte Skar.

In Gowennas Gesicht zuckte es, und Skar bereute die Worte schon wieder.

Del nickte. »Was für eine dumme Frage«, sagte er. »Warum sollte ich dich nicht erkennen? Du bist Skar.«

Skar unterdrückte einen Schreckenslaut, als er Dels Stimme hörte. Sie klang flach, tonlos, wie von einem Mann, der im Schlaf oder in Trance sprach.

Trotzdem lächelte Skar.

»Natürlich war es dumm«, sagte er, gezwungen fröhlich. »Verzeih.«

»Du solltest ihn schlafen lassen«, meinte Gowenna. »Er braucht noch sehr viel Ruhe.«

»Ja«, bestätigte Del. »Ich brauche Ruhe. Ich bin müde.« Sein Kopf sank zurück, die Augen schlossen sich, und er schien im gleichen Moment wieder einzuschlafen. Skar wollte etwas sagen, aber Gowenna schüttelte hastig den Kopf und deutete auf den Ausgang. Erst, als sie die Hütte verlassen hatten, fiel die Spannung von ihr ab.

»Verzeih, Skar«, sagte sie. »Ich hatte keine Gelegenheit, dich darauf vorzubereiten.«

»Worauf?« fragte Skar scharf. Die Betäubung fiel von ihm ab und machte einem dumpfen Zorn Platz. »Was hast du mit ihm gemacht, Gowenna?«

»Alles, was ich konnte«, antwortete Gowenna, ohne ihn anzusehen. »Ich habe versucht, ihm zu helfen, Skar.«

»Helfen?« Skar hatte Mühe, wenigstens äußerlich ruhig zu bleiben. »Das was ich gerade gesehen habe, sah nicht sehr nach Hilfe aus.«

Gowenna lächelte. Es wirkte traurig. »Ich weiß«, sagte sie leise. »Es war ... der letzte Ausweg. Das heißt, nicht einmal das. Ein Versuch.«

»Was für ein Versuch?«

»Du warst lange bewußtlos«, erwiderte Gowenna statt einer direkten Antwort. »Ich habe dich versorgt, so gut ich konnte, und dann habe ich mich um Del gekümmert. Aber ich glaube nicht, daß ich ihm helfen kann. Ich weiß alles, was eine Errish weiß, aber was immer Vela mit ihm gemacht hat...«

Sie schüttelte den Kopf, starrte zu Boden und breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus. »Ich fürchte, ich bin machtlos dagegen.«

»Sie hat nichts mit ihm gemacht«, murmelte Skar.

Gowenna sah auf. »Woher weißt du das?«

»Er hat es mir gesagt, Gowenna. Sie hat ihn nicht verzaubert oder behext. Er liebt sie. Das ist alles.«

»Er ...« Sie brach verwirrt ab. »Das ist nicht dein Ernst! Wie kann jemand diese Hexe lieben?«

Diesmal war es an Skar zu lachen. »Diese Frage mußt gerade du stellen?« Er schüttelte den Kopf, trat einen Schritt auf sie zu, blieb aber außerhalb ihrer Reichweite stehen.

»Findest du es nicht reichlich albern, daß wir uns schon wieder streiten?« fragte Gowenna, ohne auf seinen verletzenden Tonfall einzugehen.

Skar verzog geringschätzig die Lippen. »Warum nicht? Vielleicht können wir hinterher wieder miteinander schlafen.«

Diesmal trafen sie seine Worte. Sie starrte ihn an, öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, drehte sich aber dann wortlos herum und ballte die Fäuste.

Skar begann sich schäbig zu fühlen. »Ich ... es tut mir leid«, murmelte er. Er hob die Hand und berührte sie an der Schulter, aber Gowenna machte einen raschen Schritt zur Seite und streifte seinen Arm ab.

»Nein, Skar«, sagte sie. »Es tut dir nicht leid.«

»Gowenna, ich -«

»Nicht.« Sie unterbrach ihn mit einem sanften, aber entschlossenen Kopfschütteln. »Es ist der falsche Moment und der falsche Ort, aber es wird Zeit, daß wir endlich ehrlich zueinander sind. Wir haben ein paarmal miteinander geschlafen, aber ich glaube nicht, daß du jemals mehr als Mitleid mit mir empfunden hast, Skar. Und - wenn ich ehrlich bin - mir erging es nicht viel anders. Ich liebe dich nicht, so wenig, wie du mich liebst.« Skar lauschte vergeblich auf einen Unterton von Bitterkeit oder Schmerz in ihrer Stimme. Sie sprach sehr ruhig, flüssig, als hätte sie die Rede lange vorbereitet und nur auf einen passenden Moment gewartet. Aber ihre Stimme klang kalt, so, als spräche sie über einen vollkommen Fremden, nicht über sich. »Belassen wir es dabei«, fuhr die fort. »Bleiben wir das, was wir immer waren: Verbündete, und vielleicht Freunde. Es ist gut so.«

