9.

Der Krug war leer, aber Skar winkte ab, als Gowenna aufstehen und einen neuen Schlauch mit Wein aus dem Regal nehmen wollte. Er hatte zwei Becher des süßen, schweren Rotweines getrunken, und hinter seiner Stirn begann es bereits jetzt zu summen; der Wein war nicht gut, und das, was Skar im Moment am wenigsten gebrauchen konnte, war ein schwerer Kopf.

Sie waren nun eine Stunde in dem steinernen Turm, hatten die Toten weggeschafft, gegessen, getrunken und sich an dem flackernden Feuer im Kamin aufgewärmt. Das Mahl war einfach gewesen: trockenes, hartes Brot, ein Rest Schmalz, den sie in einer Holzschale auf dem Regal gefunden hatten, und für jeden eine Handvoll trockener Datteln. Trotzdem war es Skar - nach einer Woche, in der er von abgestandenem Wasser und scharfem Pferdefleisch gelebt hatte - wie ein Festmahl vorgekommen. Er war noch immer müde, und die Wärme im Inneren des Turmes tat ein übriges, seine Lider schwer werden zu lassen.

Gowenna stand nun doch auf, ging zum Regal und schenkte sich einen weiteren Becher Wein ein. Die Schwäche ließ ihre Hände zittern.

»Du solltest nicht so viel trinken«, sagte Skar halblaut. »Wir brauchen morgen einen klaren Kopf. Auch du.«

Gowenna lächelte, leerte den Becher mit einem Zug und schenkte ihn erneut voll. »Morgen ist morgen«, sagte sie leichthin. Sie kam zurück zum Tisch, setzte sich und sah mit einem sehnsüchtigen Blick zu den Betten hinüber. »Wer übernimmt die erste Wache?« sagte sie, ohne auf seine Worte einzugehen.

Skar wollte antworten, aber einer der El-tra - Verion - mischte sich ein. »Es wird nicht notwendig sein, Wachen aufzustellen«, sagte er, während er zu ihnen an den Tisch trat. »Die Männer bleiben jeweils eine Woche hier. Die Ablösung ist erst in drei Tagen fällig. Aber ihr werdet nicht schlafen können.«

Gowenna sah überrascht auf. »Wie meinst du das?«

»Wir können nicht hierbleiben«, fuhr El-tra fort. »Nicht für die nächsten Tage und nicht für diese Nacht.«

Skar schob sich eine weitere Dattel in den Mund. Er war längst satt, aber nach einer Woche voller Entbehrungen schrie sein Körper noch nach Nahrung. »Warum nicht?« fragte er kauend. »Dieser Ort ist nicht gut«, antwortete El-tra ernsthaft.

»Ihr wollt über die Brücke?« fragte Gowenna. »Jetzt?«

El-tra nickte.

»Aber ich sehe keinen vernünftigen Grund dazu«, sagte Skar. »Uns allen würde eine Nacht Schlaf und ein wenig Wärme guttun - euch auch.« Und der Gedanke, bei Dunkelheit über die halbzerfallene Brücke zu reiten, bereitete ihm Unbehagen. Selbst bei Tageslicht wäre es ein Wagnis gewesen, über die Schlucht zu reiten. Aber das sprach er nicht laut aus.

»Es gibt Gründe genug«, fuhr El-tra nach einer Weile fort. »Dieses Land ist nicht gut für uns. Wir sollten nicht länger hierbleiben als nötig. Und wir können nicht lange in diesen Körpern bleiben. Sie sind krank.«

Skar schwieg. Er wußte, wie wenig Sinn es hatte, mit den Sumpfmännern zu diskutieren, wenn sie einmal einen Entschluß gefaßt hatten. Er nickte resigniert, goß sich nun doch einen weiteren Becher Wein ein und trank einen Schluck, ehe er aufstand und zum Feuer hinüberging. Zum ersten Mal seit Wochen fror er nicht.

»Wie weit ist es bis zu Velas Lager?« fragte er.

