3.

Wieder träumte er, aber diesmal konnte er sich hinterher an den Traum erinnern. Er lief über eine gewaltige schwarze Ebene, die mit Trümmern und formlosen, brennenden Dingen übersät war. Tuan und nicht Tuan, oder wenn doch, dann ein Tuan, das er niemals wirklich gesehen hatte, ein Totes Land, wie es vielleicht ausgesehen hatte, als es noch nicht tot oder gerade im Sterben begriffen war. Feuer fiel vom Himmel, und im ersten Moment glaubte er, wieder in Combat zu sein, aber alles um ihn herum war schwarz und geduckt, und der Boden zuckte und bebte unter seinen Füßen wie ein gewaltiges lebendes Wesen, das sich in Krampten wand. Vor ihm war etwas Schwarzes und Monströses, das sich seinen Blicken beständig entzog, aber trotzdem auch immer da war, egal, wohin er sah. Er hätte Angst davor haben müssen, aber er empfand im Grunde gar nichts. Plötzlich war er wirklich in Combat, wieder in dem kleinen Raum unter der Kuppel des Tempels, aber er wußte mit einem Mal, daß es kein Tempel war, sondern das Zentrum eines unsagbar fremden Etwas, das er niemals begreifen würde, Herz einer... Magie(?), die vor hunderttausend Jahren untergegangen war, zusammen mit den Wesen, die sie geschaffen hatten, und vor ihm stand der weiße, aus schimmerndem Glas gewachsene Gral des Steines, bewacht von einem gewaltigen schwarzen Granitwolf. Aber als er danach greifen wollte, schmolz er zusammen und wurde zum höhnisch grinsenden Kopf des Staubdrachen, und aus dem Wolf wurde ein hühnenhafter schwarz gepanzerter Krieger. Die dunklen Augen hinter dem geschlitzten Visier erschienen ihm seltsam vertraut, aber er wußte nicht, wem er gerade gegenüberstand, Del oder seinem Dunklen Bruder, vielleicht auch beiden. Der Traum endete an dieser Stelle, aber Skar wachte nicht auf, sondern trieb noch eine Weile haltlos durch den grauen Nebel, der zwischen Schlaf und Erwachen liegt. Das Geräusch des Windes drang schwach an sein Bewußtsein, doch der Laut erschien ihm plötzlich wie ein langgezogenes, klagendes Heulen, das Heulen des steinernen Wolfes von Combat, der den Verlust seines Schatzes beklagte. Noch einmal glitt er - für Sekunden, wie es ihm schien - hinüber in den Schlaf, und als wäre sein Traum noch nicht zu Ende gewesen, setzte er sich fort. Plötzlich war er nicht mehr in Combat, sondern in Urcôun, der Stadt am Rand der Nonakesh-Würste. Wieder sah er den schwarzen Riesen, aber dann wuchsen aus seinem Kopf und seinen Schultern lange, dornige Stacheln, und als er die Hand hob und das Gesichtsvisier zur Seite schob, da war es nicht Dels Gesicht oder sein eigenes, sondern eine schwarze, brodelnde, formlose Masse.

Diesmal erwachte er endgültig.

Er fuhr so abrupt hoch, daß El-tra, der auf einem Mauerrest über dem provisorischen Lager saß und Wache hielt, erschrocken herumguckte und die Hand auf das Schwert legte. Skar schüttelte hastig den Kopf, gab dem Sumpfmann mit einer stummen Geste zu verstehen, daß alles in Ordnung sei, und setzte sich - leiser, um Gowenna und den anderen El-tra, die rechts und links von ihm lagen und schliefen, nicht zu wecken - vollends auf. Seine Stirn war heiß, und das Brennen auf seinen Handflächen und der trockene, üble Geschmack im Mund sagten ihm deutlich, daß er in den letzten Stunden erneut Fieber gehabt und sein Körper den Kampf gegen die Rauschdroge noch lange nicht gewonnen hatte.

Aber es gelang ihm nicht, den Traum als Fieberphantasie abzutun. Er war zu klar gewesen, und er verblaßte nicht in der Art normaler Alpträume bald nach dem Erwachen, sondern schien im Gegenteil erst jetzt, in Skars Erinnerung, an Klarheit zu gewinnen. Es war fast, als wäre es kein Traum, sondern eine Botschaft gewesen, etwas, das von außen an ihn herangekommen und sich in seine Träume geschlichen hatte, um sie als Vehikel zu benutzen, als wolle ihm irgend jemand oder etwas - vielleicht sein eigenes Unterbewußtsein - auf diesem Wege etwas mitteilen.

