10.

Den Rest der Nacht ritten sie nach Süden. Der Sturm blieb hinter ihnen zurück, und auch der Wind drehte sich, kaum daß sie die Brücke überquert hatten, wieder in die gewohnte Richtung. Sie wurden getrennt - je vier der schweigenden Krieger umringten Gowenna und die beiden Sumpfbrüder, ihm selbst teilte Tantor eine Eskorte von sechs Männern zu. Skar hätte darüber gelacht, wenn ihre Situation nicht so ernst gewesen wäre. Er hätte nicht einmal mehr die Kraft gehabt, es mit einem der Soldaten aufzunehmen und - was das Schlimmste war und ihn trotz der Lethargie, in die er verfallen war, noch immer erschreckte - er wollte auch nicht mehr. Er hatte dort auf der Brücke mehr verloren als einen Kampf. Er war müde - eine Müdigkeit, die sich nicht allein auf seinen Körper beschränkte.

Als der Morgen dämmerte, rasteten sie im Schutz einer Ruine, in der sich ein Lager mit Lebensmitteln, Feuerholz und Wasser befand. Skar wurde von seinen sechs Wächtern sorgfältig abgeschirmt und bekam nicht einmal Gelegenheit, auch nur einen Blick mit Gowenna oder einem der Sumpfleute zu wechseln. Wasser und Schalen mit kaltem Fleisch wurden herumgereicht, aber Skar lehnte beides ab, obwohl ihn der Ritt erneut hatte hungrig werden lassen. Er hockte sich in eine Ecke, schloß die Augen und versuchte die Anwesenheit seiner Bewacher so gut es ging zu vergessen. Trotz allem forderten die zwei Tage und Nächte, die er jetzt fast pausenlos auf den Beinen war, nun ihren Preis - er schlief ein, schrak aber fast sofort wieder hoch, als das Geräusch von Schritten in seinen Schlummer drang. Im ersten Moment sah er nichts als graue Schemen. Er blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und erkannte einen verschwommenen roten Fleck.

»Ich höre, daß du nicht ißt und trinkst«, sagte Tantor.

Skar fuhr sich noch einmal mit den Knöcheln über die Augen, gähnte ungeniert und setzte sich auf. Sein Gesicht befand sich jetzt mit dem des Zwerges auf gleicher Höhe.

»Offenbar redest du auch nicht mehr«, fuhr Tantor fort, als Skar nach einer Weile noch nicht geantwortet hatte.

Skar lächelte, setzte sich noch weiter auf und bettete den Kopf gegen den kühlen Stein. Die Soldaten hatten ein Feuer entzündet, aber seine Wärme reichte nicht, um das klamme Gefühl aus Skars Gliedern zu verjagen.

Tantor maß ihn mit einen undefinierbaren Blick, wandte sich dann in einer abrupten Bewegung an die sitzenden Krieger und stieß einen scharfen Befehl aus. Die Männer erhoben sich stumm und gingen.

Skar runzelte die Stirn. »Du schickst deine Wachhunde weg?« fragte er mit gespielter Überraschung. »Hast du keine Angst, daß ich endlich das tue, was ich in Ikne versäumt habe, und dir den Hals umdrehe?«

Tantor grinste. »Es ist nicht notwendig, daß du den starken Mann spielst, Skar«, antwortete er. »Du bist es nicht. Außerdem sind wir allein, und du hast kein Publikum.«

Skar starrte den Zwerg finster an. »Was willst du?« fragte er grob.

»Mit dir reden, was sonst?« Tantor zuckte mit den Achseln, ließ sich dicht neben dem Feuer nieder und kreuzte die Beine. Sein Umhang klaffte ein wenig auseinander, und Skar sah, daß er trotz der Kälte darunter nur ein dünnes, ärmelloses Hemd trug. Er hatte nie zuvor bemerkt, wie dürr der Zwerg wirklich war. Tantor schien nicht mehr als ein mit Haut überzogenes Skelett zu sein; selbst sein Kopf, nur so groß wie der eines Kindes, wirkte auf diesem Körper wie der Schädel eines Riesen. Für einen Moment überkam Skar fast so etwas wie Mitleid. Jemand, den das Schicksal mit einem so mißgestalteten Körper geschlagen hatte, konnte vielleicht gar nicht anders sein, als böse und verschlagen.