»Dreißig Meilen. Weniger als einen Tagesritt.«

»Weniger als einen Tagesritt, so.« Er schüttelte den Kopf, seufzte und rieb die Hände über den Flammen aneinander. »Und wie kommen wir hinein? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie uns mit offenen Armen empfängt.«

»Sicher nicht. Aber solange wir diese Körper tragen, wird es kein Problem werden. Zumindest nicht für uns.«

»Und wir?«

El-tra machte eine wegwerfende Handbewegung. Er hatte nicht nur den Körper Verions übernommen, sondern auch seine Gestik und seine Art zu reden. »Sie lebt in einer der alten Städte Tuans«, sagte er. »Ein Labyrinth, in dem selbst ihre hundert Krieger verschwinden können. Wir werden einen Weg finden, euch hineinzubringen. Aber wir können nicht warten, bis diese Körper zu schwach sind. Sie sterben.«

Skar maß den Sumpfmann mit einem langen Blick. »So schwach siehst du gar nicht aus.«

»Der Wechsel hat viel Energie gebraucht. Wir zerfallen. Und auch ihr werdet sterben, wenn ihr zu lange hier verweilt. Der Atems Tuans ist tödlich.«

Skar seufzte. »Ich warte auf den Tag, an dem ich einmal eine ganz einfache klare Antwort von dir bekomme, El-tra«, sagte er grinsend. »Ist es bei euch üblich, in Rätseln zu sprechen?«

»So, wie es bei euch üblich ist, die Unwahrheit zu sagen«, sagte El-tra. »Doch nun kommt. Mein Bruder hat die Pferde gesattelt und Fackeln zusammengesucht. Je schneller wir aufbrechen, desto rascher sind wir auf der anderen Seite.«

Skar grinste. »Eine fundamentale Weisheit.« Er ging zum Tisch zurück, leerte seinen Becher und stopfte den Rest an Datteln, der noch in der Schale lag, in seinen Beutel. Gowenna hatte die Zeit genutzt, ihre Rüstung wieder anzulegen und den Umhang überzustreifen, so daß sie bereits nach wenigen Augenblicken den Turm verlassen und zu den wartenden Pferden hinübergehen konnten. Die Sonne war vollends untergegangen, und über der schimmernden grünen See Tuans lag die Schwärze der Nacht. Der Wind kam Skar jetzt, nachdem er zum ersten Mal seit Tagen wieder wirklich aufgewärmt war, doppelt eisig vor, und sein Gesicht begann augenblicklich zu prickeln, als er in die heulenden Böen hinaustrat. Pedantisch zog er die Tür hinter sich zu, blieb einen Moment stehen und sah nach Norden. Combat war nicht mehr als ein düsteres, blasses Flackern am Horizont, aber es erschien ihm jetzt fast drohender als zuvor.

Skar verscheuchte den Gedanken mit einem ärgerlichen Achselzucken, ging zu den Pferden hinüber und schwang sich in den Sattel. Das Leder war so kalt, daß es an seiner Haut zu kleben schien, und selbst die Fackeln, die die beiden El-tra trugen, schienen Kälte statt Wärme zu verstrahlen. Ihr Licht flackerte und bog sich unter den Hieben des Windes; dünne, durchbrochene Feuerstrahlen, die nach Süden fingerten, als wollten sie ihnen den Weg weisen.

Gowenna drängte ihr Tier dicht neben das seine, schlug demonstrativ die Kapuze ihres Umhangs hoch und beugte sich nach vorne. Sie ritten los.

Skars Unbehagen wuchs, während sie sich der Schlucht näherten. Die Nacht war so dunkel, daß der Abgrund unsichtbar blieb und selbst die Brücke nicht mehr als ein gewaltiger schwarzer Schatten war, aber was Skar nicht sah, spürte er dafür um so deutlicher: den eisigen, kalten Hauch, der aus den Tiefen der Erde emporstieg und sie streifte, ohne sich um das Heulen des Sturmes zu scheren; den Sog der Tiefe, als würden unsichtbare Geisterhände zu ihnen emporgreifen, um sie herabzuziehen.

Der Klang der Pferdehufe änderte sich, als sie auf die Brücke hinaufritten. Es war nicht mehr das helle Schlagen von Metall auf Glas, das sie während der letzten Woche begleitet hatte, sondern ein dumpfes, hallendes Dröhnen, das meilenweit zu hören sein mußte, das Schmiedeeisen der Hufe auf dem gehämmerten Stahl der Brücke. Skar beugte sich neugierig im Sattel herab, konnte aber nicht mehr als eine dunkle, geriffelte Fläche erkennen. Die Brücke bebte unter ihrem Gewicht, während sie die sanft ansteigende Rampe hinaufritten und sich den gewaltigen gebogenen Stützpfeilern näherten. Die Pferde wurden unruhig, und Skar mußte die Zügel fester ergreifen, um sein Tier zum Weitergehen zu bewegen. Ihr Instinkt verbot ihnen, auf unsicheren Grund zu treten, und wenn die Brücke auch massiv aussah - und es sein mußte, um dem beharrlichen Zerren und Rütteln des Windes zu widerstehen -, so schwang sie doch wie ein gewaltiges lebendes Wesen unter ihnen; eine Bewegung, die zu langsam und majestätisch war, um sie sehen, aber auch zu deutlich, um sie nicht spüren zu können.