Aber wenn es eine Botschaft war, dann verstand er sie nicht. Er blieb eine Weile reglos sitzen und wartete darauf, daß die Müdigkeit zurückkam, aber sie kam nicht. Sein Körper und vielmehr noch sein Geist befanden sich in Aufruhr; er würde in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden. Leise beugte er sich zu Gowenna hinüber und betrachtete sie sekundenlang. Sie lag auf dem Rücken und schlief; ihre Hand hatte die Decke, in die sie sich gewickelt hatte, bis zur Stirn hochgezogen, so daß der Stoff wie ein grober Schleier die geschändete Seite ihres Gesichtes verbarg. Ihre Hand hatte sich selbst im Schlaf noch so fest in das Gewebe gekrallt, daß ihre Knöchel weiß und deutlich hervortraten.

Plötzlich machte sich ein widersinniges Gefühl von Verlangen in Skar breit. Es war wie beim ersten Mal, als er sie schlafend gesehen hatte - jetzt, wo er nur ihren Körper sah, sah er auch nicht mehr als die Frau in ihr, die sie war. Er empfand nichts von dem Haß und dem Zorn, den er der wachen Gowenna entgegenbrachte, sondern fühlte nur noch Zärtlichkeit, ein Empfinden, das er zu lange entbehrt hatte, und - ja, und Vertrauen. Als hätten dieses schlafende Mädchen neben ihm und die Frau, zu der sie wurde, wenn er sie jetzt an der Schulter berühren und wecken sollte, nichts, aber auch gar nichts miteinander gemein.

Er merkte es nicht einmal, aber seine Hand machte sich plötzlich selbständig, glitt in einer unendlich behutsamen Bewegung über die Decke und suchte ihre Hand. Und als hätte Gowenna - die schlafende Gowenna - nur darauf gewartet, schlossen sich ihre Finger um seine, preßte sich ihre Haut gegen die seine, die eine so heiß und trocken und rissig und vom Fieber ausgedörrt wie die andere, und für einen kurzen, ganz kurzen Moment spürte er Lust - nicht Lust auf irgendeine Frau, nicht das Verlangen nach reinem Sex, der ihm nicht mehr bedeutete als ein natürliches Bedürfnis seines Körpers und den er beherrschen und nach Belieben unterdrücken konnte wie Hunger oder Durst, sondern ein heißes, drängendes Verlangen nach ihr, eine morbide Lust, sie an sich zu reißen, sie in die Arme zu schließen und die Lippen auf ihr verbranntes Gesicht zu pressen, sie zu streicheln ...

Skar riß seine Hand so abrupt zurück, daß Gowenna beinahe erwachte und sich stöhnend herumwarf. Er schloß die Augen, ballte die Fäuste und versuchte seine Gedanken dorthin zurückzujagen, wo sie hergekommen waren.

Für einen Moment dachte er an gar nichts, schuf bewußt eine schwarze, endlose Leere in seinem Geist und öffnete nur zaghaft wieder die Augen.

Er stand auf, legte sich seinen Mantel um die Schultern und nahm nach kurzem Zögern auch die Decke auf, um sie wie einen zweiten Umhang über den ersten zu werfen. Es waren noch Stunden bis zum Sonnenaufgang, und wenn auch der Wind sie in der halboffenen Ruine, in der sie Zuflucht gesucht hatten, nicht erreichen konnte, so kroch doch die Kälte wie ein glitzerndes eisiges Tier durch die Wände und den Boden und nagte beharrlich an seinen Kräften. Er bückte sich noch einmal, hob seine Waffe auf und schob sie lautlos in den Gürtel. Das Gewicht des Tschekal an seiner Seite gab ihm ein Gefühl der Sicherheit, obwohl er wußte, daß die Gefahren, die hier auf sie lauern mochten, sicher nicht mit herkömmlichen Waffen zu bekämpfen waren.