Tantor beugte sich ächzend zur Seite, nahm eine Bratenscheibe aus der Schale, die die Krieger stehengelassen hatten, und begann lustlos daran herumzuknabbern.

»Willst du nicht doch?« fragte er mit einer einladenden Geste. »Es nutzt dir nicht viel, wenn du in einen Hungerstreik trittst, weißt du?«

Skar schüttelte ärgerlich den Kopf. »Du wolltest mit mir reden«, sagte er grob. »Also rede, oder laß mich in Ruhe!« Tantor starrte ihn einen Herzschlag lang verblüfft an und begann plötzlich aus vollem Hals zu lachen. »Ich glaube, du änderst dich nie, Skar. Wüßte ich es nicht besser, dann kämen mir ernsthafte Zweifel, wer von uns beiden der Besiegte ist.«

»Besiegt hast du mich nicht, Tantor«, sagte Skar mit Nachdruck.

Tantor machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das spielt wohl im Moment keine Rolle«, sagte er. »Außerdem - du bist in meiner Gewalt, und das allein zählt.«

»Wenn du gekommen bist, um mir nur das zu sagen, dann verschwendest du deine Zeit«, knurrte Skar. »Ich habe es bemerkt.«

»Leider zu spät«, erwiderte Tantor gelassen. »Du hättest wirklich auf meinen Rat hören und nach Hause gehen sollen, Satai. Damals meinte ich es ehrlich.«

»Und jetzt nicht mehr?«

Tantor setzte sich auf, warf den Rest seines Fleisches ins Feuer und wischte sich die Hände an einem Zipfel seines Umhangs ab. »Meine Absichten spielen jetzt keine Rolle mehr«, sagte er ernsthaft. »Ich habe einmal gegen Velas Willen gehandelt, und du kannst gewiß sein, daß ich es kein zweites Mal mehr tun werde. Mach mich nicht für das verantwortlich, was jetzt geschehen ist. Ich bin nur Velas Arm, mehr nicht. Täte ich nicht, was sie befiehlt, so täte es ein anderer.«

»Wie bequem«, sagte Skar. »Irgendwie kommen mir diese Worte bekannt vor. Aber verrate mir eines, Tantor - damals vor Combat wollte sie uns töten.«

»Das stimmt nicht, Skar. Wenn es in -«

»Jedenfalls hat sie es in Kauf genommen, daß wir sterben«, fuhr Skar ungerührt fort. »Ich gebe zu, daß wir in deiner Schuld stehen. Ohne deine Heilkräuter und das Wasser wären wir umgekommen. Gowenna zumindest. Und jetzt seid ihr plötzlich daran interessiert, uns lebend in die Hände zu bekommen? Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel?«

Tantor zuckte die Schultern. »Wer sagt dir, daß es so ist?« fragte er lauernd.

»Die Anwesenheit von zwei Dutzend Kriegern und einem häßlichen Gnom«, gab Skar ruhig zurück. »Um uns zu töten, hätten ein paar Bogenschützen gereicht. Oder diese Kreaturen. Was waren das für Bestien?«

Tantor überging den letzten Teil der Frage. »Nimm an, uns ist wirklich daran gelegen, euch lebend in die Hände zu bekommen«, sagte er. »Und nimm weiter an, daß ich noch immer dein Freund bin.«

»Wenn du mein Freund bist«, sagte Skar ernsthaft, »dann danke ich den Göttern, daß ich meine Feinde noch nicht kennengelernt habe.«

Tantor schnitt eine Grimasse, beugte sich vor und deutete mit einem seiner spitzen Spinnenfinger auf Skars Brust, als wolle er ihn aufspießen. »Du bist entschieden nicht in der Lage, Scherze zu treiben, Satai«, sagte er ruhig. »Und mir kommen allmählich Zweifel, ob es Sinn hat, meine Zeit mit dir zu verschwenden.«

»Verzeiht, großer Meister«, sagte Skar mit übertrieben gespielter Zerknirschung. »Ich gelobe, es nie wieder zu tun.«