Sie konnten mehr Einzelheiten erkennen, als sie sich den Pfeilern näherten. Der Lichtschein der Fackeln eilte ihnen voraus und riß rote, verschwommene Details aus der Dunkelheit, flackernde Schemen, die wie huschende Schattentiere über den Pfeiler und den schwarzen Boden eilten und ein stummes Spalier bildeten. Vor dem Brückenpfeiler stand eine Skulptur. Skar schätzte ihre Größe auf mehr als zehn Fuß - ein gewaltiges, grob menschenähnliches Ding in einer braunschwarzen Rüstung, ähnlich der Statue, die El-tra und er vor Tagen gefunden hatten, nur größer, massiger, wilder. Sie ritten langsamer, während sie den stummen Wächter passierten, und Skar spürte, wie Gowenna ihr Pferd unwillkürlich enger an seines heranlenkte, als suche sie in seiner Nähe Schutz. Auch sie schien die stumme Drohung zu spüren, die der steinerne Koloß ausstrahlte. Er war wohl aufgestellt worden, um den Weg gegen Dämonen und böse Geister zu schützen, aber er verfehlte seine Wirkung auch auf die Lebenden nicht. Aus seinen Knie- und Ellbogengelenken, aus Schultern und Unterarmen, selbst aus der Stirn- und Hinterkopfpartie des gewaltigen geschlossenen Helmes wuchsen fingerlange, messerscharf gekrümmte Stacheln wie natürliche Äxte und Messer, und selbst die sechsfingrigen Hände endeten in tödlichen stählernen Dolchen. Hinter dem fingerbreiten, bis weit in die Schläfen reichenden Sehschlitz des Visiers schien ein dunkelrotes Feuer zu glimmen; Widerschein ihrer eigenen Fackeln, aber trotzdem bedrohlich. Gowenna stieß plötzlich einen halblauten Schrei aus und fuhr im Sattel zusammen.

»Was ist los?« fragte Skar erschrocken.

Sie schwieg einen Moment, deutete nach rechts, dorthin, wo verborgen in der Nacht der jenseitige Stützpfeiler und wahrscheinlich ein zweiter, gleichartiger Wächter stehen mußten, und fuhr sich mit einer kleinen nervösen Geste über die Stirn.

»Nichts«, sagte sie hastig. »Es ist...« Sie bracht ab, sah verwirrt zu Boden und fuhr dann in betont heiterem Tonfall fort: »Für einen Moment dachte ich, die Statue hätte sich bewegt. Es muß das Licht gewesen sein.«

»Sicher«, murmelte Skar. »Es war das Licht. Es sind Statuen, mehr nicht.«

El-tra warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Dieses Land ist auch so schon voller dunkler Geheimnisse«, sagte er. »Findet ihr es richtig, euch jetzt noch gegenseitig zu beunruhigen?«

Skar setzte zu einer scharfen Antwort an, beließ es aber dann bei einem stummen Achselzucken und ritt schneller weiter. Der Stützpfeiler glitt über ihnen in die Höhe und verschwand im Dunkel der Nacht.

Skars Fackel erlosch, getroffen von einer besonders heftigen Windbö. Er fluchte, beugte sich zu Gowenna hinüber und entzündete seine Fackel an der ihren. Die Flammen streiften für einen Moment sein Gesicht, aber die Kälte hatte sich wie ein unsichtbarer schützender Panzer über seine Haut gelegt, so daß er ihre Hitze kaum fühlte.

»Weiter«, sagte El-tra ungeduldig. »Wir müssen hinüber. Sturm kommt auf.«

Skar sah erschrocken zurück. Der Himmel war schwarz und voller brodelnder dunkler Wolken, aber weit im Norden erkannte er drohende dunkle Massen, gepeitscht von unsichtbaren Fäusten. Combat schickte ihnen seinen Fluch hinterher; brüllender Sturm, wo sie der Reichweite seines flammenden Atems entronnen waren. Trotz seiner Geschwindigkeit würde es noch lange dauern, bis der Orkan hier war. Aber ihre Lage würde mehr als nur unangenehm werden, wenn der Sturm sie hier auf der Brücke überraschte.