Das schwarze Glas Tuans knirschte unter seinen Stiefeln, als er zu El-tra hinüberging. Sie waren trotz ihrer Erschöpfung bis weit in die Nacht hinein geritten und hatten an die fünfzig Meilen zwischen sich und Combat gebracht, und die Landschaft begann sich hier langsam, aber doch spürbar zu verändern. Der Boden war nicht mehr ganz so glatt und hart, und an manchen Stellen war das Glas wie unter einer Folge ungeheurer Hammerschläge geborsten und zu einer zersplitterten, krumigen Masse zersprungen, und der Wind trug nicht nur Schnee und Kälte, sondern auch Schleier schwarzen, staubfeinen Glases mit sich. Skar senkte den Blick, drehte den Kopf, um dem Bombardement winziger schneidender Partikel zu entgehen, und arbeitete sich gebückt zu El-tra durch. Der Sumpfmann hockte reglos auf einem Mauerstück, als gäbe es weder den Wind noch die schneidende Kälte. Hätte er nicht bei Skars Näherkommen den Kopf gedreht und genickt, hätte man ihn für eine leblose Statue halten können; ein Teil dieses Landes, trotz seiner Menschenähnlichkeit so bizarr und fremdartig wie die Welt, in die sie eingedrungen waren.

Er deutete auf die Mauer neben sich und machte eine einladende Handbewegung, aber Skar blieb stehen. Er versuchte mehr von ihrer Umgebung zu erkennen. Am Abend, als sie aus den Sätteln gestiegen und hinter der zerfallenen Mauer Zuflucht gesucht hatten, war er zu müde gewesen, um mehr als Schatten wahrzunehmen, aber die wenigen Stunden Schlaf hatten ihn - trotz der Alpträume und des Fiebers - in überraschendem Maße gestärkt. Es war nicht wirklich dunkel: Combats Feuer leuchtete selbst hier noch hell genug, um die Landschaft in flackerndes rotes Dämmerlicht zu tauchen. Trotzdem schien alles, was weiter als zehn, fünfzehn Fuß entfernt war, hinter einen unsichtbaren kochenden Schleier verborgen zu sein, den sein Blick wohl durchdringen konnte, der es aber trotzdem unmöglich machte, irgendwelche Einzelheiten zu erkennen. Er sah Schatten und Konturen und seltsame, fremdartige Dinge, ohne wirklich sagen zu können, was er sah.

»Warum schläfst du nicht?« fragte El-tra nach einer Weile. »Es ist noch Zeit. Du wirst deine Kraft brauchen.«

Skar schüttelte unwillig den Kopf. »Ich kann nicht«, antwortete er. »Aber du solltest dich hinlegen. Es reicht, wenn einer von uns wacht.« Er hätte gerne hinzugefügt, daß es im Grunde nicht einmal nötig war, Wachen aufzustellen, aber er tat es nicht. Wenn El-tra es für nötig hielt zu wachen, so würde er seine Gründe haben. »Ich bin nicht müde, Skar«, antwortete El-tra. »Mein Bruder schläft. Das reicht.«

Skar blinzelte verwirrt. »Soll das heißen, ihr ruht beide, wenn einer von euch ruht?« fragte er ungeschickt.

El-tra antwortete nicht. Er stand auf, mit einer raschen, fließenden Bewegung, wie es die Art seiner Rasse war, packte sein Schwert mit beiden Händen und deutete nach Süden. Skar sah die Waffe des Schattenmannes jetzt zum ersten Mal bewußt an - es war kein Schwert wie das, das er oder Gowenna trugen, sondern ein wuchtiges, mörderisches Ding mit zwei Schneiden und zahlreichen, reißenden Spitzen; keine Waffe für einen ehrenvollen Kampf, sondern ein brutales Mordinstrument, ein Ding zum Schlachten und Verstümmeln. Er schauderte.

»Vielleicht ist es gut, daß du kommst«, fuhr El-tra nach sekundenlangem Schweigen fort. »Ich bin mir nicht sicher,... aber ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende, doch seine Worte ließen Skar aufhorchen. Er fragte sich, wie El-tra in dem brodelnden Nichts dort vor ihnen überhaupt etwas wahrnehmen konnte.

