14.

Die Zelle war klein und fensterlos wie die, in der er die letzten beiden Tage gewesen war, aber sie hatten ihm wenigstens eine Fackel gegeben und Wasser und sauberes Tuch, um Gowennas Wunden zu versorgen. Es war nicht viel, was er tun konnte - die Striemen auf ihrem Gesicht und die Wunden auf ihrem Rücken waren oberflächlich, nicht mehr als Kratzer. Die wirkliche Wunde blieb unsichtbar, tief in ihr vergraben, eine Verletzung, die - wenn sie überhaupt wieder heilen würde - eine tiefe, schwärende Narbe auf ihrer Seele hinterlassen würde. Skar zog ihr Umhang und Unterzeug aus, versorgte die Striemen, die die Peitsche gerissen hatte, und wusch sie mit dem kleinen Rest schmutzigen Wassers, das ihm verblieben war. Ihre Kleider stanken unerträglich, und es kostete Skar ein großes Maß an Überwindung, wenigstens den gröbsten Schmutz zu entfernen und sie zu waschen. Er fragte Gowenna nicht, aber ihr Zustand zeigte ihm deutlich, daß sie während der letzten beiden Tage wie ein Tier gehalten worden war: gefesselt, geschlagen, unfähig, selbst die dringendsten körperlichen Bedürfnisse zu verrichten. Es war nicht so sehr geschehen, um ihr Schmerzen zuzufügen - wie er war Gowenna ein Mensch, dem Schmerz etwas Vertrautes war und der ihn ertragen konnte. Was sie nicht hatte ertragen können, war die Erniedrigung. Sie sagte es nicht, aber er las es in ihrem Blick, in der reglosen, starren Art, in der sie dalag und teilnahmslos alles mit sich geschehen ließ.

Es dauerte fast eine Stunde, bis er fertig war und sie ihren Mantel wieder überstreifte. Danach saßen sie lange, wortlos und aneinandergeklammert in einer Ecke der Zelle. Gowenna weinte leise, aber auch ihre Tränen versiegten schon bald wieder.

Nach einer Weile hörten sie Schritte. Die Zelle wurde geöffnet, und ein Krieger brachte eine Schale mit frischem Wasser und trug das verschmutzte fort. Skar wartete reglos, bis sie wieder allein waren, dann lehnte er Gowenna behutsam gegen die Wand, nahm die Schale auf und setzte sie ihr an die Lippen.

»Trink«, sagte er. »Du mußt durstig sein.«

Gowenna versuchte es, aber ihre Lippen weigerten sich, ihrem Willen zu gehorchen, so daß sie das meiste verschüttete. Skar nahm ihr Gesicht in die Hand, öffnete ihren Mund mit sanfter Gewalt und zwang sie zu trinken. Erst als die Schale vollends geleert war, setzte er sie ab und nahm Gowenna erneut in die Arme. Sie zitterte, aber nicht vor Kälte, obwohl die Luft auch hier, tief unter der Erde, noch eisig war und ihr Atem in blassen Dampfschwaden kondensierte. Nicht einmal die Fackel spendete spürbare Wärme.

»Warum hat sie das getan?« fragte er leise. »Was ... was wollte sie von dir?«

Gowenna sah auf. Ihr Blick flackerte, und das Narbengewebe auf ihrem Gesicht schien für Augenblick von pulsierendem, abstoßendem Leben erfüllt zu sein.

»Sie hat...« Ihre Stimme versagte, ging in ein würgendes Keuchen über. Sekundenlang rang sie qualvoll nach Atem, setzte sich dann mit einem Ruck auf und fing noch einmal an. »Es gab keinen Grund, Skar«, sagte sie. »Sie hat mir nicht eine einzige Frage gestellt. Keine Forderung. Nichts. Sie hat mich nur schlagen lassen. Schlagen, und ...« Wieder schwieg sie, und wieder dauerte es endlose Sekunden, bis sie die Kraft gefunden hatte, weiterzureden.