Wortlos ritt er weiter. Sie bewegten sich hintereinander, dicht neben dem brusthohen, massigen Geländer, hinter dem die Schlucht lauerte. Skar sah immer wieder nervös nach links. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, und er konnte mehr Einzelheiten erkennen - soweit es Einzelheiten gab. Die Wände der Hellgor stürzten senkrecht in die Tiefe; eine meilenhohe Klippe, deren Fuß in einem Meer aus Schwärze verschwand. Der Nebel, den sie bei ihrer Annäherung gesehen hatten, war auch jetzt noch da, ungeachtet des Sturmes - ein schwarzes Weben auf noch schwärzerem Untergrund, das, wenn man nur lange genug hinsah, bizarre Formen und Gestalten bildete, Gesichter und Fratzen.

Sie hatten etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt und wurden langsamer. Der Boden war nicht mehr eben, sondern buckelig und aufgeworfen, und da und dort durchzogen Risse wie gezackte schwarze Blitze das Eisen. Der Wind fing sich heulend in dem unsichtbaren Pfeilern über ihren Köpfen. Rechts von ihnen gähnte ein Loch im Boden, ein runder, zehn Manneslängen durchmessender Krater, unter dem das Nichts lauerte, und die Zeichen der Zerstörung wurden deutlicher, je mehr sie sich dem gegenüberliegenden Rand der Schlucht näherten.

Schließlich hielt El-tra an und deutete wortlos nach vorn. Die Brücke war hier eingestürzt, zerschmolzen wie Wachs und bis auf einen schmalen Sims vernichtet. Skar hatte plötzlich das Gefühl, als ob eine eisige, unsichtbare Hand über seinen Rücken strich - es war Angst. Der schmale, an den Rändern zerbissene Steg führte auf eine Länge von neunzig, hundert Fuß über das Nichts, ehe er sich drüben mit dem stehengebliebenen Rest der Brücke vereinigte, nicht viel mehr als fünf, allerhöchstens sechs Fuß breit. Nebel kroch aus der Tiefe empor, quoll zähflüssig wie sumpfiges Wasser über den Steg und bildete eine brodelnde Decke. Skar zwang sein Pferd mit sanftem Druck hinter El-tra auf den Steg hinaus und schloß die Augen. Die Zügel lagen lose in seinen Händen; er verließ sich ganz auf den Instinkt des Tieres, das - unruhig schnaubend und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend - seinen Weg besser finden würde als er. Es kam ihm vor, als bliebe die Zeit stehen. Sein Herz hämmerte, und als er nach einer Weile, die ihm wie Stunden vorkam, die andere Seite erreichte, war er in Schweiß gebadet. Es war nicht der erste Abgrund, den er überschritt, und manche Wege, die er schon geritten war, waren schmaler und gefährlicher gewesen. Und ein Weg von fünf Fuß Breite war normalerweise mehr, als ein Pferd brauchte, um sicher gehen zu können. Aber dies hier war nicht irgendein Abgrund, sondern die Hellgor, und dieses Land war nicht irgendein Land, sondern Tuan. Nichts war hier normal. Nicht einmal die Furcht. Gowenna war die letzte, die wieder festen Boden erreichte. Sie zitterte, und von den Flanken ihres Pferdes troff flockiger Schweiß. Ihr Gesicht war so bleich, daß Skar es trotz der schlechten Beleuchtung erkennen konnte.

»Weiter«, sagte El-tra ungeduldig. »Wir haben das Schlimmste hinter uns.«

Skar sah nach Norden. Der schwarze Wolkenkeil war näher gekommen, und in das Kreischen des Windes hatte sich ein neuer, drohender Ton gemischt.

Sie ritten - jetzt nebeneinander - weiter und näherten sich rasch dem gegenüberliegenden Rand der Schlucht und der Brücke. Blaue Flammen krochen über den Horizont, und dazwischen glaubte Skar Bewegung und wirbelnde Schatten wahrzunehmen. Dann glomm ein winziger rötlicher Funke am Fuße der Brücke auf, verwandelte sich in einen funkensprühenden Strich und zischte zu ihnen herüber.

Skar duckte sich instinktiv, als der Brandpfeil heranjagte. Das Geschoß flog weit über ihre Köpfe hinweg und verschwand in der Schlucht, aber noch in der gleichen Sekunde glommen ein zweiter, dritter und vierter Pfeil auf. Auch sie gingen weit fehl, aber sie waren wahrscheinlich auch gar nicht dazu gedacht, zu treffen. »Verdammt!« schrie Gowenna. »Was ist das?!«

Sie brachte ihr Pferd mit einem so harten Ruck zum Stehen, daß das Tier gequält aufschrie und sie beinahe abwarf. Wieder jagte ein Pfeil heran, fiel klappernd vor ihnen auf das Eisen der Brücke und erlosch.