»Komm.«

Sie gingen los, nebeneinander und mit gezogenen Waffen. Das Gebäude, in dem sie Schutz gesucht hatten, war das erste in einer vielleicht dreihundert Fuß langen, geometrisch exakten Linie abgeschmirgelter Ruinen, die sich in südlicher Richtung dahinzogen. Was dahinter lag, war nicht mehr zu erkennen. El-tra ging vielleicht zwanzig Schritte weit, blieb dann stehen und deutete wortlos nach links. Skar sah konzentriert in die angegebene Richtung. Er erkannte eine Mauer, etwas höher als die, hinter der ihr Nachtlager war, und an einer Stelle von einem breiten, halbkreisförmigen Durchgang unterbrochen, dessen oberes Drittel fehlte. Nebeneinander traten sie hindurch und blieben abermals stehen. Es fiel Skar nicht schwer, sich vorzustellen, wie dieses Gebäude einmal ausgesehen haben mußte. Von seinem Inneren war nichts erhalten, der Boden war geschmolzen und zu Glas erstarrt wie das gesamte Antlitz Tuans - aber es mußte annähernd rechteckig gewesen sein, und dicht neben dem Eingang führte ein schwarzer, lichtloser Schacht, an dessen oberen Ende die ersten Stufen einer Treppe zu erkennen waren, in die Tiefe. Skar ließ sich daneben auf die Knie sinken, legte sein Schwert neben sich auf den Boden und beugte sich vor, so weit es ging. Aber er erkannte nichts. Die Finsternis unter ihm war total, und selbst die flackernden dunkelroten Lichtblitze Combats, die wie eine stumme Drohung über dem Land lagen und ihre Umgebung in das Szenario eines Alptraumes verwandelten, schienen eine knappe Handbreit unter dem Beginn der Treppe aufgesogen und verschluckt zu werden. Aber dafür fühlte er um so deutlicher, was El-tra gemeint hatte. Sie waren nicht allein. Es war keine bewußte Wahrnehmung, nichts, was er normalerweise mit seinen Sinnen aufnehmen oder erklären konnte, sondern nur ein Gefühl, weniger sogar noch, etwas wie die Stimme in dem Traum, aus dem er aufgeschreckt war - leise, nicht greifbar, aber doch deutlich, ein Empfinden, als hätte er zu seinen normalen Sinnen plötzlich einen weiteren, neuen hinzubekommen. Er war irritiert.

Er sah sich einen Moment suchend um und riß, als er nichts anderes fand, einen Streifen von der Decke, die er über seinen Mantel geworfen hatte. Rasch wickelte er ihn um das obere Drittel seines Schwertes und knotete ihn fest. El-tra ließ sich neben ihn auf ein Knie sinken und griff unter seinen Umhang. Tantor hatte ihnen nicht nur Heilkräuter und Fleisch, sondern auch einen kleinen Vorrat des Brandpulvers zurückgelassen, mit dessen Hilfe er auf dem Weg durch die Berge selbst aus tropfnassem Holz Feuer entzündet hatte, und die Chemikalie wirkte auch jetzt noch - El-tra tupfte eine Fingerspitze davon auf den Stoffstreifen, und schon nach wenigen Sekunden begann sich der erste Rauchfaden emporzukräuseln.

Skar wartete nicht, bis seine improvisierte Fackel vollends Feuer gefangen hatte. Der zundertrockene Stoff würde nur wenige Augenblicke brennen, ehe er zu Asche zerfiel. Vorsichtig, beide Arme ausgestreckt, um nicht im Dunkeln gegen ein Hindernis zu stoßen, und mit den Fußspitzen über die steinernen Stufen tastend, stieg Skar in die Tiefe. Der Stoffstreifen begann zu glimmen, dann in wachsenden, rauchenden Flammen zu brennen, trotzdem wurde es nicht hell. Das Licht wurde eine knappe Armlänge unter ihm aufgesogen; er bewegte sich im Inneren einer unregelmäßigen, blakenden Kugel aus flackernder Helligkeit, an deren Rändern ein beständiger verzweifelter Kampf zwischen Licht und Finsternis zu toben schien.

Als er das Ende der Treppe erreichte, war seine provisorische Fackel zur Hälfte heruntergebrannt. Der Griff des Tschekal begann sich bereits spürbar zu erwärmen. In wenigen Augenblicken würde er so heiß sein, daß Skar ihn nicht mehr halten konnte. Skar zögerte einen Moment, riß einen weiteren Streifen von seiner Decke und setzte auch ihn in Brand.

Skar schloß geblendet die Augen, als der Stoff hell aufloderte, hob instinktiv die Hand vor das Gesicht und ließ den Streifen fallen, der wie ein glühender Feuerschmetterling zu Boden flatterte und dort weiterbrannte.

Im ersten Moment hatte Skar das Gefühl, sich im Inneren eines gewaltigen, in Millionen und Abermillionen verschiedenförmiger Facetten geschliffenen Kristalls zu befinden. Die Wände des Kellerraums bestanden aus Glas, wie der Boden über ihm, aber anders als er waren sie von kristallener Klarheit; blitzendes Eis und Kaskaden von sprühendem, mitten in der Bewegung erstarrtem Wasser, in denen sich das Licht der Flammen millionenfach brach und spiegelte.