Tantor maß ihn mit einem wütenden Blick, ging aber nicht weiter auf seine Worte ein. »Hör mir zu, Satai«, sagte er. »Hör mir einfach nur zu und entscheide dich später. Auch, wenn du es anscheinend nicht begreifen willst, aber ich bin dein Freund. Oder - wenn dir das Wort lieber ist - dein Verbündeter. Wir beide stehen nämlich auf der gleichen Seite.«

»O ja«, sagte Skar spöttisch. »Auf der richtigen, nicht?«

Zwischen Tantors Brauen entstand eine steile Falte. »Ich habe einmal versucht, euch zu helfen, Skar«, fuhr er unbeeindruckt fort, »und das, was geschehen ist, sollte mich lehren, es nicht wieder zu tun. Aber ich werde es trotzdem versuchen.« Er brach ab, sah sich mit einem raschen Blick nach beiden Seiten um, als hätte er plötzlich Angst, belauscht zu werden, und fuhr, rascher und mit gesenkter Stimme, fort: »Ich will dir sagen, warum wir strengen Befehl hatten, dich lebend zu fangen, Skar. Weil wir dich brauchen. Weil Vela dich braucht.«

Skars Blick verdüsterte sich. »Wozu?« erwiderte er. »Sie hat doch schon einen Satai. Oder ist ihr Del nicht mehr gut genug?« Tantor machte ein ungeduldige Handbewegung. »Hör endlich auf, Skar. Die Zeit wird knapp, und vielleicht ist dies das letzte Mal, daß ich allein mit dir reden kann. Sie hat einen Fehler begangen.«

»Ja«, stimmte Skar zu. »Sie hätte mich wirklich vergiften sollen.«

»Der Stein der Macht«, fuhr Tantor, der nun offenbar beschlossen hatte, Skars verletzenden Spott zu ignorieren, fort, »ist wertlos für sie.«

Skar war für einen Moment starr vor Überraschung.

»Jedenfalls so, wie es im Moment aussieht«, fügte Tantor nach einer angemessenen Pause hinzu.

»Wertlos?« fragte Skar verwirrt. »Was soll das heißen? Und warum erzählst du mir das?«

»Weil es offenbar die einzige Möglichkeit ist, dich zum Zuhören zu bewegen«, knurrte Tantor ungeduldig. »Ich weiß nicht warum, und ich glaube, nicht einmal Vela selbst weiß es genau, aber es sieht so aus, als wäre der Stein ohne dich nur ein wertloses Juwel. Wir brauchen dich, Skar.«

»Mich?«

»Dich oder einen Mann wie dich«, sagte Tantor ungeduldig. »Das bleibt sich gleich. Du bist sicher nicht der einzige Mensch auf Enwor, der die Macht hätte, den Stein zum Leben zu erwecken, aber wir haben nicht die Zeit, nach einem anderen zu suchen.«

»Ich weiß nicht, von welcher Macht du sprichst«, sagte Skar hilflos.

Tantor sah ihn sekundenlang durchdringend an. »Seltsam«, murmelte er. »aber ich glaube dir sogar. Trotzdem ist es so, wie ich sagte. Hat dir Gowenna nie erzählt, wie lange wir nach dir gesucht haben?«

Skar war versucht, nein zu sagen, nickte aber dann doch. »Das hat sie. Doch ich habe nicht begriffen, warum.«

»Wenn man dich reden hört, dann begreift man es wirklich nicht«, seufzte Tantor. »Und doch ist es so. Gowenna war vor dir in Combat, und vor und nach ihr waren andere da. Keiner ist dem Stein auch nur nahe gekommen. Keiner außer dir. Frag mich jetzt nicht, warum das so ist - ich weiß es nicht. Vela hat selbst vor mir Geheimnisse, wenn auch lange nicht so viele, wie sie selbst annimmt.«

»Aber ich habe diesen verdammten Kiesel geholt!« begehrte Skar auf. »Sie hat, was sie will! Warum läßt sie Del und mich nicht ziehen?«

»Sie hat es eben nicht«, sagte Tantor niedergeschlagen. »Du hast diesen Stein geholt, Skar. Combat hat dir seinen Schatz anvertraut, und so, wie die Dinge liegen, bist du der einzige, der seine Macht wecken kann. Sie braucht dich. Dich oder die Kraft, die in dir schlummert.«

Die Kraft, die in dir schlummert... Skar lauschte in sich hinein, aber da war nichts. Sein Dunkler Bruder war noch da, ständig wach jetzt, aber nicht aktiv. Konnte es das sein, wovon Tantor sprach - dieses unselige, böse Ding in ihm, das ganz nach Belieben Gewalt über seine Seele erlangte und ihn zum Killer werden ließ, zu einem Ding, vor dem er sich selbst fürchtete? Unsinn.

