Irgend etwas stimmte nicht. Er hatte das Kastell verlassen, ohne aufgehalten oder auch nur angesprochen zu werden. Sein Pferd hatte gesattelt und fertig gerüstet neben dem Ausgang gestanden, als er die Wehrmauer verließ; wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, daß die Sumpfmänner seine Gedanken lasen, so war es dieser. Aber er verschwendete nicht mehr als eine halbe Sekunde an diesen Gedanken. Gowenna war im Inneren des Festungsgebäudes geblieben. Vielleicht wußte sie nicht, was er tat, vielleicht wußte sie es auch und respektierte seinen Wunsch, allein zu bleiben. Seitdem war er geritten, eine winzige Gestalt am Ende einer langsam länger werdenden Spur, die sich vom Kastell den Weg, den sie vor Tagesfrist gekommen waren, zurückschlängelte. Die Felsen wichen vor ihm auseinander, als er den Spalt am unteren Ende des Hanges durchschritten hatte, aber das gewaltige, schneebedeckte Plateau unter ihm war leer. Weder von Vela noch von ihren Kriegern zeigte sich die geringste Spur. Er war weiter geritten, über das Plateau, tiefer hinein in das Labyrinth aus Fels und glitzerndem Eis, in das der Winter das Vorgebirge verwandelt hatte. Er ritt eine Stunde, dann zwei, ohne auf ein Anzeichen des näherrückenden Heeres zu stoßen. Die Berge waren leer, tot, so tot wie Tuan, von dem sie nur der Fluß und ein schmaler Streifen der Sümpfe trennte.
Als die Sonne im Zenit stand, erreichte er den Fuß des Gebirges. Er tränkte sein Pferd, gönnte ihm und sich selbst eine halbe Stunde Rast und ritt weiter, auf das schimmernde weiße Band des Flusses zu. Irgendwo auf dem Weg zwischen ihm und den Bergen würde er auf Velas Armee stoßen. Die Späher, die El-tra ausgeschickt hatte, hatten berichtet, daß sie den Fluß bereits durchschritten hatte; vor Stunden, lange, bevor die Sonne aufging. Skar hatte damit gerechnet, sie irgendwo auf halbem Wege zwischen hier und dem Kastell zu treffen, aber aus irgendeinem Grund war sie nicht weitergezogen. Vielleicht, dachte er, um ihren Kriegern eine letzte Rast vor der Schlacht zu gönnen, wenige Stunden Schlaf, damit sie ausgeruht in den Kampf ziehen konnten.
Aber vielleicht wußte sie auch, daß er kommen würde, und wartete auf ihn. Die letzten Felsen blieben hinter ihm zurück, und vor ihm lag eine gewaltige, brettflache Ebene, bedeckt mit Schnee und Kälte, einer glitzernden weißen Decke, unversehrt; die Spuren ihres Gewaltmarsches waren mit dem Schnee der vergangenen Nacht getilgt. Hier und da wuchs ein verkrüppelter Baum, die Äste unter einem Panzer aus wasserklarem Eis zu toten Krallen erstarrt, und in weiter Ferne glaubte er ein paar dunkle, flache Umrisse zu erkennen, halb im Schnee vergraben und zu klein, um Menschen oder Pferde zu sein. Jetzt, als er mit dem Fluß auf gleicher Ebene war, konnte er ihn nicht mehr sehen. Es schneite nicht mehr, aber in der Luft lag ein feiner, trockener Nebel aus pulverigem Schnee, dem der Wind immer wieder neue Nahrung zuführte, so daß alles, was weiter als zwei-, dreihundert Fuß entfernt lag, nur mehr schemenhaft zu erkennen war. Der Horizont war verschwunden, aufgelöst in wirbelnden weißen Dunst.
Skar öffnete seinen Mantel, streifte ihn nach kurzem Zögern ganz ab und legte ihn zusammengefaltet vor sich auf den Sattel. Er war am Vortag zu müde gewesen, um noch auf seine Umgebung zu achten; die Trostlosigkeit und Kälte des Landes war ihm ebenso entgangen wie die genaue Entfernung zum Fluß. Aber er wußte, daß es nicht mehr weit sein konnte. Eine Meile, vielleicht zwei; mehr nicht.
Nach hundert Schritten fand er den ersten Toten.
Es war wie eine bizarre Wiederholung des ersten Males, als er einen der schwarzen, horngepanzerten Krieger gesehen hatte. Auch er lag, lang ausgestreckt und halb unter wehendem Schnee vergraben, auf dem Gesicht, die Hände in einer erstarrten Bewegung um den Griff eines Schwertes gekrampft, dessen Klinge zersplittert war. Aber er war nicht der Kälte oder dem Hunger zum Opfer gefallen, wie jener erste Krieger, den sie in Tuan gefunden hatten. Skar brachte sein Pferd dicht neben der reglosen Gestalt zum Stehen und beugte sich im Sattel vor. Er stieg nicht ab, aber was er vom Rücken des Tieres aus sah, ließ einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge entstehen. Der Schnee war, entlang der breiten, zerwühlten Spur, über die sich der Sterbende geschleppt hatte, schwarz vor geronnenem Blut und verklumpt. Die Rüstung war zerschmettert, aber es war nicht die Spur einer Waffe, die Skar sah; zumindest nicht die irgendeiner, die er gekannt hätte. Der Panzer schien wie von gewaltigen Hammerschlägern zertrümmert, eingedrückt und zerrissen wie dünnes Pergament; Skar war plötzlich froh, den geschundenen Körper darunter nicht sehen zu können. Er überlegte einen Moment, ob er absteigen und den Leichnam genauer untersuchen sollte, richtete sich aber dann im Sattel auf und sah konzentriert in die Richtung, in die die Spur des Kriegers wies. Der Wind frischte auf, und mit den eisigen Böen wurde auch das Schneetreiben stärker; Schnee, der nicht vom Himmel, sondern in tanzenden Schwaden vom Boden emporwirbelte, als wolle er ihm absichtlich den Blick auf das, was hinter ihm verborgen lag, verwehren.
