1.

Gegen Morgen kam das Fieber, kamen das Fieber und die Träume. Skar hatte den größten Teil der Nacht neben Gowennas Lager zugebracht, stumm wie sie und von Schmerzen und Schwäche, am meisten aber von dem Gefühl der Hilflosigkeit gepeinigt, das von ihm Besitz ergriffen hatte. Es war eine sinnlose Wache, denn er konnte ihr nicht helfen, nicht einmal Trost zusprechen. Er wollte es auch nicht. Jedes Wort, das er hätte sagen können, wäre ihm in ihrer Situation wie grausamer Spott vorgekommen. Sie hatten nicht mehr miteinander geredet; die wenigen Worte, die sie zu ihm gesprochen hatte, schienen ihre gesamten Kraftreserven aufgebraucht zu haben, und sie war in einen unruhigen, von Krämpfen und Schüttelfrost heimgesuchten Zustand irgendwo zwischen Bewußtlosigkeit und Schlaf verfallen. Die Nacht breitete einen barmherzigen Schleier aus Dunkelheit über ihr zerstörtes Gesicht, und erst gegen Morgen wurde ihr Schlaf ein wenig ruhiger, keine Agonie mehr, sondern das tiefe, erschöpfte Ruhen eines Körpers, der bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus belastet worden war. Dafür begann Skars Krise, als hätte das Schicksal nur gewartet, um ihm einen kurzen Blick in seine eigene Zukunft zu gewähren. Zu Anfang war es lediglich ein dumpfer, kaum wahrnehmbarer Druck hinter seiner Stirn, nur ein Schmerz unter unzähligen anderen, die seinen zerschundenen Körper quälten, der jedoch rasch stärker und nach einer Weile zur Qual wurde; ein Schmerz aber, der sich mehr auf geistiger als auf körperlicher Ebene auszubreiten begann und dem er sich nicht wie gewohnt entgegenzustellen und ihn zu bekämpfen vermochte. Er hatte gewußt, daß er kommen würde, so wie in den Nächten zuvor, und doch war es anders. Seine Hand glitt in einer Bewegung, die schon zum Reflex geworden war und die er wie das Luftholen oder Blinzeln schon nicht mehr bewußt wahrnahm, an seinen Hals und suchte den kleinen Lederbeutel, aber diesmal war nichts mehr da, sein Vorrat an Leben und geliehener Stärke war verschwunden, und das Brennen in ihm wurde stärker. Er stand auf und ging mühsam und schleppend und mit hängenden Schultern wie ein alter Mann zum entgegengesetzten Rand des Kraters hinüber, wie ein Tier, das das nahende Ende spürt und sich von der Herde absondert, um in Ruhe zu sterben. Es war seltsam - jetzt, wo er wußte, daß ihn die Droge nicht töten würde, schämte er sich vor den anderen. Er wollte nicht, daß sie sahen, wie er litt, wie er sich herumwerfen und nach dem Gift schreien würde, das in seinen Adern pulsierte.

Er war noch immer stark genug, trotzdem einzuschlafen, einfach, weil er es wollte, aber er wachte immer wieder auf, schweratmend und in Schweiß gebadet und mit klopfendem Herzen, bitteren Blutgeschmack im Mund und mit der Erinnerung an die Bilder, die irgendwo hinter seinen Gedanken lauerten, ohne sich zu zeigen. Er konnte sich - anders als zuvor - nicht an die Träume erinnern, aber irgendwie erschien es ihm, als ob sie immer gleich wären, gleich und doch verschieden: so, als sähe er jedesmal eine neue Version ein und derselben Szene. Die Sonne ging auf und ließ den brodelnden Feuerbaldachin Combats verblassen, und es wurde wärmer, zumindest hier, am Grunde des Kraters, dessen steil aufragende Wände sie vor dem eisigen Wind schützten. Skars Bewußtsein begann sich zu verschleiern, zuerst nur zum Teil, als wären seine Gedanken entlang einer gezackten Rißlinie gespalten, aber die Grenze, hinter der er noch klar denken konnte, verschob sich, wurde mit jeder Handbreit, die die Sonne am Himmel emporstieg, kleiner, bis er schließlich ganz in einem Sumpf aus Fieberphantasien und Qual versank.

Als er erwachte, war wieder Nacht.

Es war ein Erwachen, ganz anders als sonst; nicht das plötzliche, abrupte Heraufsteigen aus einem langen, stärkenden Schlaf, sondern ein bizarrer, in Etappen stattfindender, furchteinflößender Prozeß: langsam und mühevoll, als wäre sein Geist in einen tiefen, unendlich tiefen Abgrund in seiner eigenen Seele gestürzt, aus dem er sich nur mit äußerster Mühe emporarbeiten konnte. Das erste, was er spürte, war Kälte. Er lag nicht mehr auf dem nackten Boden, auf den er sich gelegt hatte, sondern auf einem Lager aus Kleidern und Stoffetzen, und jemand hatte ihn mit einem Mantel zugedeckt. Seine Hände und Ellbogen waren zerschrammt und bluteten; wahrscheinlich hatte er um sich geschlagen und sich die Haut an scharfkantigem Lavagestein aufgeschürft. Seine gebrochenen Rippen schmerzten unerträglich, aber der Druck hinter seiner Stirn war verschwunden.

War es so leicht? dachte er erschrocken. Hatte er deshalb all die Tage und Wochen der Angst durchgestanden - wegen einer Nacht Fieber und Alpträume? Aber noch während er diesen Gedanken dachte, spürte er bereits, wie das Gift schon wieder mit dünnen, knochigen Fingern bei ihm anklopfte. Es war noch lange nicht vorbei, hatte vielleicht noch nicht einmal richtig begonnen. Alles, was er gewonnen hatte, war eine kurze Erholungspause, ein Moment der Ruhe, nach dem das Gift neu und vielleicht stärker zuschlagen würde.

Er setzte sich auf, sah sich um und stemmte sich umständlich auf Hände und Knie hoch. Der Schlaf hatte ihn nicht erfrischt, sondern ihn im Gegenteil Kraft gekostet; er spürte es, als er vollends aufstand. Seine Hände zitterten, und seine Beine schienen das Gewicht seines Körpers kaum tragen zu können. Sekundenlang blieb er reglos stehen, hielt sich mit beiden Händen am rissigen schwarzen Glas der Kraterwand fest und wartete, bis das Schwindelgefühl schwächer wurde.

Trotzdem liefen seine Gedanken mit seltener Klarheit ab. Er sah alles um sich herum wie auf einem Bild, auf dem ein geschickter Maler die wichtigen Details hervorgehoben und alles andere nur mit knappen Strichen angedeutet hatte, ohne daß der Unterschied bewußt ins Auge fiel. Der Krater war von flachen schwarzen Schatten erfüllt, dazwischen Grau und glänzendes schwarzes Glas in allen nur denkbaren Schattierungen, durchwoben mit dem flackernden blutigen Feuerschein der brennenden Stadt. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, verzog das Gesicht, als er mit einer ungeschickten Bewegung sein gebrochenes Nasenbein berührte und ein scharfer Schmerz wie die Klinge eines schmalen Silberdolches zwischen seine Augen fuhr, und ging unsicher zu den beiden Sumpfmännern hinüber. Sie hatten sich nicht gerührt, die ganze Zeit nicht, seit er aufgewacht war, und vielleicht standen sie schon seit Stunden so da: reglos, zwei kleine, graugekleidete Statuen, die Schattengesichter einander zugewandt, als würden sie miteinander reden. Irgendwo wieherte ein Pferd, es war ein Laut, der seltsam verloren klang und die Leblosigkeit der Ebene, die sie umgab, betonte, und für einen kurzen Moment drang der Geruch von gebratenem Fleisch durch den Nebel aus Schwäche und Übelkeit, der Skars Sinne umgab.