»Eine Falle«, sagte El-tra ruhig. »Sie haben uns erwartet.« Ohne Grund brachte die Gelassenheit, mit der der Sumpfmann die Worte aussprach, Skar in Wut. »Was heißt hier Falle?« brüllte er. »Ich denke, die Wachablösung ist erst in Tagen fällig?«

»Das ist sie auch«, gab El-tra gelassen zurück. »Das dort vorn ist keine Patrouille.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf die Schatten, die näher gekommen waren und allmählich menschliche Umrisse anzunehmen begannen. Zwanzig Krieger, schätzte Skar. Vielleicht mehr.

»Aber wie -«

»Ich weiß nicht, wieso sie es gewußt haben«, fiel ihm El-tra ins Wort. »Verion und Bren wußten nichts davon. Und auch die anderen nicht.«

»Aber das ist unmöglich«, sagte Gowenna verzweifelt. »Wie hätten wir die Männer so leicht überwältigen können, wenn ...« Sie schwieg plötzlich, als ihr klar wurde, was El-tras Worte bedeuteten.

»Sie haben sie geopfert«, sprach Skar den Gedanken laut aus. »Wie so viele zuvor. Glaubst du wirklich, Vela würde Rücksicht auf vier Menschenleben nehmen?« Seine Worte klangen holprig, und er redete eigentlich nur, um seine Unsicherheit zu überspielen. Es war viel zu schnell gegangen, als daß er die Situation wirklich schon hätte verarbeiten können.

»Sie kommen«, sagte El-tra.

Skar sah wieder nach Süden. Aus den Schatten waren mittlerweile Männer geworden - zwei Dutzend Krieger in den schwarzen Panzern, die sie schon kannten, angeführt von einer winzigen, gnomenhaften Gestalt in einem rote Cape. Sie kamen näher, blieben aber in respektvollem Abstand stehen, als die beiden Sumpfmänner ihre Armbrüste von den Rücken nahmen.

»Skar!« dröhnte Tantors Stimme durch den Sturm zu ihnen herüber. »Gowenna! El-tra - seid vernünftig! Widerstand ist sinnlos!«

Skar lachte rauh. »Vielleicht hat es Sinn, wenn wir dich noch mitnehmen können, Tantor!« rief er zurück. »Komm her und hol uns!«

Gowenna berührte ihn am Arm. »Das ist sinnlos, Skar«, sagte sie. »Wir müssen zurück.«

Skar sah nach oben. Der Sturm war näher gekommen, und er glaubte bereits, ein Auffrischen des Windes zu spüren.

»Wir können es schaffen«, sagte Gowenna, die seinen Blick richtig deutete. »Wenn wir schnell reiten, sind wir auf der anderen Seite, ehe der Sturm hier ist.«

Skar war nicht davon überzeugt. Aber er wußte auch, daß sie gar keine andere Wahl hatten. Die Übermacht war zu groß. Selbst wenn sie gegen die zwei Dutzend Krieger eine Chance gehabt hätten - was sie nicht hatten -, würden sie Tantor nicht überwinden. Skar hatte schon mehr als eine Kostprobe von der Magie des Zwerges bekommen.

»Jetzt fehlt nur noch Vela mit ihrem Drachen, und wir sind wieder komplett«, knurrte er. »Zurück! Aber langsam!«

»Nun?« schrie Tantor. »Habt ihr euch entschieden? Was wollt ihr? Kämpfen und sterben, oder aufgeben und weiterleben?« Skar preßte seinem Pferd die Schenkel in die Flanken und zog behutsam am Zügel. Das Tier setzte sich gehorsam in Bewegung und begann mit kleinen, trippelnden Schritten rückwärts zu gehen. Gowenna und die beiden Sumpfleute verfuhren ebenso. Skar hoffte, daß Tantor das Manöver nicht bemerkte. Die Entfernung zwischen ihnen war noch immer groß, und Dunkelheit und Nebel ließen die Sicht schlecht werden.

Die Phalanx der Krieger rückte näher, blieb aber sofort wieder stehen, als El-tra seine Armbrust hob und einen Bolzen abfeuerte. Das Geschoß fiel irgendwo auf halber Strecke zu Boden, aber die Männer verstanden die Warnung.

