Die nächsten zwei Tage verbrachte er in einem winzigen, fensterlosen Raum, in den ihn Del nach dem Gespräch mit Vela brachte. Jedenfalls glaubte er, daß es zwei Tage waren; er bekam viermal Essen und schlief, zuerst lange und tief, dann noch mehrmals, aber jeweils nur für kurze Zeit. Die Alpträume kamen nicht wieder, und der Heiltrank, den Tantor ihm am ersten Abend brachte, vertrieb auch das Fieber vollkommen. Weder Del noch Vela ließen sich während der Zeit seiner Gefangenschaft blicken, und die Männer, die ihm Essen und Trinken brachten, waren wie die Wächter, die sie hierhergeleitet hatten - respektvoll, freundlich, aber stumm; nicht mehr als Maschinen, die ihre Aufgaben erfüllten und kaum in der Lage waren, einen eigenen Gedanken zu denken. Der Anblick der stummen Krieger erfüllte ihn jedesmal aufs neue mit Unbehagen, schließlich mit Furcht. Er hatte Velas Worte nicht vergessen, und auch, wenn er sich im ersten Augenblick eingeredet hatte, daß ihre Drohungen ihn nicht schrecken konnten, so tat der Anblick der stummen Puppen-Menschen doch seine Wirkung. Er zweifelte keinen Moment daran, daß sie auch ihn in eine leere Hülle verwandeln würde, wenn er sie dazu zwang. Und er wußte auch, daß er sie nicht würde hintergehen können. Er hatte es versucht, Gowenna hatte es versucht, Tantor glaubte vielleicht jetzt noch, daß es ihm gelang ... Nein - wenn er sich ihr hingab, dann würde er es wirklich tun müssen. Vela gehörte zu jenen Menschen, die - ganz egal, was man tat - alles zu ihrem Vorteil ummünzen würden. Und sie wußte, daß er es wußte. Er würde ihr entweder freiwillig folgen, wie Del es tat, oder gar nicht. Die Alternative war ein Weiterleben als Zombie - oder der Tod.
Aber vielleicht war nicht einmal das ein Ausweg. Tantor hatte gesagt, daß es nichts ändern würde, wenn er tot wäre, und je länger er in seiner Zelle saß und grübelte, desto mehr erschienen ihm die Worte des Zwerges wie eine düstere Prophezeiung. Er brauchte nicht einmal mehr einen Beweis dafür - Velas Verhalten, die trotz allem sorglose Art, in der er behandelt wurde, die Tatsache, daß sie ihm bewußt die Möglichkeit gelassen hatte, diesen letzten Ausweg zu wählen, zeigte es ihm deutlich genug. Er hatte Angst vor dem Sterben, so wie jeder andere Mensch auch, aber er war auch ein Mann, zu dessen Leben der Tod viel intensiver und direkter gehörte, als dies im allgemeinen der Fall war, und der es gewohnt war, den Tod - als letzte Konsequenz - einzuplanen und auch hinzunehmen. Nein - auch dieser Ausweg war ihm verwehrt.
Skar schrak aus seinen Überlegungen hoch, als er das Geräusch des Riegels hörte. Ein schmaler, flackernder Lichtstreifen fiel in seine Zelle, dann trat Del gebückt, eine brennende Fackel in der Rechten, durch den niedrigen Eingang. Er blieb stehen, sah sich demonstrativ in dem winzigen, kaum fünf mal fünf Schritte messenden Gelaß um und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür hinter seinem Rücken. »Komm mit.«
Skar stemmte sich langsam hoch. Seine Glieder waren steif vom langen reglosen Sitzen, und die Stunden der Ruhe schienen ihn eher geschwächt als gestärkt zu haben.
»Ist das nicht seltsam?« sagte er. »In einem Verließ wie diesem haben wir uns kennengelernt - erinnerst du dich? Und auch damals warst du es, der mich herausgeholt hat.«
Dels Lippen zuckten. Er versuchte vergeblich, Skars Blick standzuhalten, trat schließlich mit einer übertrieben hastigen Bewegung zur Seite und deutete erneut auf die Tür. Draußen war das Geräusch anderer Krieger zu hören. Del war nicht allein gekommen.