»Und warum hast du es getan, wenn es so ist?«

Gowenna schwieg einen Moment. »Vielleicht ist es mir schon so in Fleisch und Blut übergegangen, andere Menschen zu benutzen, daß ich in der Wahl meiner Mittel nicht mehr vorsichtig genug bin«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. »Aber wenn ich ehrlich bin - ich weiß es nicht. Spielt es eine Rolle?«

Skar schüttelte den Kopf. »Nein. Eigentlich nicht.«

»Reden wir über etwas anderes«, sagte Gowenna. »Wie fühlst du dich?«

»So, wie ich aussehe«, antwortete Skar ernsthaft. »Aber nicht halb so schlimm, wie ich mich fühlen müßte. Du hast gut für mich gesorgt.«

»Es war nicht viel, was ich für dich tun konnte. Es ist leichter, Wunden zu schlagen, als sie zu heilen. Aber du bist sehr kräftig. Ein paar Tage Ruhe, und du bist wieder im Vollbesitz deiner Kräfte.«

»Ein paar Tage ...« Skar drehte sich nach Norden, dorthin, wo hinter der schwellenden grünen Wand Coshs Tuan und der Kristallwald lagen. »Ich fürchte, wir werden diese paar Tage nicht haben.«

»Vela?« Gowenna machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mach dir keine Sorgen darum. Nicht einmal sie würde es wagen, die Grenzen von Cosh zu überschreiten. Und wenn sie es täte, wäre sie tot, bevor sie auch nur hundert Schritte in die Sümpfe vorgedrungen wäre.«

Skar runzelte zweifelnd die Stirn. »Nach dem, was du mir erzählt hast...«

»Das war früher«, unterbrach ihn Gowenna. »Es war eine andere Vela, die hierherkam. Sie kam als Gejagte, und sie bat um Hilfe. Die Sumpfmenschen sind ein hartes Volk, Skar, aber sie verwehren keinem Hilfe, der in Not ist. Doch sie töten jeden, der den Speer des Krieges über ihre Grenzen trägt. Nein«, sagte sie noch einmal, »wir sind in Sicherheit.«

»Gefangen, meinst du«, sagte Skar. »Wir sind in Sicherheit, solange wir hierbleiben.«

»Richtig.«

»Und wie lange willst du dich verstecken? Einen Monat? Ein Jahr? Fünf?«

Der beißende Spott in seiner Stimme verfehlte seine Wirkung. Gowenna blieb ruhig. »Du solltest mit dieser Rede warten, bis du wieder in der Lage bist, ein Wettrennen mit einem Greis zu gewinnen«, sagte sie ruhig, beinahe heiter. »Sieh dich an, Skar. Vor drei Tagen warst du mehr tot als lebendig, und du wirst ganz tot sein, wenn du auch nur einen Schritt aus diesen Sümpfen hinaustust. Also spiel dich nicht auf.«

»Ich spiele mich nicht auf«, grollte Skar. »Ich weiß selbst, daß ich nicht in der Lage bin, zu reiten, geschweige denn zu kämpfen. Aber es ist auch nicht meine Art, tatenlos herumzusitzen und zu warten, bis etwas geschieht. Früher oder später müssen wir weiter, und ich würde dann ganz gerne wissen, was auf uns zukommt.«

»Ich auch«, murmelte Gowenna. »Doch so, wie die Dinge liegen, können wir nichts anderes tun, als abzuwarten. Du bist verletzt, und auch ich brauche eine Pause. Außerdem - was immer wir tun, wir können nicht anders als warten. Wir haben unseren Zug gemacht. Jetzt ist sie an der Reihe. Sie wird warten, Skar. Irgendwo dort draußen. Warten und planen und darauf hoffen, daß wir einen Fehler machen.«