»Sei vernünftig, Skar!« brüllte Tantor. »In wenigen Augenblicken bricht ein Unwetter los. Ihr werdet von der Brücke gefegt! Schau um!« Skar wollte antworten, besann sich dann aber anders und drehte sein Pferd herum, als hielte er wirklich nach dem Sturm Ausschau.

Dann, ohne ein weiteres Wort, preschte er los. Gowenna und die beiden Sumpfbrüder rissen ihre Pferde im gleichen Moment herum und sprengten hinter ihm her.

Aus den Reihen der Krieger erhob sich ein halb wütender, halb überraschter Aufschrei. Bogensehnen sirrten. Ein Schatten jagte an Skar vorbei und prallte mit hellem Splittern weit vor ihm gegen das Geländer.

»Hört auf zu schießen!« dröhnte Tantor. »Wir brauchen sie lebend!« Ein zweiter Pfeil, abgeschossen, bevor der Befehl zu Ende gesprochen worden war, zischte an Skar vorüber und verschwand in der Nacht, dann zerriß das dumpfe Hämmern von hundert Pferdehufen das Heulen des Sturmes. Skar beugte sich tief über den Hals seines Tieres, preschte an Gowenna vorbei und jagte, ohne zu zögern, auf den schmalen Steg über das Nichts hinaus. Vor ihnen wirbelte der Sturm, eine kochende schwarze Wand, hinter der die Welt zu Lärm und reiner Bewegung reduziert wurde. Der Wind schlug mit eisigen Krallen nach seinem Gesicht. Skar duckte sich noch tiefer, verbarg das Gesicht in der fliegenden Mähne des Pferdes und hielt instinktiv den Atem an, bis sie auf der anderen Seite des Abgrunds angelangt waren. Die Brücke schien zu vibrieren, als Gowenna und die beiden El-tra hinter ihm über den Steg galoppierten.

»Schneller!« schrie El-tra. Seine Worte klangen hoch und schrill, der Sturm verlieh ihnen einen zusätzlichen, unheilschwangeren Klang. Skar warf einen Blick über die Schulter zurück. Die Verfolger hatten am jenseitigen Rand der zerborstenen Stelle haltgemacht. Ihre Gestalten schienen hinter den wogenden Nebelschleiern zu tanzen, nur Tantors leuchtendroter Umhang schimmerte wie ein blutiges Juwel zu ihnen herüber. Keiner von ihnen machte Anstalten, sie zu verfolgen.

»Skar!« Tantors Stimme war kaum noch zu hören, obwohl er mit aller Kraft schrie. »Komm zurück! Ihr habt keine Chance!« Skar verzichtete auf eine Antwort. Er ritt für einen Moment langsamer und gab seinem Tier erneut die Sporen, als Gowenna und El-tra aufgeholt hatten. Sie hatten eine halbe Stunde gebraucht, um die Kluft das erste Mal zu überqueren; jetzt, auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung und in einem verzweifelten Wettlauf mit dem herantobenden Sturm, brauchten sie nicht einmal fünf Minuten.

Die Brücke bebte. Ein erster, machtvoller Hieb des Orkans ließ die gewaltige Eisenkonstruktion wie ein geschlagenes Tier vor Schmerz aufstöhnen, rüttelte mit Urgewalt an Pfeilern und Streben und schlug mit unsichtbaren Fäusten auf Skar und die anderen ein. Skar schrie erschrocken auf, aber der Sturm riß den Laut von seinen Lippen, so daß nicht einmal er selbst das Geräusch hörte.

Gowenna schrie etwas, das er nicht verstand, und deutete mit hektischen Bewegungen nach vorn. Skar hob den Kopf, blinzelte in die wirbelnden Schwaden aus Schnee und Eiskristallen und versuchte etwas zu erkennen. Seine Augen tränten, und die plötzliche Anstrengung ließ ihn seine gebrochenen Rippen wieder schmerzhaft spüren. Aber er sah, worauf ihn Gowenna aufmerksam machen wollte: Vor der dunklen Mauer des Sturmes erhoben sich zwei mächtige gedrungene schwarze Schatten. Das Wetterleuchten der Blitze spiegelte sich auf glänzendem Horn und reißenden Stacheln, die sechsfingrigen Hände, vorhin noch zu Fäusten geballt, waren jetzt ausgestreckt und zu tödlichen Klauen verkrümmt. Die schwarzen Giganten waren zum Leben erwacht!