Einer der beiden El-tra wandte den Kopf, als Skar näher kam. »Du bist wach.« Frage, Feststellung, aber auch Ausdruck von Besorgnis, alles schien in diesen drei Worten enthalten zu sein. Die Schattenmänner sprachen selten, und wenn, dann drückten sie selbst dieses wenige mit sparsamen, knappen Worten aus. Und doch vermochten sie mit einem Satz mehr zu sagen, als so mancher, den Skar kannte, in einer stundenlangen Rede.

Er nickte, blieb eine Armlänge vor den beiden Sumpfbewohnern stehen und hob erneut die Hand an den Kopf. »Wie lange ... habe ich geschlafen?« fragte er stockend. Der Klang seiner eigenen Stimme versetzte ihn in Schrecken. Er war heiser, und das Sprechen bereitete ihm Mühe. Er mußte geschrien haben. »Den ganzen Tag und die halbe Nacht«, antwortete El-tra, einer der beiden El-tra, ohne daß Skar - obgleich er kaum einen Meter vor ihnen stand - feststellen konnte, welcher.

»Was ist mit Gowenna?« fragte er. Sein Blick glitt an den beiden Schattenmännern vorbei dorthin, wo Gowenna lag, aber er konnte nicht mehr als einen dunklen Umriß vor dem schimmernden Lavaglas der Wand erkennen.

El-tra hob hastig den Arm und hielt ihn zurück, als er zu ihr hinübergehen wollte. Skar konnte die winzigen feuchten Schuppen seiner Haut fühlen, obwohl die Hand nicht mehr als ein wirbelnder Schatten war. Ein Gefühl nach Feuchtigkeit und Sumpf durchströmte ihn.

»Laß sie«, bat El-tra. »Sie ist wach, aber sie ...« Zum ersten Mal, seit Skar die Sumpfmänner kennengelernt hatte, erlebte er, daß einer von ihnen spürbar nach den richtigen Worten suchte, und die Erkenntnis erschreckte ihn mehr als alles andere. »Sie will dich nicht sehen«, sagte der Sumpfmann schließlich. »Weder dich noch einen von uns. Bist du hungrig?«

»Ja.«

»Dann komm. Wir haben Fleisch und Früchte.«

Einer der Schattenmänner geleitete ihn zum westlichen Ende des Kraters, während der andere stumm und ohne die geringste Regung dort stehenblieb, wo er war. Skar spürte wieder die Kälte. Der Sturm raste heulend über den steinernen Krater hinweg, aber die Windböen schickten einen eisigen Hauch in den glasierten Kessel hinunter. Skar fröstelte. Die Kälte schien nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele zu berühren.

Dicht vor der Felswand brannte ein Feuer. El-tra hatte die Flammen so geschickt mit Steinen und Teilen ihrer Ausrüstung abgeschirmt, daß ihr Schein selbst aus zwei Schritten Entfernung nicht zu erkennen war. Skar ließ sich mit einem dankbaren Nicken neben der Feuerstelle nieder, hielt die Finger über die Flammen und genoß das Prickeln, mit dem sich die Kälte Stück für Stück aus seinen Händen entfernte. Wärme... Er wußte schon gar nicht mehr, was Wärme war. Selbst das Feuer wärmte nicht wirklich, sondern milderte nur die Kälte.

El-tra ließ sich auf der anderen Seite des Feuers nieder, griff unter seinen Mantel und reichte Skar stumm eine lederne Feldflasche. Skar trank. Das Wasser schmeckte seltsam, und es dauerte eine Weile, bis Skar begriff, daß es kein Quellwasser, sondern geschmolzener Schnee war. Nach den ersten Schlucken spürte er, wie durstig er wirklich war. Zwanzig Stunden Fieber hatten seinem Körper mehr Flüssigkeit entzogen, als er geglaubt hatte. Er leerte die Flasche bis zur Hälfte, setzte sie ab und trank nach einem aufmunternden Nicken des Sumpfmannes auch den Rest. Hinterher war sein Mund so trocken wie zuvor, und als er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, spürte er, daß sie aufgesprungen und vereitert waren.

Er gab El-tra die leere Flasche zurück, griff nach dem Braten, der in dünnen Streifen an einem Stock über dem Feuer hing, und begann vorsichtig zu essen. Sein Magen revoltierte schon nach dem ersten Bissen; Übelkeit stieg in dünnen, salzigen Linien in ihm auf, aber er zwang sich, weiterzuessen.

»Tantor?« fragte er mit einer Kopfbewegung auf das Fleisch. El-tra verneinte. »Mein Bruder war in den Bergen«, sagte er, »an der Stelle, die Tantor dir bezeichnet hat. Wir fanden einen Beutel voller Salben und Medizin und etwas Feuerholz. Keine Pferde.« Skar sah verwirrt auf. Er hatte das Wiehern eines Pferdes gehört, und selbst jetzt glaubte er von Zeit zu Zeit trotz des monotonen Heulens des Sturmes ein leises Schnauben und Schaben zu hören; Pferdehufe, die über Gestein schrammten.

»Vela hat sie zurückgelassen«, sagte El-tra, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Die Pferde ihrer Krieger. Sie hat sie auseinandergetrieben, aber wir konnten sie wieder einfangen.«

Vela. Der Klang dieses Namens löste irgend etwas in ihm aus, aber er wußte nicht, was.

»Wir haben eines der Tiere geschlachtet«, fuhr El-tra fort. »Sein Fleisch wird reichen, bis wir bewohntes Gebiet finden.« Skar beugte sich vor, griff nach einer weiteren Bratenscheibe und biß hinein. Allmählich begann er den Geschmack zu spüren. Seine Sinne erwachten nach und nach, aber ein Teil seines Denkens war noch immer verschleiert. Vielleicht nahm er deshalb alles so ruhig hin - er erinnerte sich an jede Einzelheit, die geschehen war, aber es war, als wären es nicht seine Erinnerungen, sondern die eines Fremden; Bilder, die irgendwo in seinem Gedächtnis waren, ohne daß er wußte, wie sie dorthin gekommen waren, und die ihn nichts angingen.

»Wie geht es Gowenna?« fragte er noch einmal. Auch seine Stimme begann sich zu normalisieren, wenngleich sie ihm noch immer fremd erschien: heiser und zusätzlich verzerrt durch die hallenden Echos von den mit Glas überzogenen Kraterwänden. »Sie wird leben«, antwortete El-tra. »Aber sie wird nicht mehr die gleiche sein, die sie war.«

El-tras Worte hätten Skar erschrecken müssen, aber sie taten es nicht. Noch immer erschien ihm alles unwirklich. Szenen eines Traumes. Doch er war nicht mehr der, der er gewesen war. El-tra stand auf, verschwand lautlos in der Dunkelheit und kam nach wenigen Augenblicken zurück. In seiner Hand blitzte ein schlankes, silbernes Schwert. Er setzte sich, beugte sich vor, ohne auf die züngelnden Flammen zu achten, die an seinem Mantel leckten, und reichte Skar das Tschekal. Skar nahm die Waffe mit gemischten Gefühlen entgegen.

