Er wußte nicht, wieviel Zeit verging - vielleicht waren es Stunden, vielleicht nur Augenblicke, die er reglos neben der geschundenen Gestalt verharrte und ins Leere starrte. Irgendwann begann sich der Wind zu legen. Die wirbelnden weißen Schwaden sanken langsam zu Boden und überdeckten den Kampfplatz mit einer dünnen, rotweiß gefleckten Decke, und irgendwann, noch später, hörte er gedämpften Hufschlag und wandte sich um. Der Schmerz, auf den er gewartet hatte, war nicht gekommen, aber es fiel ihm seltsam schwer, sich zu bewegen, zu denken, die grauen Gestalten, die einer nach der anderen aus dem Nebel hervorkamen, als das zu erkennen, was sie waren. Langsam, mit Bewegungen, die so mühsam waren, als schleppe er eine unsichtbare, zentnerschwere Last mit sich, ging er den Sumpfmännern entgegen. Seine Augen brannten. Etwas lief warm und salzig über sein Gesicht und seine Lippen. Er sah Gowenna, die zusammen mit ihren beiden Wächtern an der Spitze der Kolonne ritt, nur noch wie durch einen durchsichtigen, wogenden Schleier. Ihr Gesicht wirkte bleich, blasser noch als der Schnee zu ihren Füßen.
»Ich ... weiß nicht, wie du das gemacht hast«, begann sie, sprach aber nicht weiter, als Skar den Kopf schüttelte.
»Ich habe das nicht getan«, sagte er leise. »Ich fand diesen Platz so vor, wie du ihn siehst.« Plötzlich hatte er Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Seine Hände zuckten, und irgendwo, tief in seinem Inneren, begann sich ein Gefühl zu formen, das jenseits von Schmerz und Verzweiflung war.
»Was... ist mit Vela?« fragte Gowenna stockend. »Ist sie -« Sie brach erneut ab, als sie den Ausdruck ins Skars Augen sah. Ihr Blick wanderte an ihm vorbei, glitt über die blutbefleckte Schneedecke und blieb für endlose Sekunden an dem verkrümmelten schwarzen Bündel im Schnee hängen.
»Del?« flüsterte sie.
Skar nickte. Er wollte etwas sagen, irgend etwas, sinnlose Worte, nur, um nicht länger reglos dazustehen und Gefangener der Qual zu sein, die das Vakuum in seinen Gedanken langsam auszufüllen begann, aber es ging nicht. Die Sumpfmänner begannen aus den Sätteln zu steigen und die Toten zu untersuchen. El-tra und sein Bruder eilten an Skar vorbei und knieten neben Dels Leichnam nieder; er konnte nicht erkennen, was sie taten. Es interessierte ihn auch nicht. Er spürte nicht einmal, daß Gowenna ihn ansprach. Erst als sie ihn am Arm faßte und ihn schüttelte, wandte er müde den Kopf und sah zu ihr hinauf.
»Es tut mir leid, Skar«, sagte sie leise. »Wir ... sollten zurückreiten zum Kastell. Du kannst hier nichts mehr tun.«
Skar sah noch einmal zu Del hinüber. Die beiden Sumpfmänner knieten rechts und links von ihm im Schnee, ihre Hände lagen flach auf Gesicht und Brust des toten Satai. Dann wandte er sich mit einem Ruck um und sprang neben Gowenna in den Sattel. Aber er ritt noch nicht los. Sein Blick glitt über den Fluß, bohrte sich in den grauweißen Nebel, der das jenseitige Ufer verschleierte, und als hätte die Natur auf dieses Zeichen von ihm gewartet, fauchte eine Windbö heran und riß die wehenden Schleier auseinander.
Am jenseitigen Ufer des Flusses stand ein Wolf, ein gewaltiges, schwarzes Tier aus gemeißeltem Granit und erstarrten Flammen, so groß wie ein Kalb und schwarz wie die Hölle. Er regte sich nicht, sondern stand einfach da und sah ihn an, und das einzige Leben an ihm war das Lohen in seinen Augen.
Der Vorhang aus Nebel und sprühendem Dunst schloß sich wieder, so rasch, daß Skar sicher war, der einzige gewesen zu sein, der das Tier gesehen hatte. Aber er wußte jetzt, daß es da war, dort drüben, nicht einmal eine Pfeilschußweite entfernt, unsichtbar und lautlos, so, wie es ihn die ganze Zeit über begleitet hatte: Combats Fluch und Wächter, der Hüter des Steines, Wächter, Bewahrer und Vollstrecker in einem. Und Skar wußte ebenso, daß dieses Wesen nicht eher ruhen würde, bis der Frevel, der an der Heiligen Stadt begangen worden war, gesühnt war. »Warum tötest du mich nicht?« flüsterte er. Aber er wußte die Antwort im gleichen Moment, in dem er die Worte aussprach.
Gowenna sah ihn irritiert an. »Was meinst du?«
Skar schüttelte hastig den Kopf. »Nichts«, murmelte er. »Ich habe nur laut gedacht. Vergiß es.« Er zwang sein Pferd herum, preßte ihm die Schenkel in die Flanken und ritt an Gowennas Seite los. Sein Blick glitt nach Norden, dorthin, wo sich hinter den grauen Felsen des Schattengebirges Elay verbarg. Elay, das Land der Ehrwürdigen Frauen und der Drachen - das Land und die Stadt, die Velas Ziel waren. Er wußte, daß sie noch lebte. Er wußte, daß sie auf ihn warten würde, und diesmal, dachte er entschlossen, diesmal würde er sie nicht warten lassen.
Sie sollte erfahren, was es hieß, die Rache eines Satai herauszufordern.
ENDE DES ZWEITEN TEILES