»Und du glaubst, ich wäre in der Lage, all das zu tun, was ihr von mir verlangt?« fragte er schwerfällig.

»Es ist unsere letzte Hoffnung«, sagte Tantor ernsthaft. »Wenn nicht alles umsonst gewesen sein soll.«

»Selbst wenn es so wäre, was glaubst du, was ich täte, wenn ich den Stein der Macht in Händen hielte, Tantor? Hältst du Vela für so dumm, mir zu vertrauen, nach allem, was sie mir angetan hat?«

»Mit Sicherheit nicht«, antwortete Tantor. Er schien den Einwand erwartet zu haben. »Aber sie hat Mittel, dich gefügig zu machen. Del ist noch immer in ihrer Gewalt.«

Skar schwieg einen Moment. »Du kennst uns Satai nicht, wenn du dir einbildest, wir würden Rücksicht aufeinander nehmen«, sagte er dann. »Nicht, wenn so viel auf dem Spiel steht.«

Tantor seufzte erneut und rang in einer fast komisch anmutenden Geste die Hände. »Vielleicht kenne ich euch Satai wirklich nicht, aber ich kenne dich, Skar. Du bist kein Satai. Nicht wirklich.«

Skar wollte widersprechen, aber Tantor fuhr mit erhobener Stimme fort: »Sicher - du beherrscht die Kampfkünste eines Satai, du lebst wie ein Satai und denkst wie ein Satai. Aber das macht dich noch lange nicht zu einem Satai, ebensowenig, wie es Gowenna zu einer Errish macht, die Künste der Ehrwürdigen Frauen zu beherrschen. Wäre es, wie du sagst, so wärest du nicht hier. Ich weiß - du wirst jetzt sagen, du hättest dich nur zum Schein gefügt, um Velas Vorhaben zu durchkreuzen, nicht, weil du glaubtest, vergiftet zu sein oder Del in ihrer Gewalt zu wissen. Und du wirst sagen, daß du Gowenna nur begleitet hast, um zu verhindern, daß Vela mit dem Stein der Macht Unheil anrichtet. Humbug! Die hunderte Tage Frist, die du hattest, hätten mehr als nur ausgereicht, zum Berg der Götter zu reiten und den Rat der Satai zu alarmieren. Der Bund der Dreizehn hätte Mittel und Wege gefunden, Velas Pläne zu durchkreuzen. Du bist mitgekommen, weil Del dein Freund ist, weil du um sein Leben fürchtetest, und aus dem gleichen Grund hast du Gowenna in den Bergen nicht verlassen, sondern sie begleitet, hierher, obwohl du wußtest, was dich erwartet.« Er schwieg einen Moment, um seine Worte gebührend wirken zu lassen, lehnte sich dann zurück und redete leiser und in ruhigem Tonfall weiter: »Sie wird dich gefügig machen, auf die eine oder andere Weise, Skar, verlaß dich darauf. Sie braucht dich - mehr noch, sie will dich, und wenn ich jemals einen Menschen kennengelernt habe, der alles bekommt, was er will, so ist es Vela.«

»Und warum erzählst du mir das alles?«

Tantor lächelte; es war ein seltsames, unsicheres Lächeln, das zum ersten Mal, seit Skar den Zwerg kannte, echt wirkte. »Vielleicht, weil ich selbst Angst vor ihr habe«, murmelte er. »Vielleicht, weil ich einen Verbündeten brauche.«

»Einen Verbündeten?« echote Skar. »Mich?«

»Glaubst du, es bereitet mir Freude, für sie zu arbeiten?« gab Tantor scharf zurück. »Sie zwingt mich dazu, so, wie sie dich zwingt oder Del oder jeden einzelnen dieser Krieger. Sie ist kein Mensch, Skar. Diese Frau ist eine Bestie. Sie ist zerfressen von Haß und dem Gedanken an Rache.«