Für einen Moment hatte er das Gefühl, als ob der Boden unter seinen Füßen bebte, aber dann merkte er, daß er es war, der wankte, unter dem plötzlichen Ansturm von Licht und Helligkeit zurücktaumelte wie unter einem Schlag. Er blinzelte, schloß die Augen und öffnete sie erst nach Sekunden vorsichtig wieder. Der Anblick war bizarr, erschreckend und faszinierend zugleich. Sie standen am Eingang einer niedrigen, aber weitläufigen Kuppelhalle. Der Boden war eben, oder war einmal eben gewesen, bevor er sich wie ein gewaltiges Tier in zuckenden Krämpfen gewunden hatte und dann wieder erstarrt war. Eine der Seitenwände war geborsten, die Steine in einer gefrorenen, zeitlosen Explosion in den milchigweißen Schwaden gefangen. Gläserne Stalaktiten wuchsen von der Decke herab, und da und dort spannten sich dünne, durchbrochene Netze wie verwunschene Spinnweben durch den Raum. Skar glaubte für einen kurzen Moment im Widerschein des Feuers die ungeheure Glut zu spüren, die diesen Raum einmal erfüllt haben mußte, Hitze, die Sand zu Dampf und dann zu Glas werden ließ, ein Höllenfeuer, das auf geheimnisvolle Weise noch immer da zu sein schien, als wäre es nie erloschen, sondern gefangen in den weißen, durchsichtigen Schleiern, schlafend, aber noch da.

Skar versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen sein mußte: Irgendwann einmal hatten hier Menschen - Menschen oder Götter, aber auf jeden Fall lebende Wesen - gelebt. Sie hatten Städte gebaut, Festungen, Burgen, hatten vielleicht Kriege gegeneinander geführt, waren glücklich oder unglücklich gewesen. Und dann war das Ende gekommen; schnell, wahrscheinlich zu schnell, als daß noch irgendeiner überhaupt etwas von dem Unheil spürte, das plötzlich über sie hereinbrach, war die Sonne mit einem einzigen brüllenden Schlag vom Himmel gestürzt, hatte Combat in Brand gesetzt und dieses Land getötet...

Das Geräusch leiser Schritte riß ihn aus seinen Gedanken. Er sah auf, drehte sich um und sah El-tra nachdenklich an. Das Licht wurde schwächer. Skar streifte den verkohlten Stoff von seinem Schwert, riß wieder ein Stück von seiner Decke und entzündete es. Diesmal war er auf den Ansturm von Licht vorbereitet, aber es schien ihm auch weniger schlimm, zwar noch immer schmerzhaft intensiv, aber nicht mehr so voller Wut wie beim ersten Mal. El-tra ging stumm an ihm vorbei. Skar konnte die Anspannung, unter der der Sumpfmann stand, spüren. Das Gefühl, beobachtet, belauert zu werden, war hier stärker. Aber er war auch plötzlich sicher, daß sie allein waren. Was sie fühlten, war nichts als ein schwacher Hauch der Vergangenheit. Die Spuren, die die Jahrtausende, ohne auch nur die mindeste Veränderung im Fluß der Zeit zu bewirken, hinterlassen hatten. Sie standen in einem Grab. Und sie fühlten es.

El-tra deutete auf den Boden neben sich und ließ sich auf die Knie nieder. Skar trat neben ihn. Er sah die obersten Stufen einer Treppe, die weiter in die Tiefe führte, hinab in einen Schacht, der von gesprungenem Glas wie von einem gewaltigen Pfropfen ausgefüllt war. Das Gebäude mußte sich auch unter diesem Keller noch fortsetzen, vielleicht Teil eines gewaltigen, Stockwerk um Stockwerk in die Tiefe reichenden Labyrinthes, das noch intakt sein mochte, unversehrt und geschützt durch den Panzer aus Glas und geschmolzenem Stein, der über ihm lag.

»Gehen wir«, murmelte er. »Hier ist nichts.« Er sprach leise, und doch erfüllten seine Worte den Raum mit bizarrem kicherndem Leben. Dies war kein Ort, an dem Menschen sein sollten. El-tra stand auf und drehte sich um, blieb aber noch einmal stehen und sah zu einer Stelle neben der zerborstenen Seitenwand. Etwas Dunkles, ungeheuer Massiges und Großes ragte halb aus dem erstarrten Glas.