Alles schien gleichzeitig zu geschehen - ein hoher, knisternder Laut, ein Geräusch, als zerbreche irgendwo eine gewaltige Eisscholle unter dem Griff einer Titanenhand, ließ das Heulen des Orkans für eine Sekunde verstummen. Skars Pferd bäumte sich auf, stieg, mitten im Galopp, auf die Hinterläufe und schleuderte ihn aus dem Sattel, gleichzeitig kreischten Gowennas und El-tras Tiere wie unter unerträglichem Schmerz, brachen nach rechts und links aus und warfen auch ihre Reiter ab. Die schwarzen Giganten kamen näher, mit einer Leichtfüßigkeit, die ihrem plumpen Äußeren Hohn sprach, drangen mit weit ausgebreiteten, tödlichen Krallenhänden auf Skar und die anderen ein, in ihrem Gefolge Sturm und Chaos bringend. Skar prallte schmerzhaft auf dem eisernen Boden auf, rollte sich instinktiv zu einem Ball zusammen und kam, den Schwung seines Sturzes ausnutzend, wieder auf die Füße. Vor seinen Augen wirbelten Schnee und Schwärze, durchzogen von blitzenden roten Fäden aus Schmerz; er ahnte den schwarzen Giganten mehr, als er ihn sah. Und in ihm erwachte etwas. Die Entwicklung war abgeschlossen. Die Puppe brach auf und gebar etwas Dunkles, Grauenhaftes.

Er wich zurück, prallte gegen das brusthohe Geländer der Brücke und sah sich verzweifelt nach Gowenna und den anderen um. Einer der Sumpfmänner kam dicht neben ihm auf die Füße; nicht mehr länger Verion oder Bren, sondern wieder ein Mann aus Cosh mit flinken Bewegungen und einem Schattengesicht; Gowenna und der zweite Sumpfmann waren irgendwo im Sturm verschwunden. Skar konnte nur hoffen, daß sie den Sturz unverletzt überstanden hatten.

»Skar! Vorsicht!«

El-tras Schrei ließ ihn herumfahren. Etwas Schwarzes, Gigantisches wuchs vor ihm empor, griff mit schrecklichen Händen nach ihm und verfehlte ihn, als er sich blitzschnell zur Seite kippen ließ. El-tra stieß einen gellenden Kampfschrei aus, setzte über ihn hinweg und warf sich dem Panzerriesen entgegen. Sein Schwert blitzte auf, zerschnitt den wirbelnden Schnee und prallte mit ungeheurer Wucht gegen den Helm des Giganten.

Skar wartete den Erfolg von El-tras Angriff nicht ab. Noch während er fiel, riß er sein Tschekal aus dem Gürtel, packte die Klinge mit beiden Händen und hieb nach den Füßen des Riesen. Es gab einen Laut, als hätte er gegen Stahl geschlagen. Das Tschekal sprang zurück, wurde ihm aus der Hand geprellt und verschwand klappernd in der Dunkelheit. Ein lähmender Schmerz schoß durch seine Hände. Er stemmte sich hoch, fiel mit einem Schmerzenslaut erneut auf die Knie und stürzte vollends, als seine Handgelenke unter dem Gewicht seines Körpers nachgaben. Einen Moment war er gelähmt vor Schmerzen und Überraschung, aber die Schwäche verging so schnell, wie sie gekommen war. Er sprang auf, brachte sich mit einem verzweifelten Satz vor den zuschnappenden Klauen des Riesen in Sicherheit und suchte nach seinem Schwert. Aber als ob sich nun auch noch die Elemente gegen sie verschworen hätten, brüllte der Sturm plötzlich mit doppelter Macht los, riß ihn erneut von den Beinen und trieb ihn von dem Panzerriesen, aber auch von der Stelle, an der seine Waffe liegen mußte, fort. Wieder stürzte er, und diesmal war der Aufprall so hart, daß er sekundenlang benommen liegenblieb. In seinem Inneren war ein Schrei, ein stummes, wortloses Lachen, die Stimme seines Dunklen Bruders, der endlich wieder aus seinem Schlaf erwacht war.

Aber es war nur dieser Schrei, mehr nicht. Der Strom von Kraft, von Wildheit und Energie, auf den er jetzt zum ersten Mal, seit er Bekanntschaft mit der furchtbaren Macht, die in ihm schlummerte, gewartet hatte, blieb aus. Er spürte ihn, fühlte die Anwesenheit seines Dunklen Bruders wie einen lautlosen Zwilling, der in ihm, hinter und neben seinen Gedanken war, lauerte, aber es war keine Verbindung zwischen ihnen, sie schienen nichts als zwei verschiedene, grundverschiedene Wesen zu sein, die sich nur durch Zufall den gleichen Körper teilten. Er fühlte sich im Gegenteil mit einem Mal kraftlos - nein, nicht kraftlos - gebunden, als lägen plötzlich zentnerschwere unsichtbare Ketten auf seinen Gliedern. Das Monstrum in ihm war wieder da, aber diesmal lähmte es ihn. Trotzdem stand er auf, warf sich noch einmal in den kreischenden Wind und eilte auf den Alptraumkrieger zu. Er kam gerade noch zurecht, um zu sehen, wie El-tra unter einem fast spielerischen Hieb des Titanen zusammenbrach.