Skar starrte lange und wortlos zu Boden. Es war nicht das erste Mal, daß er über Vela sprach, und irgendwie kam ihm die Situation mit jedem Augenblick absurder vor. Er hatte mit Gowenna, einem Menschen, der an nichts anderes dachte als daran, Vela zu töten, geredet, und sie hatte sie verteidigt, und jetzt sprach er mit Tantor, ihrem rechten Arm, und er bezeichnete sie als Bestie. Und irgendwie hatte er das Gefühl, daß keiner von ihnen recht hatte. »Du glaubst mir nicht, nicht wahr?« krächzte Tantor. »Du hast mit Gowenna gesprochen, und sie hat dir erzählt, wie gut und edel Vela ist, wie sanft und voller Liebe. So voller Liebe, daß sie ihr Ungeheuer auf den einzigen Menschen gehetzt hat, der ihr grenzenlos vertraute.« Er machte ein halb wütendes, halb abfälliges Geräusch, schlug die Faust in die geöffnete Linke und stieß mit dem Fuß in die Flammen. Brennende Äste und Funken stoben auseinander.

»Vielleicht hat sie recht«, murmelte er. »Vielleicht war Vela so, damals, als sie sie kennenlernte. Aber wenn, dann ist sie heute nicht mehr der Mensch, den Gowenna kannte. Sie war zu lange hier, Skar, in Tuan, und dieses Land ist böse. Spürst du deinen Atem nicht. Fühlst du nicht, wie es sich in deine Seele schleicht und sie tötet, langsam, aber unbarmherzig?« Er sah auf und machte eine weit ausholende Handbewegung, die von einem Horizont zum anderen reichte. »Die Götter haben dieses Land verbrannt, Skar, mit dem Feuer der Hölle, und sie wußten, warum sie es taten. Du hast gesehen, wozu seine Bewohner fähig waren. Du warst in Combat, und du hast die Toten Ebenen durchstreift. Sie waren Menschen mit der Macht von Göttern, aber sie zahlten dafür mit dem Verlust ihrer Seele. Und der Atem Tuans weht noch immer. Sieh dir die Krieger an. Sieh sie dir an, jeden einzelnen. Sie sind krank. Ihre Körper sind vergiftet. Sie verfaulen bei lebendigem Leib, und sie merken es nicht einmal. Und die, die fähig sind, sich davor zu schützen, verbrennen auf andere Weise. Vela hat länger hier gelebt als irgendein anderer Mensch vorher. Die Jahre, die Gowenna bei den Sumpfleuten verbrachte, verbrachte sie hier. Sie hat den Preis dafür gezahlt.«

»Hier?« sagte Skar zweifelnd.

»In der Stadt, zu der wir reiten«, knurrte Tantor. »Was glaubst du, woher sie ihr Wissen über die Alten Götter und Combat hat? Woher sie weiß, daß der Stein der Macht mehr als eine Legende ist? Vielleicht war es wirklich so, wie Gowenna dir erzählt hat, und sie kam hierher, um zu sterben, an den einzigen Ort auf der Welt, der einer Ausgestoßenen würdig ist. Aber sie fand nicht den Tod, sondern das Geheimnis der Götter.«

Tantor brach ab, erschöpft von seiner Rede und der Eindringlichkeit, die er in seine Worte gelegt hatte, und auch Skar schwieg für endlose, quälende Minuten.

»Selbst wenn du die Wahrheit sprichst«, sagte er dann, »selbst wenn alles so ist, wie du sagtest - was erwartest du von mir? Du hast selbst gesagt, sie wird Mittel finden, mich gefügig zu machen.«

»Du sollst mir vertrauen, Skar, mehr nicht«, antwortete Tantor. »Ich weiß, es ist viel verlangt, nach allem. Aber wenn du mir nicht vertrauen kannst, so vergiß wenigstens nie, welche Macht du in Händen hältst. Auch wenn es eine Macht ist, die du nicht anwenden kannst.«

»Was meinst du?«

Tantor starrte einen Moment in die Flammen, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und nahm einen Glassplitter auf, um nervös damit zu spielen.