»Damals war es anders«, murmelte er. »Damals war ich dir etwas schuldig.«
»Und heute nicht?«
»Niemand hat dich gebeten, hierherzukommen«, gab Del heftig zurück. Skar hatte lange überlegt, was er zu ihm sagen sollte, und es schien, als hätte er die richtigen Worte gewählt. »Du bist gewarnt worden. Mehr als nur einmal.«
»Ich habe es nicht gewußt«, sagte Skar. »Und ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es gewußt hätte. Ich hätte nicht geglaubt, daß ein Mann von einem Augenblick zum anderen zehn Jahre seines Lebens so einfach streichen kann.«
Del fuhr sichtlich zusammen. Seine Hand, die die Fackel hielt, zitterte. Erneut - und wieder vergeblich - versuchte er, Skars Blick standzuhalten, sah schließlich zu Boden und sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein.
»So ist es nicht, Skar«, sagte er halblaut.
»Nein? Dann sag mir, wie es ist? Hat sie dich verhext? Erzähl mit nicht, daß du den Verlockungen einer schönen Frau erlegen bist.« Del wollte antworten, aber Skar trat mit einem raschen Schritt an ihm vorbei, zog die Zellentür ins Schloß und baute sich mit verschränkten Armen davor auf.
»Was soll das?« fragte Del.
»Ich will mit dir reden«, antwortete Skar ruhig. »Allein.«
»Gib die Tür frei!« Del versuchte an ihm vorbeizukommen, aber Skar versetzte ihm einen so heftigen Stoß vor die Schulter, daß er durch den winzigen Raum taumelte und gegen die Wand stieß.
»Ich will dir nur ein paar Fragen stellen, mehr nicht«, fuhr er ruhig fort. »Und ich schwöre dir, daß ich dich windelweich dresche, wenn du versuchst, durch diese Tür zu gehen.«
Del wollte auffahren, beließ es aber bei einem finsteren Blick. Er schien zu spüren, daß Skar seine Worte ernst meinte. Und er wußte, daß er keine Chance haben würde; nicht in diesem engen Raum und mit einer gebrochenen Hand.
»Dann sprich«, knurrte er. »Aber mach es kurz. Vela erwartet uns.«
»Vela erwartet uns«, äffte Skar seine Worte nach. »Vela will dies, Vela will das - ich glaube, sie braucht nur mit den Fingern zu schnippen, und du kommst angekrochen wie ein Hund.«
»Was geht dich das an?« gab Del patzig zurück. Aber er brachte es immer noch nicht über sich, Skars Blick standzuhalten. »Vielleicht nichts«, murmelte Skar. »Du bist alt genug, um zu wissen, was du tust. Ich möchte nur wissen, warum - das ist alles. Was hat sie dir versprochen, daß du von einem Tag auf den anderen alles vergißt, was du jemals gesagt und gedacht hast.« Del schwieg einen Moment. »Vergessen«, murmelte er. »Was weißt du denn! Was weißt du, was ich denke oder gedacht habe! Was weißt du überhaupt von mir!«
»Genug, Junge«, sagte Skar sanft. »Genug, um -«
»Nenn mich nicht Junge!« brüllte Del in plötzlichem, jähem Zorn. »Ich bin verdammt alt genug, um zu wissen, was ich zu tun und zu lassen habe. Und hör auf«, fuhr er ruhiger, aber noch immer deutlich erregt fort, »an unserer Freundschaft zu appellieren !« Er spie das Wort aus, als wäre es etwas Obszönes. »Wir sind seit zehn Jahren zusammen, Skar, und in diesen zehn Jahren ist kein Tag vergangen, an dem du mir nicht ununterbrochen gesagt hast, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich habe genug davon!« Skar lächelte. »Ist es das?« fragte er spöttisch. »Hat sie dir erzählt, daß du endlich erwachsen geworden bist?«
»Unsinn«, widersprach Del. »Es ist nicht das. Aber es ist auch das. Du hast mich niemals verstanden, Skar. Du wolltest es nicht. Für dich ...« Er stockte, suchte sichtlich nach Worten. »Für dich war ich nur ein ... nur Material. Ein Rohling, aus dem du einen Satai formen konntest, ein ... ein Ding, das du bearbeitet, geknetet und geschnitzt hast, so lange, bis es deinen Vorstellungen entsprach.«