»Skar! Gib auf! Gib auf, oder der Sumpfmann stirbt.«

Wieder verstummte der Sturm für Sekunden. Die wirbelnden weißen Schwaden rissen auf, und hinter dem schwarzen Panzerriesen, hinter und neben ihm, wie ein Kind, das ängstlich die Nähe eines Erwachsenen sucht, dies aber nicht zugeben will, erschien eine kaum metergroße rotgekleidete Gestalt.

Skar erstarrte mitten in der Bewegung. El-tra lag reglos vor den Füßen des schwarzen Titanen, und etwas sagte Skar, daß Tantor diesmal keine leere Drohung ausstieß, daß seine Worte bitter ernst gemeint waren und er nicht zögern würde, die Bestie auf El-tra loszulassen. Seine Hände sanken kraftlos herab.

»Du hast gewonnen«, sagte er. »Ich gebe auf.«

Tantor nickte. »Das ist vernünftig von dir. Ich will deinen Tod nicht, Skar, das solltest du wissen. Aber ich werde nicht zögern -«

»Red dir keine Blasen an die Zunge«, unterbrach ihn Skar grob. »Was willst du?«

In Tantors Augen erschien ein amüsiertes Glitzern. »Noch immer der alte Satai, wie? Gleich zur Sache, ohne Umschweife.« Er schüttelte den Kopf, trat - noch immer zögernd - hinter der fast dreimal so großen schwarzen Höllenkreatur hervor und deutete über die Schlucht.

»Ihr wolltet zur toten Stadt, nicht?« fragte er. »Ich denke, es liegt in meiner Macht, euch diesen Wunsch zu erfüllen. Ihr werdet sogar schneller da sein, als ihr geglaubt habt. Geh.«

Skar sah zurück. Die Brücke war in kochenden weißen Schwaden verschwunden. Der Blick reichte nicht weiter als zwei, drei Schritte. »Und der Sturm?«

Tantor grinste. »Mach dir darum keine Sorgen. Du wirst sicher hinüberkommen.«

Skar sah auf. Der Himmel war noch immer von schwarzen Wolken bedeckt, aber noch während Skar hinsah, drehte sich der Wind und blies nun - zum ersten Mal seit mehr als einer Woche - nach Norden. Die Wolken begannen zu brodeln, liefen einen Moment wie ein Schiff, das von seinem eigenen Schwung vorwärts getrieben wird, gegen den Wind und setzten sich dann widerwillig in entgegengesetzte Richtung in Bewegung.

»Wie du siehst«, lächelte Tantor, »ist für eure Sicherheit gesorgt.«

»So wie du für unseren Empfang gesorgt hast, wie?« grollte Skar, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Wie lange wußtest du es schon ?«

»Was?« fragte Tantor. »Daß ihr auf dem Weg hierher seid? Vom ersten Moment an, Skar. Ihr habt nicht einen Schritt getan, über den ich nicht informiert gewesen wäre. Tuan mag tot sein, aber es hat trotzdem Augen. Du hättest auf meinen Rat hören und zurück nach Ikne reiten sollen.«

»Die Wächter«, sagte Skar müde. »Die sechs Männer im Turm - warum das?«

»Warum was?« machte Tantor mit gespielter Überraschung. »Ihr habt sie getötet, Skar, nicht ich.«

Skar machte eine unwillige Kopfbewegung. »Red keinen Unsinn, Tantor. Es wäre nicht nötig gewesen.«

»Vielleicht«, gestand Tantor. »Aber es ist nun einmal geschehen. Und wenn es dich beruhigt - sie wären so oder so gestorben. Was machen da ein paar Monate Unterschied? Und nun geh. Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren. Vela erwartet euch.« Skar starrte den Zwerg noch einen Moment finster an, drehte sich dann mit einem Ruck um und trat - zum dritten Mal - auf die Brücke über das Nichts hinaus. Der Wind trug ein triumphierendes Wolfsgeheul mit sich.

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