Es war sein Schwert, und obwohl es das zweite Mal war, daß er diesen Gedanken dachte, traf ihn die Erkenntnis mit der gleichen grausamen Wucht wie beim ersten Mal. Es war seine Waffe, nicht irgendein Schwert, sondern ein Einzelstück, zu dem es auf ganz Enwor keinen passenden Gegenpart gab, so unverwechselbar wie er selbst. Der Rat der Dreizehn hatte es für ihn gefertigt und ihm gegeben, das Zeichen seiner Würde als Satai, verliehen in einer Zeremonie, die zu lange zurücklag, als daß die Zeit, die seither vergangen war, noch mehr als ein abstrakter Begriff hätte sein können. Es war kein Stück toten, gehämmerten Metalls, wie die Waffen, die Gowenna und die Sumpfmänner an ihren Seiten trugen, sondern ein Ding mit einer Persönlichkeit und einem Charakter. Er dachte an das, was Gowenna über das Schwert gesagt hatte, daß es nichts als ein Ausdruck übersteigerter Männlichkeit, eine Art Ersatzgott sein sollte, aber das stimmte nicht. Die Waffe gehörte zu ihm, und die dünnen, silbernen Linien der Gravur auf ihrer Klinge waren ihm so vertraut wie die Linien in seinem Gesicht, der verschlungene fünfzackige Stern auf ihrem Griff war so wenig von ihm wegzudenken wie die Narbe auf seiner Wange. »Warum wehrst du dich dagegen?« fragte El-tra plötzlich. Skar sah auf. Der Sturm trug Schnee in dünnen, wirbelnden Schleiern über den Krater, und eine einzelne Flocke löste sich aus seinem brüllenden Griff und sank lautlos auf die Klinge des Tschekal herab, als hätte sie im letzten Moment ihren Kurs gewechselt, um den züngelnden Flammen, die darunter auf sie warteten, zu entgehen. Skar hob die Hand, um sie fortzuwischen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern legte die Klinge behutsam neben sich auf den Boden, weit genug vom Feuer entfernt, daß seine Hitze die Schneeflocke nicht erreichen konnte. »Wogegen?« fragte er nach einer Weile. Unnötig, ein dummes Spiel mit Worten, um das, was er im Grunde längst wußte, noch einmal hinauszuzögern, und sei es nur um wenige Sekunden. El-tra lächelte. Er sah es nicht, aber er spürte es durch die wirbelnden Schleier unter seiner Kapuze hindurch.

»Gegen das, was diese Klinge bedeutet«, sagte der Sumpfmann geduldig. »Del.«

Skar zuckte beim Klang des Namens sichtlich zusammen. Für einen winzigen Moment erschien das Bild des hünenhaften, dunkelhaarigen Satai vor seinen Augen, aber nur, um sofort von einer anderen, schrecklicheren Vision abgelöst zu werden. Del mit einem scharzen Visier, gepanzert von schwarzem Leder und an dünnen, unsichtbaren Fäden hängend, deren Bewegungen ein graues Gespenst bestimmte.

Natürlich war Del der schwarze Satai. Er hatte es sofort gewußt, im allerersten Moment, in dem sie sich gegenüberstanden, aber etwas in ihm hatte sich geweigert, dieses Wissen als Wahrheit anzuerkennen. Er hatte den Gedanken von sich geschoben, ihn irgendwo tief in sich vergraben, aber jetzt, als die unmittelbare Gefahr vorüber war, kam er mit Macht zurück.

»Warum wehrt ihr euch gegen das Wissen, betrogen worden zu sein?« gab er statt einer direkten Antwort zurück.

»Wir wurden nicht betrogen, Satai«, antwortete El-tra. »Wir dienen Gowenna, doch wir sind nicht mehr als Werkzeuge. Kannst du dein Schwert betrügen?«

Skar schüttelte den Kopf und griff wieder nach einem Stück Fleisch, diesmal jedoch nicht aus Hunger, sondern allein, um seine Hände zu beschäftigen. »Eine seltsame Philosophie«, murmelte er.

»Nicht seltsamer als die deine, Satai. Versuche nicht, uns zu verstehen. Wir sind hier. Das genügt.«

Skar seufzte. Vielleicht sollte er wirklich nicht versuchen, diese beiden Wesen, die nicht einmal Menschen waren, zu verstehen, aber es irritierte ihn, in Begleitung zweier Männer zu sein, deren Reaktionen er noch nicht einmal zu erraten vermochte.

»Erzähl mir von Gowenna«, bat er nach einer Weile.

El-tra sah auf und blickte an ihm vorbei dorthin, wo Gowenna in der Dunkelheit lag, als müsse er erst mit einem stummen Blick um Erlaubnis fragen. »Es gibt nichts, was du wissen müßtest und nicht bereits weißt«, sagte er schließlich. »Wir sind hier, wir dienen ihr, das ist alles.«

»Und Vela?«

»Sie ist eine Fremde für uns, wie du es warst und wie Del es noch ist.«

Skar entging die Einschränkung in El-tras Worten keineswegs, aber er fragte nicht, was sie zu bedeuten hatte. El-tra würde sowieso - wenn überhaupt - nur mit einem neuen Rätsel antworten. Das kurze Gespräch, das Skar am Vorabend des Kampfes mit ihm - oder seinem Bruder - geführt hatte, war das einzige Zeichen von Vertrauen gewesen, das ihm die Sumpfmänner entgegengebracht hatten, und er spürte, daß der nächste Schritt von ihm ausgehen mußte. Aber er wußte nicht einmal, wie er auszusehen hatte. Schließlich stand er auf und ging - eigentlich ziellos - ein paar Schritte. Die Kälte griff mit dünnen, klammen Fingern nach ihm. Er ging zu der Stelle unter der Felswand zurück, an der er gelegen hatte, hob seinen Mantel auf und schlug ihn sich um die Schultern, aber der Stoff war feucht und atmete selbst Kälte aus. Er sah in dem Himmel, doch der brodelnde Feuerteppich Combats und die Schneewirbel, die der Sturm vor sich her peitschte, machten es ihm unmöglich, die Zeit zu schätzen, die bis zum Sonnenaufgang noch vergehen würde.

Nahe der Stelle, an der der Kampf stattgefunden hatte, gewahrte Skar eine Anzahl flacher länglicher Erhebungen. Die Gräber von Gowennas Kriegern, die hier so sinnlos gestorben waren. Unter einem dieser flachen Hügel lag Arsan, aber Skar konnte nicht erkennen, unter welchem. Nicht, daß es eine Rolle gespielt hätte - Arsans Tod war so überflüssig und grausam gewesen wie der der neun Krieger; nur eine weitere Szene in dem brutalen Spiel, das die Errish mit ihnen spielte. So überflüssig wie der Kampf zwischen Del und ihm.

Skar versuchte vergeblich, sich Klarheit über seine eigenen Gefühle zu verschaffen. Es war nicht das erste Mal, daß er auf einem Schlachtfeld erwachte, aber diesmal verspürte er weder Triumph noch die Resignation, die sich nach Sieg oder Niederlage einstellten. Es war noch nicht vorbei. Sie hatten eine Schlacht verloren, aber das bedeutete nichts. Gar nichts.

»Wann brechen wir auf?« fragte er El-tra. Der Schattenmann war ihm gefolgt, ein dunkler Doppelgänger, der immer einen Schritt hinter und neben ihm blieb.

»Das liegt bei dir, Satai.«

»Bei mir?« Skar sah den Sumpfmann einen Herzschlag lang überrascht an und lachte dann. Doch es klang bitter. »Vielen Dank, daß du mich wieder zum Anführer ernannt hast, El-tra, aber die Frage ist wohl weniger, was ich will, sondern was Gowenna zuzumuten ist.«

El-tra winkte ab. »Sie ist stärker, als du glaubst, Skar«, sagte er. »Und ich schwächer, als ich glaube, ich weiß«, knurrte Skar übellaunig. Seine Unsicherheit machte sich schlagartig in Zorn und Mißmut Luft. »Aber ich kann auch mit Fieber reiten.«

»Es geht nicht darum, was Gowenna kann, Skar«, sagte El-tra. Er sprach leise, wohl, damit Gowenna, deren Lager kaum zehn Meter entfernt war, seine Worte nicht verstand. Skar trat deshalb einen Schritt näher. »Sie ist schwerverletzt, das stimmt. Aber wenn wir warten wollen, bis sie sich wirklich erholt hat, müssen wir eine Woche hierbleiben, wenn nicht noch länger. Und das können wir nicht.«

Skar sah nach Westen. Die schneegekrönten Gipfel der Schattenberge hoben sich wie die Zinnen einer meilenhohen Festungsmauer über den Horizont: weiße Giganten mit glitzernden eisigen Diademen, deren Flanken im Widerschein der brennenden Stadt rot und orange loderten, als glühten sie unter einem unseligen inneren Feuer. Der Gedanke, daß sie selbst vor wenigen Tagen erst diese Berge überstiegen haben sollten, erschien ihm mit einem Male lächerlich.