Skar trat zögernd näher. Es war schwer zu erkennen, was sie eigentlich vor sich hatten; sein Blick schweifte immer wieder ab, und er mußte seine Augen bewußt zwingen, hinzusehen.

Das Ding hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Menschen. Es war größer, sehr viel größer, und auf schwer zu beschreibende Art massig, von der Wucht und Unaufhaltsamkeit einer Naturgewalt. Es mußte eine Statue sein, irgendein blasphemischer Gott, den die Menschen, die hier gelebt hatten, angebetet und in Stein oder Eisen geschaffen hatten. Es war schwarz, eine Farbe wie uraltes, glänzendes Horn, und obwohl es in einer halb kauernden, aufspringenden Haltung in die Wand eingebettet war, sah Skar, daß es aufgerichtet weit über drei Meter messen mußte. Sein Körper war vollkommen in eine glatte Rüstung gehüllt, aus deren Schultern, Knien und Ellbogen fingerlange, reißende Dornen wuchsen. Seine Pranken waren groß wie Skars Kopf; fürchterliche Klauen mit fünf Fingern und zwei gegeneinander gerichteten, kräftigen Daumen. Das Gesicht war abgewendet; Skar konnte es nicht erkennen.

»Was ... was ist das?« flüsterte er. Seine Stimme bebte, erschüttert von einer Furcht, gegen die er hilflos war. »Ein Lebewesen?« El-tra schüttelte den Kopf; eine rasche, abgehackte Bewegung, die zu rasch kam, um wirklich eine Antwort auf Skars Frage sein zu können. Der Sumpfmann wußte sowenig wie er, ob dieses Ungeheuer jemals gelebt hatte oder nicht. Er wollte es nicht. Ein Ding wie dieses durfte niemals gelebt haben.

Skar streckte zögernd die Hand aus und berührte die vorgestreckte Klaue des Ungeheuers mit den Fingern. Die Bewegung kostete ihn unglaubliche Überwindung; in ihm blitzte plötzlich die Vision auf, daß dieses Ding im gleichen Moment, in dem er es berührte, wieder zum Leben erwachen, sich mit einem brüllenden Schrei aus seinem gläsernen Gefängnis befreien und über ihn und den Sumpfmann herfallen würde. Und doch, obwohl es seiner ganzen Kraft bedurfte, die Bewegung zu Ende zu führen, war da noch etwas anderes in ihm, etwas, das ihn zwang, die Statue anzustarren, sie zu berühren.

Sein dunkler Bruder ... Es war das erste Mal seit dem Kampf mit Del und der Errish, daß sich die unsichtbare Stimme in ihm wieder meldete, nicht mit Worten oder Gefühlen diesmal, sondern als sanfter, auf morbide Weise beinahe wohltuender Druck, körperlos und nur als das Wissen, da zu sein.

Skars Finger glitten über die Krallenhand der Statue, glitten an ihrem Arm hinauf und verharrten, als er gegen die wasserklare Wand aus Glas stieß, in die das Ungeheuer zum Großteil eingebettet war.

»Was ist es?« fragte El-tra. »Eisen?«

Skar schüttelte den Kopf. Er war sich nicht sicher - vielleicht lag es an den verzerrten Echos, die die glitzernden Wände zurückwarfen, vielleicht an seiner eigenen Nervosität -, aber er glaubte fast so etwas wie Furcht in der Stimme des Sumpfmannes zu verspüren; ein Gefühl, von dem er bisher nicht einmal gewußt hatte, daß die Schattenmänner es kannten.

»Nein«, antwortete er nach einer Weile. El-tra schien eine weitere Erklärung zu erwarten, aber Skar schwieg. Es war kein Eisen, weder Eisen noch Stein - das Material sah aus wie Horn, und es fühlte sich an wie Horn, Horn oder vielleicht Knochen. Nichts an der Rüstung, die der Gigant trug, schien geschmiedet oder auf andere Weise bearbeitet worden zu sein. Seine Formen wirkten, obwohl gewaltig und fremder als alles, was er jemals zu Gesicht bekommen hatte, auf schwer zu bestimmende Art natürlich. Gewachsen.

Skar zog die Hand so hastig zurück, als hätte er unvermittelt glühendes Eisen berührt. Mit einem schnellen Schritt trat er neben El-tra und deutete auf die Treppe.