»Aber warum?« murmelte Skar. »Weil du dich ihr widersetzt hast? Aus Grausamkeit?«

Gowenna schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, sie ... sie hat es nur getan, um ... um dich zu treffen, Skar. Die Schläge galten dir, nicht mir.«

Skar senkte betroffen den Blick. Gowenna hatte nur ausgesprochen, was er schon lange gewußt hatte. Alles, was Vela inszenierte, diente nur einem einzigen Zweck: ihn zu quälen, seinen Haß zu wecken. Und er verstand auch, warum. Es war nicht er, dessen Hilfe sie brauchte. Er, Skar, war nur eine leere Hülle, der sie nicht mehr als Gleichgültigkeit entgegenbrachte. Sie wollte das Ding in seinem Inneren. Sein Dunkler Bruder war es, dessen Hilfe, dessen Macht sie brauchte, dieses Ungeheuer in ihm, das aus Haß geschaffen und nur durch Haß geweckt werden konnte. Sie hatte es einmal geweckt - versehentlich - und jetzt versuchte sie es wieder, aber diesmal, um es zu benutzen, sich seiner Macht zu bedienen. Und sie würde es schaffen. Irgendwann. Noch war er stark genug zu widerstehen, aber sie würde ihn weiter quälen, ihn erniedrigen und foltern, ihm seine eigene Hilflosigkeit so lange vor Augen führen, bis er aufgab, bis dieses Monstrum in ihm erneut und diesmal vielleicht endgültig erwachte. In einer blitzartigen Vision sah er sich selbst, hoch aufgerichtet und mit weit ausgebreiteten Armen, das Gesicht vor Qual verzerrt, hörte seinen eigenen, unmenschlichen Todesschrei, das ekelhafte Geräusch, mit dem seine Haut riß, sein Körper auseinanderklaffte wie ein trockener Kokon und ein neues, aus schwarzem Horn und Wildheit geborenes Wesen hervorbrach, den alten Skar vernichtend, zermalmend wie der Sturm ein trockenes Blatt...

»Was will sie von dir, Skar?« fragte Gowenna leise.

Skar schüttelte den Kopf. »Nichts. Zumindest nichts, woran ich sie hindern könnte.« Er lachte; es war ein bitteres, metallisches Geräusch, das an den feuchten Wänden spöttische kleine Echos hervorrief.

Du hast verloren, Skar, wisperte eine Stimme in ihm, aber er wußte, daß es nicht wirklich sein Dunkler Bruder, sondern nur die Stimme seiner Einbildung war, etwas, das er hörte, weil er es hören wollte. Der Kreis schließt sich. Du bist mit dem Gift in Berührung gekommen, als du die Höhlen unter der Nonakesh betreten hast, aber es wirkt langsam.

»Wer bist du, Skar?« fragte Gowenna.

»Wer ich bin?« Skar schwieg einen Moment. »Ich wollte, ich wüßte es. Ich weiß nur, daß ich nicht tun werde, was sie von mir verlangt.«

»Doch, Skar«, widersprach Gowenna. »Das wirst du. Du willst es nicht, aber du wirst es tun. Man kann dieser Frau nicht widerstehen. Niemand kann es.«

Diesmal antwortete Skar nicht.

Erneut senkte sich Schweigen über sie, eine Stille ganz besonderer Art, jene Stille, in der man schreien, toben, irgend etwas tun will, es aber nicht kann. Wie in einem Alptraum, in dem man dazu verdammt ist, zuzusehen, alles mit sich geschehen zu lassen, hockte Skar da und war sich seiner Hilflosigkeit bewußt. Und er spürte, wie das dünne Gefühl von Haß in seinem Inneren wuchs, wie der Panzer aus Willenskraft und Selbstbeherrschung, den er über die Abgründe seiner Seele gestülpt hatte, brüchig wurde. Noch hielt er, aber Skar spürte bereits, wie das furchtbare Ding in ihm kräftiger wurde.

An der Tür entstand ein Geräusch. Der Riegel wurde zurückgeschoben. Ein schmaler Lichtstreifen fiel in die Zelle, dann huschte eine gebückte, zwergenhafte Gestalt zu ihnen herein.