»Vielleicht finden wir irgendwo dort oben eine Höhle oder eine Schlucht, in der wir so lange warten können«, murmelte er. Extra schüttelte erneut den Kopf. »Wir werden nicht durch die Berge ziehen, Skar. Gowenna ist nicht in der Lage, den Rückweg dort entlang durchzustehen. Und du auch nicht«, fügte er nach einer kaum merklichen Pause hinzu. »Ihr habt den Weg hierher kaum geschafft, und da wart ihr ausgeruht und im Vollbesitz eurer Kräfte. Außerdem ist der Winter dort oben bereits hereingebrochen. Es wird jeden Tag kälter.«

Skar schwieg. El-tra war kein Mann, mit dem man reden konnte, nur um des Redens willen, und es gab nicht viel Sachliches, was Skar gegen seine Argumentation hätte vorbringen können. Es gab nur eine einzige Alternative - aber allein der Gedanke daran ließ Skar frösteln.

»Die Ebenen«, sagte er leise.

El-tra nickte. »Wir wissen nicht, welche Gefahren auf uns warten«, sagte er. »Aber wir wissen, welche Gefahren uns in den Bergen erwarten würden. Keine, mit denen wir fertig werden könnten. Es sind zehn Tagesmärsche bis über den Paß, vielleicht fünfzehn.«

»Und« - Skar deutete mit einer Kopfbewegung nach Süden - »dort entlang?«

El-tra überlegte einen Moment. »Zwei Wochen, vielleicht drei«, antwortete er. »Vielleicht mehr, vielleicht weniger - es hat nicht viel Sinn, Vermutungen anzustellen, wenn wir nicht wissen, was hinter der nächsten Erhebung auf uns wartet.«

Skar sah den Sumpfmann scharf an. »Weißt du es wirklich nicht?« fragte er. »Oder willst du es nicht sagen? Dein Volk lebt seit Jahrtausenden am Rand der Ebenen - ihr müßt mehr darüber wissen.«

Der Sumpfmann gab ein leises, glucksendes Lachen von sich, es war ein Geräusch, das Skar an platzende Gasblasen und brodelnden Sumpf erinnerte und Bilder in ihm aufsteigen ließ, die er nie selbst gesehen hatte. Irgend etwas, dachte er bestürzt, ist im Inneren des Tempels in Combat mit mir geschehen.

Er hatte nicht nur gegeben, sondern auch empfangen. Vielleicht mehr, als er jetzt schon zu begreifen imstande war.

»Wir wissen ein wenig über die Ebenen«, gestand El-tra schließlich. Sein Umhang bewegte sich raschelnd, als er mit dem Arm eine weit ausholende und doch knappe Geste nach Süden machte, und die Schatten unter seiner Kapuze schienen für einen Atemzug zu selbständigem huschendem Leben zu erwachen. »Sicher mehr als ihr«, fuhr er fort, »doch nicht soviel, wie du glaubst.«

»Aber die Sümpfe von Cosh grenzen an die Ebenen«, widersprach Skar.

»Und? Welchen Grund sollte es für uns geben, sie zu erforschen? Es gibt nichts Lebendes auf den Ebenen, nichts, was uns gefährlich werden oder von Vorteil sein könnte. Und der südliche Rand Tuans mag anders sein als dieser Teil hier oder sein Inneres. Wir werden es herausfinden. Fühlst du dich stark genug, bei Morgengrauen loszureiten?«

Skar lauschte einen Moment in sich hinein. Sein Herz schlug schnell und hart. Er fühlte sich schwach und müde, und in jeder einzelnen Zelle seines Körpers schien ein winziges, verzehrendes Feuer zu brennen. Aber was El-tra über Gowenna gesagt hatte, traf auch auf ihn zu, vielleicht sogar in noch stärkerem Maße. Das Gift war noch lange nicht aus seinem Körper heraus; wollte er warten, bis er die Wirkung des Rauschmittels vollends überstanden hatte, würden sie eine Woche oder länger hierbleiben müssen. Er antwortete nicht, aber El-tra deutete sein Schweigen als Zustimmung und wies mit einer Kopfbewegung zum Kraterrand, dorthin, wo sie diesen winzigen künstlichen Talkessel vor zwei Tagen betreten hatten. »Mein Bruder und ich werden die Pferde satteln und alles zusammensuchen, was wir an Vorräten mitnehmen.« Er ging, und Skar blieb für einen Moment allein zurück und sah ihm nach, bis er mit der Nacht verschmolzen war und nur noch die leisen Geräusche seines Hantierens davon kündeten, daß es ihn überhaupt gab. Zögernd drehte er sich herum, sah - wieder - in die Richtung, in der sich der brodelnde Feuerpilz Combats über der Ebene erhob, und senkte schließlich den Blick. Alles kam ihm mit einem Male unwirklich vor: diese Stadt dort drüben, die tote, verbrannte Ebene, die ich wie ein zerschrundetes Leichentuch rings um sie ausbreitete, der Himmel, in den Flammen ein zuckendes Muster gruben, ihre Lage. Er bewegte sich unschlüssig und ging dann zögernd zu Gowenna hinüber. Einer der Schatten neben ihr bewegte sich, als er näher kam, stand auf und wandte ihm für Sekunden ein nebelverhangenes Gesicht zu, ehe er ging. Diesmal schien er nichts dagegen zu haben, daß Skar mit Gowenna sprach.

Skar blieb für die Dauer von zwei, drei Atemzügen reglos stehen und sah auf Gowenna hinunter. Sie lag - Zufall oder Absicht - so, daß ihr Gesicht im schwarzen Schlagschatten der Kraterwand verborgen war, aber er fühlte, daß sie ihn ansah, irgend etwas, eine bestimmte Reaktion, ein Wort, von ihm erwartete. Vielleicht wäre dies der Moment gewesen, ihr zu verzeihen, ihr zu sagen, wie dumm und albern sein und ihr kleines Ringen um Vorherrschaft und Anerkennung gewesen war.

Aber er tat es nicht. Statt dessen hockte er sich mit angezogenen Knien neben sie, zog den Mantel enger um die Schultern und sah dorthin, wo er ihr Gesicht vermutete. Ein verirrter Lichtstrahl schimmerte auf dem frischen Narbengewebe auf ihren Zügen, und für einen Moment glaubte er einen schwachen Geruch wie von fauligem, verbranntem Fleisch wahrzunehmen.

»El-tra hat dir gesagt, daß wir bei Tagesanbruch aufbrechen?« meinte Gowenna plötzlich.

Skar mußte sich mit aller Macht beherrschen, um seinen Schrecken nicht zu zeigen, als er ihre Stimme hörte. Sie klang kaum mehr menschlich: ein schrilles, häßliches Krächzen, aus dem er die Worte nur mit Mühe heraushören konnte.

»Ja«, sagte er hastig. »Fühlst du dich kräftig genug dazu?« Statt einer Antwort zog Gowenna eine Hand unter den Decken, in die sie eingehüllt war, hervor und deutete zum anderen Ende des Kraters. »Bring mir... einen Span aus dem Feuer, Skar«, bat sie. Skar zögerte einen Moment, stand aber dann auf und kam mit einem brennenden Zweig zurück. Gowenna stemmte sich mühsam hoch, nahm ihm die improvisierte Fackel aus der Hand und hielt sie dicht vor ihr Gesicht. Die winzige gelbe Flamme warf zuckende Lichtreflexe über die Felswand und ihr Haar und das geronnene Etwas, das einmal ihr Antlitz gewesen war. Skar fuhr zusammen, aber diesmal zwang er sich, sie anzusehen, wortlos und mit steinernem Gesicht, so lange, bis sie selbst den Zweig senkte und die Dunkelheit wie eine schwarze Welle wieder über ihren Oberkörper flutete.