»Wir sollten gehen«, sagte er noch einmal.

Diesmal widersprach der Schattenmann nicht, und als Skar in das wogende Nebelgesicht unter der Kapuze blickte, erkannte er Furcht, Furcht, die ebenso tief und vielleicht tiefer als seine eigene war. Es war nicht das, was sie wirklich gesehen hatten - die Statue war bei aller Schrecklichkeit doch nicht mehr als eine leblose Skulptur aus Stein oder Horn oder irgendeinem anderen Material, in dem die Bewohner dieses Landes ihren Gott, vielleicht auch einen Dämon, den sie fürchteten und auf diese Weise zu bannen hofften, nachgebildet hatten. Es hätte Skar nicht einmal sehr viel mehr erschreckt, einem solchen Ungeheuer lebend und leibhaftig gegenüberzustehen. Schlimmer war das, was sie beide spürten, nicht mit ihren Sinnen, dafür aber um so deutlicher mit ihren Seelen wahrnahmen: das ungeheure Gewicht der Jahrtausende, die auf diesem halb eingestürzten Gewölbe lasteten, den fremden, eisigen Hauch, der sie wie eine Vision aus einer vollkommen anderen Welt gestreift hatte. Sie hatten einen kurzen, einen ganz kurzen Blick in das Tuan geworfen, das hier gewesen war, lange bevor der Mensch seinen Fuß auf die Oberfläche dieser Welt gesetzt hatte, und schon diese flüchtige Vision hatte genügt, etwas in ihnen erstarren zu lassen.

Der eisige Wind schlug ihnen mit Macht entgegen, als sie den Treppenschacht verließen und wieder zwischen die glasierten Mauern der Ruine traten. El-tra entfernte sich rasch ein paar Schritte vom Ende der Treppe und blieb stehen. Seine Hand spannte sich so fest um das Schwert, daß Skar das leise Knacken seiner Gelenke hören konnte; ein Laut, der das Heulen des Sturmes zu unterlaufen und ungemildert an sein Gehör zu dringen schien, so, wie alle seine Wahrnehmungen plötzlich zweigeteilt waren: Der Sturm und die jagenden grauen Schatten ließen seine Umgebung noch immer zu einer bizarren Alptraumlandschaft werden, zu einem Ort, an dem Furcht etwas ebenso Selbstverständliches war wie Licht und Dunkelheit oder Wärme und Kälte; aber gleichzeitig sah er manches mit beinahe erschreckender Klarheit.

Zögernd ging er an El-tra vorbei, trat durch den halbierten Torbogen und wollte sich nach rechts wenden, zurück in die Richtung, in der ihr Lager war. Der Sumpfmann berührte ihn an der Seite, schüttelte den Kopf und deutete in die entgegengesetzte Richtung. Und jetzt, als hätte es El-tras Hinweis bedurft, um einen weiteren, verborgenen Sinn in ihm zu aktivieren, spürte er es wieder.

Sie waren nicht allein. Vor ihnen war etwas Lebendes; und sie spürten es, spürten die reine Anwesenheit von Leben in diesem Reich des Schweigens und Toten, wie sie das Glühen einer Flamme in einem Land ewiger Finsternis gesehen hätten.

El-tra deutete stumm nach Norden und ging los; schnell, aber nicht hastig. Skar folgte ihm, Staub und feines, pulverisiertes Glas knirschte unter ihren Stiefelsohlen. Skar spürte ein leises, drängendes Pochen in sich, ein Gefühl jenseits seiner normalen Empfindungen, nicht so deutlich, wie es unten im Keller gewesen war, und lange nicht so machtvoll wie während seines Kampfes gegen die Errish, aber doch nicht leise genug, um überhört oder gar geleugnet werden zu können. Sein dunkler Bruder war noch immer da, schlafend, doch nicht tot; ein Gefühl, als wäre in ihm etwas dabei, sich zu verpuppen, einzuspinnen in einen Kokon aus Schweigen und lastender Dunkelheit, um irgendwann, vielleicht schon bald, neu und mit schrecklicherer Macht als zuvor herauszubrechen.

Er blieb stehen, preßte die Lippen zusammen und schloß für Sekunden die Augen. Seine Hände begannen zu zittern, und trotz der Kälte bedeckte feiner, kalter Schweiß seine Stirn.

»Was hast du?« fragte El-tra.