Skar musterte den Zwerg kalt. »Was willst du?« fragte er. »Schickt dich Vela?«

Tantor zog hastig die Tür hinter sich zu, eilte zu ihnen herüber und ließ sich vor Skar auf die Knie sinken. »Hör jetzt auf«, zischte er leise, als hätte er selbst hier drinnen Angst, belauscht zu werden. »Wir haben nicht viel Zeit. Hört mir zu.«

Skar verzog spöttisch die Lippen. »Du kannst ruhig laut reden«, sagte er abfällig. »Vela weiß alles. Sie weiß, daß du mich« - er betonte die Worte auf ganz eigene Art - »ins Vertrauen gezogen hast.«

Tantor schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich weiß«, sagte er gehetzt. »Und deshalb bin ich hier. Ihr müßt fort!«

»Sicher«, sagte Skar. »In einer Stunde, oder -«

»Unsinn«, unterbrach ihn Tantor. »Ihr müßt fliehen, Skar. Aus dieser Festung gibt es kein Entrinnen, aber auf dem Weg nach Cosh wird sich eine Gelegenheit bieten.«

Skar schwieg, doch Tantor schien seinen Blick richtig zu deuten. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte er. »Aber so, wie die Dinge liegen, hast du gar keine andere Wahl, als mir zu vertrauen. Ich helfe euch.«

»Du?« fragte Skar überrascht. »Du willst uns helfen? Warum denn?«

»Du kennst die Gründe.« Tantor sprach schnell, gehetzt. Sein Blick irrte immer wieder zur Tür, und seine Hände vollführten kleine nervöse Bewegungen unter seinem Cape. »Sie ist wahnsinnig. Und sie wird erreichen, was sie will, wenn du länger in ihrer Nähe bist, Skar. Ich weiß nicht, wie du es hältst, aber ich will nicht sterben, und ich will auch nicht zu einem lebenden Toten werden wie ihre Krieger. Sie ... sie weiß, daß ich sie hintergangen habe, und sie wird mich dafür bestrafen. Wenn du länger in ihrer Nähe bist, wird ihre Macht ins Unermeßliche steigen.«

»Und wie soll das vonstatten gehen?«

»Laßt das meine Sorge sein«, antwortete Tantor. »Ich war bereits bei den Sumpfleuten und habe sie über meinen Plan informiert. Er ist riskant, aber wir haben nichts zu verlieren.«

Gowenna setzte sich mühsam auf. »Und welche Bedingung knüpfst du daran?« fragte sie. Ihre Stimme klang plötzlich ganz ruhig, aber Skar entging der angespannte Unterton in ihren Worten nicht.

»Nur eine«, sagte Tantor. »Ihr nehmt mich mit. Allem wird es keinem von uns gelingen, zu entkommen. Zusammen haben wir eine Chance.«

Skar nickte. »Dein Vorschlag hört sich gut an. Aber er hat einen Fehler - ich traue dir nicht.«

Tantor lachte. »Das ist dein Problem, Skar. Aber ich wüßte nicht, was du verlieren könntest - außer deinem Leben. Und glaube mir - wenn du bei Vela bleibst, wirst du bald nach dem Tod schreien.« Er zögerte, griff unter sein Cape und drückte Skar einen flachen Lederbeutel in die Hand. »Nimm das«, sagte er, »und versteck es gut. Sie wird dich in Ketten legen lassen. Wenn ich dir das Zeichen gebe, streust du den Inhalt auf das Metall und zählst bis hundert. Danach wird das Eisen für kurze Zeit brüchig werden, so daß du die Ketten sprengen kannst.«

Skar drehte den Beutel mißtrauisch in den Händen. »Was ist das?« fragte er. »Wieder eines von deinen Zaubermitteln?«

»Ich bin sowenig Zauberer wie du«, knurrte Tantor. »Ich verstehe nur ein wenig mehr vom Aufbau der Dinge. Und jetzt frag nicht weiter. Ich muß weg.«

Er wollte aufstehen und gehen, aber Skar hielt ihn mit einem raschen Griff am Umhang zurück.

»Auf ein Wort noch, Tantor«, sagte er.