»Soviel, um deine Frage zu beantworten«, sagte sie. »Wenn man damit reiten kann, so kann ich es.«

Er wollte etwas darauf erwidern, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Jetzt, zwei Tage alt, sah die Wunde auf ihrem Gesicht beinahe schlimmer aus als in dem Moment, in dem er sie das erste Mal gesehen hatte - eine schwarzbraune, pockennarbige Maske aus geronnenem Blut und verbranntem Fleisch, die sich wie ein bizarrer Aussatz auf ihr Antlitz gelegt hatte. Skar empfand es als eine grausame Ironie des Schicksals, daß sie jetzt, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, in dem sie bereit war, etwas für sich selbst zu tun und ihr wahres Gesicht zu zeigen, nicht mehr dazu fähig sein würde. Gowenna war nie wirklich sie selbst gewesen. Sie hatte immer nur Rollen gespielt, war von einer Maske in die andere geschlüpft und hatte vielleicht nicht einmal wirklich gelebt. Jetzt, wo sie es zum ersten Mal wollte, konnte sie es nicht mehr. Ihr zerstörtes Gesicht würde sie nun dazu zwingen, das zu sein, was sie bisher freiwillig gewesen war: eine Außenseiterin. Sie war - nun auch sichtbar - anders, ausgestoßen, eine Aussätzige, der man allenfalls Mitleid und versteckte, schuldbewußte Ablehnung entgegenbringen würde, nur nicht das, was sie gerade jetzt am dringendsten brauchte - Vertrauen. Vertrauen und, wenn schon nicht Liebe, so doch Freundschaft und Offenheit.

Und dennoch - in dem winzigen Moment, in dem er ihr Gesicht im Schein der Flammen gesehen hatte, hatte ihr Anblick etwas seltsam Warmes, Vertrautes gehabt. Für einen kurzen, ganz kurzen Augenblick hatte er in ihren Zügen eine Schönheit entdeckt, die vorher nicht dagewesen war, etwas Sanftes und Weiches und Mädchenhaftes, das vielleicht jahrelang tief in ihr geschlummert hatte und erst jetzt hervorbrach.

Aber dann hob sie den brennenden Zweig erneut in die Höhe, und Skar blickte wieder in die zerstörte Kraterlandschaft, die früher einmal das Gesicht einer schöner Frau gewesen war. Die Illusion zerplatzte. Er begriff, daß es nur Mitleid gewesen war. »Du ... hast meine Frage noch nicht beantwortet«, sagte sie stockend.

»Was für eine Frage?«

»Die Frage, ob du in meine Dienste trittst, Skar. Du hattest einen Tag und zwei Nächte Zeit, darüber nachzudenken.«

Skar lächelte. »Ich dachte, du hättest es vergessen«, sagte er. »Vergessen?« Gowenna lachte; ein Laut, der grausam und eher wie ein Schmerzensschrei klang. »Es war mein Ernst, Skar. Ich brauche dich.«

»Du brauchst mich?« wiederholte Skar ungläubig. »Wozu? Als Schwertführer? Als Werkzeug, um deine Rache an Vela zu vollziehen? Kaum.« Er schüttelte den Kopf, seufzte und schwieg sekundenlang. Es war zu früh, dachte er. Sie waren beide mehr tot als lebendig und hatten, was geschehen war, noch lange nicht verarbeitet.

»Vielleicht hast du recht«, sagte er plötzlich zu seiner eigenen Überraschung. »Vielleicht suche ich Vela so wie du, und vielleicht werde ich den Rest meines Lebens damit zubringen, sie zu verfolgen. Doch wenn, dann aus anderen Gründen als du.«

»Sei kein Narr, Skar. Glaubst du wirklich, du würdest sie ohne meine Hilfe auch nur finden? Und was deine Gründe angeht - sie hat dich erniedrigt, aber du bist nicht der Mann, der sein Leben aufs Spiel setzt, um eine Schmach zu rächen. Du willst Del befreien. Du weißt jetzt, daß er noch lebt.«

Wieder spürte Skar einen schmerzhaften, raschen Stich, als Gowenna Dels Namen erwähnte, aber diesmal gelang es ihm nicht, den Gedanken zu verdrängen. Es war zu lange her, daß er an den jungen Satai gedacht hatte, und das Wissen, ihm vor nicht einmal achtundvierzig Stunden im Kampf gegenübergestanden zu haben - das Wissen, daß er ihn hatte töten wollen - saß wie ein bohrender Parasit in seiner Seele. Gowenna hatte unrecht. Vela hatte ihn nicht erniedrigt; das konnte sie nicht. Niemand konnte einen Mann, der wußte, wie wenig Worte wie Ehre und Ansehen in einer Welt wie Enwor galten, erniedrigen. Sie hatte etwas anderes getan, etwas, das schlimmer war. Sie hatte ihn verkrüppelt, ihm den Glauben an das letzte Ideal, das ihm das Leben gelassen hatte, genommen, hatte ihn dazu gebracht, das Ungeheuer, das in ihm schlummerte, gegen den einzigen Menschen zu hetzen, der ihm jemals wirklich etwas bedeutet hatte.

»Ich glaube nicht, daß du meinen Preis bezahlen kannst«, sagte er schließlich. »Wir Satai sind teuer, weißt du?«

»Dann schließen wir einen Handel - du bringst mich zu ihr, und ich helfe dir, Del zu befreien.«

Skar schüttelte den Kopf. »Es geht nicht mehr darum, Gowenna«, sagte er sanft. »Vertrauen. Das Wort heißt Vertrauen.« Gowenna ließ den brennenden Zweig sinken. Die Flamme erlosch mit leisem Zischen, und für einen Moment wurde es still, ganz still, als hätte selbst der unermüdlich tobende Sturm für einen Augenblick innegehalten. Die Dunkelheit schien sich um sie herum zu verdichten; ein Mantel aus Schweigen und Schwärze, der sie zu ersticken drohte. Skar spürte, daß seine Worte sie getroffen, schmerzhaft getroffen hatten, härter und vielleicht brutaler als die Schläge, die er ihr versetzt hatte. Sie hatte all das, was er mit diesen fünf Worten ausgedrückt hatte, bereits selbst begriffen. Sie hatte zwei Tage Zeit gehabt, zu überlegen, und was immer er zu ihr sagen würde - sie war intelligent genug, es schon im voraus zu wissen. Er hatte nur das Messer in der Wunde herumgedreht. »Gut«, murmelte sie nach einer Weile. »Was willst du wissen?« Skar schüttelte erneut den Kopf. »Eine Menge, Gowenna, aber nicht auf diesem Weg. Ich will dir nicht weh tun, aber -«

»Du brauchst keine Rücksicht auf mich zu nehmen, Satai«, unterbrach ihn Gowenna. Ihre Stimme klang plötzlich verändert: ruhiger, noch immer schrill und mühsam, aber auch gleichzeitig von einer Entschlossenheit erfüllt, die ihn aufhorchen ließ. »Ich weiß, was du sagen willst. Ich habe dich belogen und getäuscht, so wie es Vela mit mir getan hat, und ich habe so wenig Recht, Vertrauen von dir zu verlangen, wie sie es umgekehrt von mir hätte. Ich kann dich nur bitten. Frage mich, und ich werde dir antworten.«

»Du begreifst noch immer nicht, Gowenna«, erwiderte Skar. »Was du mir anbietest, ist kein Vertrauen. Du vertraust mir, solange du es mußt, nicht? Im Moment brauchst du mich, vielleicht auch nur mein Schwert.«