Skar schüttelte hastig den Kopf. »Nichts«, sagte er. »Es ist schon vorbei.« Er versuchte zu lächeln. »Eine vorübergehende Schwäche, mehr nicht.«

Er konnte El-tras Blick nicht sehen, aber er glaubte den Zweifel darin zu spüren.

»Die Droge«, fügte er schnell hinzu. »Ich spüre sie noch immer. Mehr nicht.«

El-tra schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, Bruder«, sagte er sanft und doch in einem Tonfall, der jeglichen Widerspruch von vornherein ausschloß. »Es ist etwas anderes. Da ist etwas in dir, das mich ängstigt.«

Skar lachte. »Vielleicht meine schwarze Seele«, sagte er leichthin. »Ich verspeise normalerweise zum Frühstück kleine Kinder, weißt du? Und abends Sumpfmänner.«

El-tra machte eine rasche, ärgerliche Handbewegung. »Du weißt, worüber ich rede«, sagte er scharf. »Und du versuchst es herunterzuspielen, weil es dich selbst ängstigt. Was ist es, das einen Mann dazu bringt, Furcht vor sich selbst zu haben?«

Skar hielt dem Blick der unsichtbaren Augen einen Herzschlag lang stand, dann drehte er sich mit einem Ruck um und wies mit der Spitze seiner Waffe nach Norden. »Wir sollten erst einmal nachsehen, was dort ist«, sagte er betont. »Über mich können wir später noch reden.«

Er hatte mit Widerspruch gerechnet, aber El-tra ließ das Thema ohne ein weiteres Wort fallen und ging weiter. Die Reihe zerfallener Ruinen blieb rasch hinter ihnen zurück, und nach weiteren zwanzig, dreißig Schritten standen sie auf einer vollkommen flachen, glatten Ebene, die sich unversehrt wie ein gewaltiger grüner Spiegel mehr als eine Meile vor ihnen ausbreitete. Der Sturm ließ kleine, wirbelnde Staubschleier und Wolken von Schnee vor ihnen tanzen, und am Himmel flackerten noch immer rote und orangefarbene Lichter, aber vor ihnen war nichts, nichts außer wogendem Chaos und den Schrecken, den sie selbst hineinlegten. Zehn, vielleicht zwanzig Minuten standen sie reglos da und blickten in die Unendlichkeit hinaus, gepeitscht von Wind und beißender Kälte. Skar kam sich plötzlich unglaublich klein und einsam vor, lächerlich, eine Ameise, die sich vorgenommen hatte, einen Ozean zu überqueren. Es bedurfte gar keiner Feinde, sie zu töten. Dieses Land selbst würde sie umbringen, ehe sie es auch nur zu einem Zehntel durchquert hatten, würde sie mit seiner ungeheuren Leere erschlagen, das Leben aus ihnen heraussaugen. Vielleicht, dachte er, war es nur erschaffen worden, um leer zu sein, so wie Combat nur erschaffen worden war, um groß zu sein. Vielleicht sollten sie aufhören, einen Sinn darin zu suchen, irgendeine andere Begründung als einfach die, da zu sein. Sie waren Menschen, und es war wohl einer der Grundzüge des menschlichen Charakters, immer und überall nach dem Warum zu fragen. Aber was, dachte Skar, wenn es in diesem Land kein Warum gab? Wenn dies alles hier nicht irgendeinem Plan, einem Muster oder einem bestimmten Zweck folgte, sondern einfach war?

Der Gedanke entglitt ihm, zu abstrakt, um wirklich zu Ende verfolgt zu werden, aber er ließ ein seltsames Gefühl von Enttäuschung zurück, eine Leere, die irgendwie mit der sie umgebenden verwandt schien.

Der Wind wurde stärker. Eine gewaltige Bö riß die wirbelnde Decke aus Schnee und Wolken über ihren Köpfen auf, und für einen Moment loderte Combats Glut so grell, als hätte der gesamte Himmel Feuer gefangen. Ein hoher, klagender Ton mischte sich in das Winseln des Sturmes, und als Skar sich umwandte, glaubte er über der gezackten Schattenlinie des Horizonts einen mächtigen schwarzen Schatten zu erkennen, ein Ungeheuer aus Stein und lodernder Wut, brennend und verzehrt von einem Haß, der Skar wie eine eisige Hand zu berühren schien. Dann verschwand die Vision so rasch, wie sie gekommen war. Nur das helle, klagende Heulen des Sturmes blieb zurück.

Загрузка...