»Ich habe dich niemals zu etwas gezwungen.«
Del lachte bitter. »O ja, Skar, das stimmt. Das hast du nicht nötig gehabt. Du hast auch so erreicht, was du erreichen wolltest.«
»Aber du hast es freiwillig getan«, sagte Skar erschrocken. »Du hättest jederzeit aufhören können. Ein Wort hätte ge-«
»Das ist nicht wahr, und du weißt es«, unterbrach ihn Del. »Du hast niemals wirklich einen Menschen in mir gesehen, Skar. Für dich war ich immer nur ein Satai, und ich glaube fast, du siehst die ganze Welt so - zwei Gruppen, von denen die eine Satai und die andere keine Satai sind, nicht? Du hast es mir eingeredet, immer und immer wieder, so lange, bis ich selbst es geglaubt habe, bis ich selbst nicht mehr wußte, daß es da noch etwas anderes gibt. Du hast mir alles beigebracht, was du wußtest, Skar - hundert Möglichkeiten, einen Menschen zu töten, mit hundert verschiedenen Waffen, mit tausend Tricks, einen Gegner zu überlisten, ein Heer in die Irre zu führen oder ein Schiff zu versenken. Aber es gibt Dinge, die hast du mit keinem Wort erwähnt. Weil du sie selbst nicht kennst. Du bist seit vierzig Jahren Satai, aber hast du in all der Zeit auch nur einen Tag gelebt?«
Skar antwortete nicht. Langsam, ganz langsam nur, begann er zu ahnen, was mit Del geschehen war.
»Du -«
»Ich bin dir dankbar, Skar«, fuhr Del fort. »Für alles, was du für mich getan hast. Und ich bin nicht dein Feind, das mußt du mir glauben. Ich ... du darfst nicht denken, daß ich gerne gegen dich gekämpft habe.«
»Und doch würdest du es wieder tun«, murmelte Skar, »wenn sie es von dir verlangte.«
Del nickte.
»Nun gut«, fuhr Skar nach einer Ewigkeit bedrückenden Schweigens, das sich wie ein erstickender Hauch in der winzigen Kammer ausbreitete, fort, »ich glaube, ich habe begriffen. Aber wenn dir unsere Freundschaft und die zehn Jahre, die wir Seite an Seite geritten sind, nichts mehr bedeuten, dann beantworte wenigstens deinem Lehrmeister eine Frage. Das bist du ihm schuldig.«
»Ich schulde dir mehr als das, Skar«, murmelte Del. Seine Stimme zitterte. »Aber ich werde meine Schuld nicht zurückzahlen können.«
»Ist eine Antwort zuviel verlangt für zehn Jahre meiner Zeit?« fragte Skar hart.
»Welche Antwort? Die Antwort auf die Frage, für welche Seite ich mich entscheiden würde, wenn ich wählen muß?«
Skar schüttelte den Kopf. »Nein, Del. Diese Antwort kenne ich schon, und ich nehme sie hin, auch wenn es schmerzt. Aber bist du dir darüber im klaren, daß Vela dich benutzt, so wie sie mich und Gowenna und all die anderen benutzt hat? Daß du für sie nur ein Werkzeug bist.«
Del starrte ihn sekundenlang ausdruckslos an, senkte dann den Blick und schluckte schwer. »Ja«, sagte er. »Ich weiß es. Und ich weiß auch, daß sie mich nur so lange an ihrer Seite dulden wird, wie ich ihr nützlich oder zumindest nicht hinderlich bin. Ich weiß, daß sie mich benutzen und dann wegwerfen wird, vielleicht in zehn Jahren, vielleicht schon morgen. Das war es doch, was du sagen wolltest, oder?«
Diesmal war es Skar, der vergeblich nach Worten suchte. »Ich weiß das alles«, sagte Del noch einmal. »Ich weiß es, und es ist mir gleich, Skar. Ich kenne sie, vielleicht besser als dich, und ich weiß, daß das einzige wirkliche Gefühl, zu dem sie fähig ist, der Durst nach Macht ist. Ich weiß, daß es nicht ewig dauern wird, und daß sie mich verjagen oder töten wird, wenn die Zeit um ist. Aber es ist mir gleich. Selbst wenn ich wüßte, daß es nur noch bis zum nächsten Sonnenaufgang dauert, wäre es mir gleich. Zwischen uns ist etwas, das du niemals begreifen kannst, Skar. Ich kenne den Preis, und ich weiß, wie hoch er ist, aber es macht mir trotzdem nichts aus, ihn zu zahlen.
Ich liebe sie, Skar.«