»Ich fürchte, da wird sie nicht allzu lange warten müssen«, knurrte Skar. »Hierbleiben und abwarten ist vielleicht schon der erste Fehler. Sie wird mit jedem Tag stärker, vergiß das nicht.« Gowenna schnaubte. »Sie ist schon so stark, wie sie nur sein kann«, sagte sie. »Zumindest stark genug für uns. Hast du vergessen, wie du zu diesen Wunden gekommen bist?« Sie deutete auf seine Beine und schüttelte den Kopf. »Glaubst du eigentlich immer noch ernsthaft, sie besiegen zu können. Diese Frau hat die Macht, dich wie eine Fliege zu zerquetschen, Skar, dich, mich - alle hier.«

»Sagtest du nicht gerade, wir wären sicher?«

»Das sind wir«, nickte Gowenna. »Aber nicht, weil sie schwach oder das Volk der Sumpfmänner zu stark für sie wäre. Wir sind in Sicherheit, weil Cosh unangreifbar ist. Keine Armee der Welt könnte dieses Land besetzen. Du kannst keinen Krieg gegen Bäume und Sümpfe führen, Skar.«

»Wenn es so ist«, gab Skar leise zurück, »warum wehren wir uns dann noch? Warum gehen wir nicht zu ihr und geben auf?« Gowenna schwieg, aber mit einem Mal schien sie es nicht mehr zu ertragen, ihn anzusehen. Erneut wandte sie sich um, starrte zu Boden und scharrte unruhig mit den Füßen.

»Warum ... Warum hast du Del mitgenommen, wenn du doch gewußt hast, daß ich ihm nicht helfen kann? Vielleicht aus Gewohnheit. Vielleicht, weil ich noch nie einen Kampf verloren habe.«

Skar sagte nichts mehr, und mit der hereinbrechenden Dunkelheit legte sich Schweigen wie eine unsichtbare Mauer zwischen sie. Und wieder, wie schon so oft zuvor, hatte er das Gefühl, zum ersten Mal mit Gowenna zu reden, zum ersten Mal die wirkliche Gowenna zu sehen, sie sprechen zu hören. Wie oft noch? dachte er. Wie oft würde diese Frau noch die Maske herunternehmen, nur um darunter eine neue, noch perfektere zu tragen? Wie lange mußten sie noch zusammen sein, bis er sich durch die unzähligen verschiedenen Schichten ihrer Persönlichkeit zu dem Wesen durchgearbeitet hatte, das sie wirklich war?

Aber vielleicht, dachte er, gab es sie ja auch gar nicht. Nicht mehr, vielleicht war ihre wirkliche Persönlichkeit ausgelöscht, schon vor einem Jahrzehnt von Vela ausradiert, vielleicht aber auch einfach versickert, wie ein Tropfen im Meer aufgegangen in den unzähligen Scheinwesen, in die sie sich verwandelt hatte.

»Wie ist dein richtiger Name?« fragte er.

Gowenna sah auf, verwirrt, aber auch erschreckt. »Was ... meinst du damit?« fragte sie stockend.

Skar wußte es selbst nicht, ebensowenig, wie er wußte, warum er die Frage überhaupt gestellt hatte. Sie war ihm einfach in den Sinn gekommen. Aber eigentlich hatte nichts von dem, was er seit seinem Erwachen gesagt oder getan oder gedacht hatte, in Wahrheit Sinn. Sie redeten und stritten und beschimpften sich, aber es war nur Gewohnheit.

»Ich meine den Namen, den du getragen hast, als du hierherkamst. Das erste Mal.«

»Spielt er eine Rolle?«

Skar verneinte. »Sicher nicht. Es ... interessierte mich nur.« Gowenna schwieg einen Moment. Ihre Zunge fuhr in einer nervösen Bewegung über ihre Lippen. Skar sah plötzlich, daß sie aufgesprungen und rissig waren, auch der gesunde Teil. Sie mußte Fieber haben. Zum ersten Mal, seit er erwacht war und sie getroffen hatte, kam ihm in den Sinn, daß auch sie verletzt sein mußte, mindestens so schlimm wie er. Er war nicht der einzige gewesen, dessen Spuren blutig waren.

»Kiina«, sagte sie plötzlich. »Mein Name war Kiina. Aber es ist lange her, daß ich Kiina war. Namen bedeuten nichts. Ich trage ihn nicht mehr, und ich bin auch nicht mehr das Kind, das ich war, damals.«

»Ich weiß«, nickte Skar. »Kiina ... Ein hübscher Name. Er klingt gut. Viel besser als Gowenna. Werde ich ... sie kennenlernen, diese Kiina?«

Gowenna schwieg. Aber als Skar sich umdrehte und zu seiner Hütte zurückging, lief eine Träne über ihr Gesicht.

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