»Du erinnerst dich an die beiden Panzerriesen?« fragte er. »Die Wesen, die El-tra und dich besiegten?«

Skar nickte. Die Giganten waren ihnen nicht weiter gefolgt, aber er würde den Anblick nie wieder vergessen können. »Was du gesehen hast, war nur ein winziger Teil der Macht, die noch immer unter dem verbrannten Gesicht dieses Landes schlummert«, sagte Tantor. »Was glaubst du, was eine Armee dieser Ungeheuer anrichten kann. Einer von ihnen, Skar, ein einziger nur, reichte, um einen Satai und einen Sumpfmann zu besiegen, die beiden gefürchtetsten Krieger, die Enwor in hunderttausend Jahren hervorgebracht hat. Nur einer!«

Skar begriff nur allmählich, worauf Tantor hinauswollte. »Du meinst, sie ... Vela könnte mehr von diesen Bestien wecken?«

»Vela?« Tantor lachte meckernd. »Du, Skar! Du hast sie geweckt, nicht Vela, nicht ich oder irgendein anderer. Du allein! Tuan ist nicht tot! Er schläft, aber der Stein der Macht ermöglicht es seinem Besitzer, seine Kräfte zu beherrschen. Und du, Skar, du hast die Macht, es zu wecken.«

Skar schloß mit einem nur halbwegs unterdrückten Stöhnen die Augen. Er begriff plötzlich - endlich -, was Tantor ihm die ganze Zeit hatte sagen wollen, und die Erkenntnis traf ihn mit der Gewalt eines Keulenhiebes. In einer blitzartigen, bizarren Vision sah er sich selbst weiter durch Tuan ziehen, in seinem Kielwasser eine Armee von Monstern und Schrecken auferstehend, die durch seine bloße Anwesenheit aus ihrem äonenlangen Schlaf geweckt worden waren. Er hatte mehr getan, als einen Schatz aus einem Tempel zu stehlen. Er hatte eine Entwicklung in Gang gesetzt, deren Ende er nicht einmal erraten konnte. Plötzlich wußte er, was Gowenna gemeint hatte, als sie sagte, es reiche vollkommen aus, wenn er bei ihr war. Er mußte nichts tun. Er mußte nur da sein, mehr nicht. Er - etwas in ihm - war der Schrei, der Tuan wachrief. Und der Stein der Macht war der Schlüssel, es zu beherrschen. »Ich habe nicht gewußt, was das Wort Macht wirklich bedeutet, bevor ich dieses Land sah«, fuhr Tantor fort. Er starrte an Skar vorbei ins Leere, und es schien ihm auch vollkommen egal zu sein, ob Skar ihm überhaupt noch zuhörte. Er sprach nicht mit ihm, sondern eher in der Art eines Menschen, der sich etwas lange, zu lange Angestautes von der Seele redete. »Weißt du, was ein Mensch anrichten kann, der die Macht hat, einem Land so etwas anzutun?!« Die letzten drei Worte schrie er. Er fuhr plötzlich herum, hieb mit der Faust auf den zu Glas geschmolzenen Boden und starrte Skar aus weit aufgerissenen Augen an. »Du willst wissen, warum ich dir das alles erzähle«, keuchte er. »Ich habe Angst, Skar. Angst vor Vela, aber noch mehr Angst vor dir.«

»Dann töte mich«, murmelte Skar. Er erschrak selbst über seine Worte, aber sie sprudelten einfach aus ihm heraus, ohne daß er etwas dagegen tun konnte, einfach deshalb, weil sie die einzig logische Konsequenz aus Tantors Worten waren.

»Töten!« Tantor lachte bitter. »Ich habe daran gedacht«, gestand er. »Lange, Skar. Es hätte auch mich das Leben gekostet, aber das spielt keine Rolle.«

»Und warum hast du es dann nicht getan?«

Wieder lachte Tantor, und diesmal klang es eher wie ein Schmerzenslaut. »Weil es nichts ändern würde, Skar«, murmelte er. Er stand auf, zog - plötzlich wieder fröstelnd - seinen Umhang enger um die Schultern und wandte sich zum Gehen. »Weil es nichts ändern würde«, sagte er noch einmal. »Gar nichts.«

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