Der Gnom knurrte ungeduldig und versuchte sein Cape loszureißen, aber Skar hielt weiter fest. Der Stoff ächzte hörbar. »Was?«

»Was geschieht, wenn unsere Flucht fehlschlägt - falls wir uns entschließen, zu flüchten?«

»Was soll geschehen? Sie wird uns alle töten. Mit Ausnahme von dir, vielleicht.«

»Und trotzdem hilfst du uns?«

»Quatsch«, sagte Tantor. »Ich helfe mir, Satai. Ich will weg von ihr, aber allein habe ich keine Chance. Der einzige Grund, aus dem ich euch helfe, ist, weil ihr mir helfen müßt. Ihre Krieger würden mich fassen, lange bevor ich irgendeine Stadt oder einen anderen sicheren Ort erreichen könnte. Die einzige Sicherheit im Umkreis von hundert Tagesritten bilden die Sümpfe von Cosh. Und ohne die beiden Sumpfbrüder hätte ich wohl keine große Aussicht, sie lebend zu durchqueren. Und die gehen nun einmal nicht ohne euch. Und jetzt laß los!«

Skar schüttelte abermals den Kopf. »Noch eine Frage, Tantor«, sagte er. »Warum dieser plötzliche Aufbruch?«

»Es ist kein Aufbruch«, murmelte Tantor. »Sie flieht.«

»Flieht?« wiederholte Skar verblüfft. »Vela flieht? Vor wem?«

»Das weiß ich sowenig wie du, Skar«, antwortete Tantor. »Doch bei Sonnenaufgang kam eine unserer Patrouillen zurück. Sie waren zu sechst, als sie aufbrachen, und nur zwei kehrten zurück. Ich weiß nicht, welche Kunde sie brachten - Vela ließ sie sofort zu sich bringen, und seither sind sie verschwunden. Aber kurz darauf begann sie mit den Vorbereitungen für den Abmarsch.«

»Vela flieht...«, wiederholte Skar nachdenklich. »Aber vor...«

»Vielleicht vor diesen Kreaturen, auf die wir unterwegs gestoßen sind«, vermutete Gowenna.

Tantor riß sein Cape nun endgültig los und wich mit zwei schnellen Schritten zur Tür zurück. »Wohl kaum«, sagte er. »Ich weiß sowenig wie ihr, welcher Gegner fähig sein sollte, Vela und ihrem Drachen Angst einzujagen. Und ich hoffe bei allen Göttern, die die Menschen Enwors jemals angebetet haben, daß ich es niemals herausfinde.« Damit wandte er sich endgültig um und verließ die Zelle. Der Riegel rastete ein, und die Schritte des Zwerges verklangen draußen auf dem Gang.

Skar drehte den Lederbeutel, den ihm Tantor gegeben hatte, unentschlossen in der Hand. Nach einer Weile kroch er - ohne sich die Mühe zu machen, für die drei Schritte aufzustehen - auf Händen und Knien zu Gowenna zurück.

»Was hältst du davon?« fragte er.

»Wovon? Von Velas Flucht oder von Tantors Angebot?«

»Von beidem«, murmelte Skar. »Mir erscheint das eine so unglaubhaft wie das andere.«

»Ich glaube nicht, daß es eine Rolle spielt, was ich oder du davon halten«, antwortete sie. »In einem hat Tantor recht - wir haben nichts zu verlieren. Vielleicht ist es ein neuer Trick von ihr, vielleicht nicht.«

»Ein neuer Trick? Du meinst - uns entkommen zu lassen, nur um uns später wieder einzufangen?«

»Warum nicht? Sie liebt grausame Spiele.« Gowenna stockte, sah an Skar vorbei in das blakende Feuer der Fackeln und tastete mit einer unbewußten Bewegung nach Skars Hand. Ihre Haut war kalt und trocken, und obwohl ihre Stimme in den letzten Minuten zunehmend kräftiger geworden war, spürte er, daß sie noch immer vor Schwäche zitterte.

Zu seiner Überraschung fuhr sie fort: »Wir sollten es tun.«

»Fliehen?«

Gowenna nickte. »Mehr als den Tod können wir nicht finden, Skar. Und ich sterbe lieber, statt weiter in ihrer Gewalt zu sein.«

Mehr als den Tod können wir nicht finden ... Skar wiederholte den Satz ein paarmal in Gedanken, und mit jedem Mal, da er es tat, schienen die Worte spöttischer und unglaubhafter zu klingen. Mehr als den Tod ... Nein, mehr sicher nicht.

Aber war es nicht Gowenna selbst gewesen, die ihm gesagt hatte, daß es Schlimmeres als den Tod gab?

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