Gowenna sog scharf die Luft ein und setzte dazu an, etwas zu erwidern, aber Skar sprach schnell und mit erhobener Stimme weiter: »Ich weiß nichts von dir, Gowenna, gar nichts. Ich weiß nicht, wer du bist und wo du herkommst, ich weiß nichts über deine beiden Begleiter, ich weiß nichts über Vela. Ich weiß nicht einmal, was dieser verdammte Stein in Wirklichkeit ist.«

»Aber ich bin bereit, dir diese Fragen zu beantworten!«

»Jetzt, ja. Jetzt, wo du mich brauchst. Aber das ist es nicht, was ich wollte. Du hast mich nicht verstanden, Gowenna. Der Preis eines Satai ist hoch, doch er ist nicht unbedingt in Gold zu messen. Was ich verlange, ist Ehrlichkeit.«

»Und wie hoch«, fragte Gowenna nach einer Weile, »ist der Preis einer Errish, Skar?«

Skar war für einen Moment verwirrt. »Wie ... meinst du das?«

»So wie ich es sage, Satai. Wie hoch ist der Preis einer Errish? Du hast mich einmal als schwertschwingende Amazone bezeichnet, und ich habe dich in dem Glauben gelassen, wirklich nicht mehr zu sein, aber das stimmt nicht.«

»Du -«

»Ich habe niemals die Ehrenweihe aus der Hand der Großen Mutter empfangen, wenn es das ist, was du wissen willst«, fuhr Gowenna fort. »Aber das macht keinen Unterschied. Nicht wirklich. Ich weiß alles, was auch Vela weiß, alles, was eine Errish weiß, und vielleicht mehr. Wie würdest du einen Mann bezeichnen, der zehn Jahre an deiner Seite geritten ist und dem du alles beigebracht hast, was du weißt, Skar? Wie würdest du«, fügte sie hinzu, als sie Skars Zögern bemerkte, »Del bezeichnen, wäre er, wie er ist, ohne jemals der Kaste der Satai beigetreten zu sein? Er wäre noch immer Satai.«

»Nun«, sagte Skar unsicher, »äußerlich sicher nicht, aber -«

»Ich rede nicht von Äußerlichkeiten, Skar«, fiel ihm Gowenna ins Wort. »Sieh mich an. Sieh dir mein Gesicht an. Es ist zerstört, und es wird nie wieder so werden, wie es war. Bin ich deshalb weniger Frau als zuvor?«

Skar schwieg betroffen. Die Art, in der Gowenna sprach, war unfair, aber vielleicht hatte sie keine andere Wahl mehr, als mit allen Waffen zu kämpfen, die ihr geblieben waren. Er fühlte sich in immer stärkerem Maße in die Enge getrieben, verunsichert. Er begann zu begreifen, worauf Gowenna hinauswollte, aber es war so wie bei seinem ersten Gespräch mit Vela, damals in Ikne. Er wußte genau, was Gowenna sagen würde, ahnte jedes Wort im voraus, aber er war trotzdem wehrlos dagegen. Es war ein Kampf mit Waffen, die er nicht beherrschte. Ein schwaches Gefühl von Zorn glomm in ihm auf, erlosch aber sofort wieder.

»Ich verlange kein Vertrauen von dir, Skar«, fuhr Gowenna fort. »Ich bin nicht in der Lage, überhaupt etwas zu verlangen. Ich werde dir alles sagen, was du wissen willst, und du selbst kannst entscheiden, was du mit diesem Wissen anfängst.«

Wäre er nicht so erschöpft gewesen, hätte er gelacht. Es war ein so billiger psychologischer Trick, und doch ein wirkungsvoller. Sie bot ihm nichts anderes an, als sich völlig in seine Hand zu geben - und setzte ihn dadurch in ihre Schuld. Er hätte aufstehen und weggehen können, aber selbst dann wäre ihr Angebot bestehen geblieben, und sie hätte - auch ohne Gegenleistung - erreicht, was sie wollte.

»Dann erzähl mir von dir«, sagte er leise. »Oder von Vela.« Er rutschte in eine bequemere Stellung und sah dorthin zurück, wo die beiden El-tra verschwunden waren. Von den Sumpfleuten war keine Spur mehr zu sehen, aber er war sicher, daß zumindest einer von ihnen in seiner unmittelbaren Nähe war und über Gowenna wachte.

»Ihre und meine Geschichte sind gleich«, murmelte Gowenna. »Gleich und doch verschieden. Sie sind lang, Skar, aber das, was dich interessiert, ist rasch erzählt.« Sie bewegte sich leise, versuchte in eine halb sitzende Position zu gelangen und sank mit einem unterdrückten Schmerzenslaut wieder zurück. Skar beugte sich hastig vor und half ihr, sich so zu setzen, daß ihr Oberkörper wie auf einem steinernen Kissen gegen die Felswand gelehnt war. Seine Finger berührten dabei das verätzte Gewebe an ihrem Hals. Gowenna zuckte unter der Berührung schmerzhaft zusammen, und Skar unterdrückte im letzten Moment den Impuls, die Hand angeekelt zurückzuziehen, als er das feuchte, zu einer hornigen, harten Masse zusammengebrannte Fleisch fühlte. Wieder spürte er Mitleid, und er begriff, daß er den Kampf eigentlich jetzt schon verloren hatte.

»Danke, Satai«, murmelte Gowenna. Einen Moment lang blieb sie reglos sitzen, wohl, um sich von der Anstrengung zu erholen und neue Kräfte zu sammeln, dann begann sie mit leiser Stimme und immer wieder von großen Pausen, in denen sie neue Energie schöpfte, unterbrochen, zu erzählen.

»Vela und ich sind seit mehr als elf Jahren zusammen, so dicht, wie du und Del es gewesen sein müssen.«

»Ihr stammt aus dem gleichen Kloster?«

Gowenna verneinte. »Ich war nie in Elay, Skar«, sagte sie. »Die wenigen Male, die Vela dort war, ließ sie mich bei den Sumpfleuten in Cosh zurück. Ich habe niemals ein Kloster von innen gesehen. Ich lebte in einem Bergdorf im Norden, bis ich vierzehn war, ein Bauernmädchen unter vielen, ohne Zukunft und mit einer Menge Träume, von denen ich genau wußte, daß sie niemals in Erfüllung gehen würden.« Wieder schwieg sie, lange, drei, vier, vielleicht fünf Minuten, aber es war ein Schweigen ganz besonderer Art, und Skar spürte, wie ihre Gedanken, ihren Worten erst in einigem Abstand folgend, zurück in die Vergangenheit glitten, in eine Zeit, die längst vergangen war und vielleicht in der Form, in der sie in ihrer Erinnerung weiterlebte, niemals stattgefunden hatte. Und so klang ihre Stimme auch verändert, als sie nach einer Weile weitersprach, verändert auf schwer zu beschreibende Art; die Stimme klang wie die eines Menschen, der über die Jugend erzählt, die er sich im nachhinein erträumte.

»Wir waren arm, Skar. Bitter arm.« Sie wandte den Kopf und sah zu den zehn Gräbern hinüber, die nebeneinander an der Südwand des Kraters lagen. »Du hast mich gefragt, warum ich Arsan mitgenommen habe, Skar. Die Antwort ist einfach, aber du hättest sie damals nicht verstanden. Er hatte keine besonderen Talente, nichts, was wir wirklich gebraucht hätten, aber er war arm. Ich konnte ihn verstehen. Ich weiß, was es heißt, zu hungern, nicht für einen Tag oder zwei, sondern wochen-, monate-, jahrelang. Ich habe ihn mitgenommen, weil er mir leid tat. Und weil er mich an mich selbst erinnerte. An mich und die Menschen, bei denen ich aufgewachsen bin.«

»Und weil ihr ein Opfer brauchtet«, sagte Skar hart.