Skar zog mit einer bedächtigen Bewegung sein Tschekal aus dem Gürtel, löste den runden, lederbezogenen Schild, den ihm die Sumpfleute mitgegeben hatten, vom Sattelgurt und streifte ihn über den linken Arm, ließ die Halteschlaufen jedoch absichtlich offen. Sein Pferd ging auf einen knappen Schenkeldruck hin weiter, aber seine Schritte schienen langsamer, zaghaft und beinahe widerwillig, als spüre es mit seinen feineren Instinkten eine Gefahr, die Skar selbst hinter dem tobenden Schneenebel nur erahnen konnte.
Skar lauschte, aber das monotone Heulen des Windes war das einzige Geräusch. Selbst die Hufschläge des Pferdes wurden von der knöcheltiefen Schneeschicht auf dem Boden verschluckt. Dann fand er den zweiten Toten. Er war halb begraben im Schnee, als hätte er versucht, sich in den hartgefrorenen Boden darunter zu verkriechen. Seine Rüstung war unbeschädigt, aber wo seine Beine sein sollten, waren nur zwei blutige Stümpfe. Neben seiner Spur war eine zweite, schmalere; ein dünner senkrechter Graben im Schnee, der im spitzen Winkel auf die Spur des Flüchtenden zustieß und sich mit ihr dort vereinigte, wo er gestorben war.
Skar ritt weiter. Er fand noch mehr Leichen, drei, fünf, dann eine ganze Gruppe, die sich wie eine Herde flüchtender Tiere aneinandergedrängt und gemeinsam versucht haben mußte, sich zu verteidigen. Die Spuren waren jetzt im einzelnen nicht mehr zu erkennen: Der Schnee war zertrampelt, besudelt mit Blut, übersät mit zertrümmerten Waffen und Bruchstücken von Rüstungen, mit Toten, manchmal auch nur mit abgeschlagenen, verstümmelten Gliedmaßen. Und es war still, unheimlich still. Skar kannte die bedrückende Ruhe eines Schlachtfeldes nach dem Kampf, aber dies hier war etwas anderes. Im Heulen des Windes schien Schweigen mitzuklingen, eine stumme, unhörbare und gleichzeitig unüberhörbare Drohung, nicht weiterzugehen, sondern umzudrehen und davonzureiten, so schnell er konnte. Aber er ritt weiter, zwang sich, jeden einzelnen Toten genau anzusehen und die dumpfe, quälende Angst zu ertragen. Schließlich tauchte ein gewaltiger grauer Schatten vor ihm auf, massig und groß wie ein Teil der Berge, durch einen bizarren Zauber hierherversetzt. Skar wußte, was es war, noch bevor er näher kam und aus dem Schatten ein Körper wurde, aus grauer Undeutlichkeit schuppige Platten und ein ungeheurer, borkiger Schlangenhals herauswuchsen, unmöglich verdreht und mehrfach gebrochen. Das Feuer in den tückischen roten Augen der Bestie war erloschen, die meisten ihrer handlangen, einwärts gekrümmten Reißzähne abgebrochen, zersplittert, als hätte sie versucht, auf Stahl zu beißen.
Skar ritt bis auf wenige Schritte an den gefallenen Koloß heran. Es gab hier keinen Schnee mehr. Der Boden war zerwühlt, ein Krater, aufgeworfen und verbrannt vom Säureatem der Bestie, zerfetzt vom Toben der ungeheuren Krallen, mit denen sie im Todeskampf um sich geschlagen hatte, blindwütig alles zermalmend, was in ihre Reichweite kam, selbst jetzt roch die Luft noch so durchdringend nach dem ätzenden Staub, daß Skar nur mühsam atmen konnte und schließlich ein paar Schritte zurückwich. Er stieg aus dem Sattel, legte Schild und Schwert aus der Hand und begann den gefallenen Koloß langsam zu umrunden. Er wußte nicht, was hier geschehen war, und er versuchte gar nicht erst, es sich vorzustellen, aber es mußte wie ein vorweggenommener Weltuntergang gewesen sein.
Die Panzerplatten des Ungeheuers waren zerborsten, zermalmt wie die Rüstungen der Toten, die er gefunden hatte, gebrochen unter Hieben, deren Gewalt sein Vorstellungsvermögen überstieg.
Er fand noch mehr Tote; Männer, die weniger in einem Kampf gefallen schienen als vielmehr gerissen worden waren, verstümmelt und zerfetzt von einer Bestie, der gleichen, gnadenlosen Gewalt, die auch den Drachen getötet hatte.
Dann fand er Del.
Er lag ein Stück abseits der anderen, auf halbem Weg zum Flußufer hin, eine verkrümmte, in schwarzes, zermalmtes Horn gehüllte Gestalt neben einem blutigen Bündel, das einmal ein Pferd gewesen sein mochte. Der Schnee unter seiner Rüstung war dunkel. Sein Tschekal lag noch neben ihm. Die Klinge aus graviertem Sternenstahl war gebrochen, zersplittert wie poröses Glas. Er mußte der erste gewesen sein, der sich den Angreifern entgegengeworfen hatte.
Und wahrscheinlich war er auch der erste gewesen, der gestorben war.