Gowenna nickte. »Ich glaube, ja. Sie muß gewußt haben, daß Combat seinen Preis fordern würde. Vielleicht sind er und Beral und Nol nur mitgekommen, um zu sterben. Aber das habe ich damals noch nicht gewußt. Vielleicht sind wir alle nur aus diesem Grund mitgekommen. Ich glaube fast, du hättest den Stein auch allein holen können. Aber ich wollte von Vela erzählen.« Sie beugte sich zur Seite, hantierte ungeschickt an ihrer Wasserflasche und versuchte zu trinken. Skar half ihr.

»Es war während der großen Dürre vor elf Jahren«, fuhr sie dann fort. »Der ersten großen Dürre. Erinnerst du dich?« Skar nickte. Die Trockenheit, unter der Enwor seit Jahren litt, war nur eine unter zahllosen Hitzewellen, die in immer kürzeren Abständen über die ausgelaugte Welt herfielen. Nicht alles, was Vela ihm erzählt hatte, war gelogen gewesen.

»Die Menschen, bei denen ich lebte, waren einfache Menschen, Bauern, die noch an die Macht der Götter glaubten und daran, daß man sie mit einem Gebet wohlgesonnen stimmen könne. Und wir haben gebetet - immer und immer wieder; gebetet und geopfert, von dem wenigen, das wir hatten, noch einen Teil den Göttern gegeben. Aber es nutzte nichts - das Land verdorrte weiter, und die Ernte verbrannte vor unseren Augen auf den Feldern. Eines Tages erreichte uns die Kunde von einer Errish, die in den Bergen in der Nähe unseres Dorfes gesehen worden war. Mein Vater rief sie um Hilfe, und sie kam.«

»Vela.«

»Das war ihr Name, ja. Sie kam mit ihren beiden Drachen in unser Dorf, und sie erbot sich, uns zu helfen.«

Skar runzelte zweifelnd die Stirn. »Eine Errish, die Regen macht?« fragte er ungläubig.

Gowenna lächelte. »Heute würde ich dieselbe Frage stellen, Skar, aber ich war ein Kind, damals, vergiß das nicht. Und die Menschen, bei denen ich lebte, waren einfache Menschen. Sie fürchteten die Macht der Errish, aber sie hatten auch großen Respekt davor. Sie glaubten an sie. Wenn du in einer verzweifelten Lage bist, dann tust du alles. Aber der Preis, den sie verlangte, war hoch. Sie verlangte die Tochter des Stammesführers.«

Wieder schwieg sie für einen Moment, diesmal nicht, um neue Kraft zu sammeln, sondern um ihm Gelegenheit zu geben, ihre Worte richtig zu verarbeiten, und Skar spürte, wie das Schweigen für einen Moment fast greifbar wurde. Nie war ihm die Kluft, die zwischen ihnen lag, deutlicher zu Bewußtsein gekommen als jetzt. Eigentlich war es das erste Mal, daß er wirklich begriff, daß Gowenna ein lebender, fühlender Mensch war, keine gesichtslose Figur in einem Spiel.

»Dieses Kind warst du«, sagte er.

Gowenna nickte.

»Und seither wart ihr zusammen?«

»Sie brachte mich aus dem Dorf, aber wir kamen nie nach Elay«, fuhr Gowenna fort. Ihre Stimme wurde jetzt zunehmend leiser, und Skar mußte sich anstrengen, um ihre Worte überhaupt noch zu verstehen. »Schon in der ersten Nacht stießen wir auf eine Horde Quorrl-Banditen. Natürlich griffen sie uns nicht an - nicht einmal die Quorrl würden es wagen, Hand an eine Errish zu legen.«

Skar schwieg dazu, aber Gowenna mußte den stummen Zweifel in seinem Blick bemerkt haben.

»Vielleicht war es auch nur die Furcht vor ihren Drachen und den Waffen einer Errish, die sie vor einem Angriff zurückschrecken ließen«, schränkte sie ein. »Jedenfalls ließen sie uns ziehen - Vela, mich und einen Mann namens Gord, den sie als Gehilfen bei sich hatte. Aber Vela ahnte, daß die Quorrl unser Dorf entdecken und angreifen würden. Sie schickte Gord, mich und einen ihrer beiden Drachen allein auf den Weg und ritt zurück, um die Dorfbewohner zu warnen.«

»Und was geschah dann?« fragte Skar, als Gowenna nicht weitersprach.

»Ich weiß es nicht«, murmelte sie. »Das heißt - es ist nicht schwer, sich zusammenzureimen, was passierte, aber was wirklich geschah - warum sie es getan hat -, weiß ich bis heute nicht. Sie hat niemals darüber gesprochen. Gord und ich ritten einen halben Tag weiter nach Norden, doch dann kehrten wir um und kamen gegen ihren Befehl zurück zum Dorf. Wir fanden es zerstört vor. Niedergebrannt und geschleift. Die meisten Bewohner waren tot, und die, die den Angriff überlebt hatten, waren geflohen.«

»Und Vela?«

»Sie lag schwer verwundet neben ihrem Drachen. Sie hat sich geopfert, Skar, sich und ihre Feuerechse. Den Spuren des Kampfes nach zu schließen, muß sie die Quorrl praktisch allein vertrieben haben. Aber sie zahlte einen hohen Preis dafür. Ihr Drache starb, und sie selbst lag wochenlang auf Leben und Tod darnieder. Es gelang Gord, sie zu retten, aber er konnte nur die Wunden in ihrem Körper heilen.« Ihre Stimme bebte. Sie sprach jetzt immer schneller, als fühle sie, daß ihre Kräfte sie in wenigen Augenblicken verlassen und sie nicht mehr die Zeit haben würde, ihre Geschichte zu Ende zu bringen, aber Skar hörte den Vorwurf, die unausgesprochene Anklage in ihren Worten, trotzdem. Die Leute, für die Vela gekämpft hatte, hatten sie zum Dank sterbend und allein zurückgelassen; sie hatten nicht einmal den Versuch unternommen, ihr zu helfen.

»Es wurde Frühjahr, ehe sie wieder so weit bei Kräften war, daß wir den Rückweg nach Elay antreten konnten«, fuhr Gowenna fort. »Ich blieb zusammen mit Gord bei den Sumpfleuten in Cosh zurück, und es verging ein weiteres halbes Jahr, ehe Vela wiederkam. Allein. Ohne ihren Drachen. Weißt du, was mit einer Errish geschieht, die ihr Tier verliert?«

»Sie wird ausgestoßen«, murmelte Skar.

Gowenna lachte, aber vielleicht war es auch ein unterdrückter Aufschrei der Qual. »Ausgestoßen?« Sie spie das Wort regelrecht aus. »Ausgestoßen - wie leicht sich das spricht! Aber es bedeutet mehr, als aus einer Kaste verstoßen zu werden, Skar. Mehr als du oder ich oder irgendein anderer jemals verstehen kann. Es ist schlimmer als der Tod. Aber sie gab nicht auf. Sie ist stark, Skar. Sie ist es heute, und sie war es damals schon. Sie blieb ein Jahr in Cosh, lernte von den Sumpfleuten und unterrichtete mich. Dann ging sie wieder, und diesmal blieb sie ein Jahr. Als sie zurückkam, hatte sie einen Staubdrachen gezähmt - etwas, das noch keinem vor ihr gelungen war. Einen wilden Staubdrachen, begreifst du?« Skar nickte, aber er begriff nicht wirklich. Er konnte es nicht, und wahrscheinlich konnte es niemand. Bis vor wenigen Tagen hatte er nicht einmal gewußt, daß es so etwas wie einen Staubdrachen wirklich gab.

»Sie brachte das Tier nach Elay«, berichtete Gowenna mit letzter Kraft. »Sie bot es der Großen Mutter als Geschenk an. Nicht als Preis, um wieder in den Orden aufgenommen zu werden, sondern lediglich als Geschenk, ohne auch nur im geheimen auf eine Gegenleistung zu hoffen. Alles, was sie wollte, war Anerkennung und vielleicht Vergebung. Weißt du, was sie getan haben, diese ach so ehrwürdigen Frauen? Sie haben sie verjagt, zum zweiten Mal. Sie hatte eine Bestie gezähmt, vor der sich selbst die Zuchtmeister der Errish fürchten, und sie bot dieses Tier und das Wissen, wie man es beherrscht, den Errish als Geschenk an, und sie verjagten sie. So kehrte sie zum zweiten Mal als Ausgestoßene nach Cosh zurück. Diesmal ging ich mit ihr. Ich und die drei Geistbrüder.«

Erneut brach sie ab, und jetzt spürte Skar, daß sie nicht weiterreden würde, daß sie zu erschöpft dazu war, aber auch alles gesagt hatte, was es im Moment zu sagen gab. Ihre Geschichte war noch nicht zu Ende, noch lange nicht, und er hatte längst nicht alles erfahren. Und doch hatte sie ihm mehr, viel mehr erzählt, als er hatte wissen wollen. Einiges, was er geahnt, und vieles, was ihn überrascht hatte. Nichts davon war wirklich wichtig gewesen. Wichtig war das, was sie nicht ausgesprochen, dafür aber um so deutlicher gesagt hatte.

Sie glaubte, Vela zu hassen, aber das stimmte nicht. Im Gegenteil, sie liebte sie noch immer, vielleicht jetzt mehr als zuvor. Nach einer Weile stand er auf und ging, ziellos und nur von dem Wunsch erfüllt, allein zu sein, zu der niedergebrannten Feuerstelle am anderen Ende des Kraters hinüber. Die Flammen waren zu einem Häufchen schwach glimmender Glut geworden und wärmten nicht mehr, und die beiden Bratenscheiben, die noch immer an einem Stock über der Feuerstelle hingen, waren schwarz und verkohlt. Erst jetzt kam ihm richtig zu Bewußtsein, wie lange er neben Gowennas Lager gesessen und ihr zugehört hatte; eine Stunde, vielleicht mehr. Sie hatte sehr langsam gesprochen, aber ihr Bericht hatte ihn so in seinen Bann geschlagen, daß er das Verstreichen der Zeit kaum mehr bemerkt hatte.

Skar kauerte sich im Schutz der Felswand zusammen, zog den Mantel enger um die Schultern und sah nach Osten. Es dämmerte, und am Horizont, weit hinter dem wabernden Feuerpilz Combats, begann sich das erste zaghafte Grau zu zeigen: ein dünner, verlorener Streifen, der von dem brüllenden Feuergiganten davor zur Lächerlichkeit degradiert wurde. Der Wind wurde kälter und verspottete die lodernde Glut, und der Schnee fiel jetzt dichter, selbst hier unten, im Schutz der Felswände. Sicher wäre es vernünftiger gewesen, die wenigen kostbaren Minuten, die ihm noch blieben, zu nutzen, um zu schlafen oder wenigstens auszuruhen, aber Skar wußte, daß dann die Alpträume wiederkommen würden, und er hatte Angst davor. So stand er nach wenigen Augenblicken wieder auf und ging zu den beiden Sumpfleuten.

Der Wind traf ihn mit voller Wucht, als er aus dem Schutz des Kraterwalles heraustrat, aber nicht nur der Wind traf ihn, sondern auch der Gluthauch Combats, der selbst über die große Entfernung hinweg noch deutlich zu spüren war. Hastig vergrub er die Hände unter seinem Mantel und ging mit schnellen Schritten auf die El-tra zu. Sie standen, zusammen mit den Pferden, im Windschutz eines zusammengefallenen Mauerrestes, aber es gab hier nur die Wahl zwischen der klirrenden Kälte des Eissturmes, der vom Gebirge herabfauchte, auf der einen und dem Glutatem der brennenden Stadt auf der anderen Seite. Es gab kein Dazwischen, keinen noch so winzigen Fleck des Ausgleichs, sondern nur Extreme, so wie alles in diesem Teil der Welt extrem zu sein schien, und die eher an Wärme als an Kälte gewöhnten Sumpfmänner hatten sich - wie nicht anders zu erwarten - auf der windabgewandten Seite des Mauerstückes postiert. Skar konnte im unsicheren Licht der heraufziehenden Dämmerung nicht erkennen, was sie taten. Ihre Bewegungen, ohnehin nur schwer zu bestimmen, wurden zu einem huschenden Hin und Her zwischen tanzenden Lichtflecken und flackernden grauen Schatten. Die Pferde waren unruhig. Die Hitze mußte ihrer empfindlichen Haut Schmerzen bereiten, und das unablässige Heulen des Sturmes, für Skar und die anderen schon so zur Gewohnheit geworden, daß sie es kaum mehr bewußt wahrnahmen, schien sie allmählich zur Raserei zu treiben. Die Schattenmänner hatten die schweren Leder- und Stahlpanzer entfernt, in die die Tiere gehüllt gewesen waren, und aus den schwarzen Ungeheuern, denen sie sich vor zwei Tagen gegenübergesehen hatten, waren wieder Pferde geworden. Aber unter den wuchtigen Rüstungen war noch mehr zum Vorschein gekommen: Skar sah mit Schrecken die unzähligen wunden Stellen, die trüb entzündeten Augen und die schnellen, mühsamen Stöße, mit denen der Atem der Tiere ging. Für einen Moment fragte er sich ernsthaft, ob diese Pferde überhaupt noch die Kraft hatten, ein Kind zu tragen, geschweige denn einen ausgewachsenen Mann. Ihre Chancen standen schlechter, als er geglaubt hatte. Er bückte sich, hob einen der massigen schweren Brocken auf, die den Boden so weit er sehen konnte wie scharfkantiger schwarzer Schnee bedeckten, und drehte ihn unschlüssig in den Händen. Der Brocken war heiß, heiß und schwerer, als er hätte sein dürfen, und Skar erkannte, daß es sich nicht, wie er bisher angenommen hatte, um Lava handelte, sondern um geschmolzenes und zu einer krumigen schwarzen Masse zusammengefallenes Metall.

»Du solltest das nicht anfassen«, sagte eine Stimme hinter ihm. Skar schrak so heftig zusammen, daß ihm der Brocken entglitt und auf den Boden zurückfiel. Das Heulen des Sturmes hatte die ohnehin leisen Schritte El-tras verschluckt, und Skar hatte dadurch nicht gemerkt, daß der Sumpfmann hinter ihn getreten war. »Man sagt, dieses Land atme den Tod aus«, fuhr El-tra fort. »Berühre nicht mehr davon, als nötig ist.«

»Was meinst du damit?«

El-tra deutete ein Schulterzucken an; eine Geste, die Skar noch nie an ihm oder einem seiner Brüder beobachtet hatte und die er sich vielleicht nur zulegte, um in Skars Augen menschlicher zu erscheinen - seltsamerweise schien sie den Unterschied eher zu betonen, statt ihn zu verwischen. »Man nennt die Ebenen von Tuan auch das Tote Land«, sagte er. »Doch was tot ist, muß auch einmal gelebt haben.« Damit wandte er sich um und ging wieder zu den Pferden hinüber, ohne mehr Zeit mit weiteren Erklärungen zu verschwenden.

Skar sah ihm mit einer Mischung aus Ärger und Erheiterung hinterher. Er hatte sich daran gewöhnt, von den El-tra selten eine klare Antwort auf eine klare Frage zu bekommen. Aber er wußte auch, daß sie niemals etwas Überflüssiges oder Dummes sagen würden. Reden nur um den Redens willen schien den Sumpfmännern unbekannt zu sein.

»Was tot ist, muß auch einmal gelebt haben ...«, wiederholte er El-tras Worte, und plötzlich, als er sie zum zweiten Mal und mit seiner eigenen Stimme gesprochen hörte, spürte er den dunklen, unheilschwangeren Unterton, der darin mitschwang.

Vielleicht, dachte er, lebte es noch, nur auf eine Weise, die sie niemals begreifen würden. Vielleicht waren sie die Toten.

Загрузка...