Gowenna kehrte nach Mitternacht ins Lager zurück. Skar hatte den Rest des Tages in seiner Unterkunft verbracht und war nur einmal aufgestanden, als Kor-tel hereinkam und die Verbände an seinen Beinen wechselte. Er hatte die Wunden gesehen, die der gläserne Tod geschlagen hatte - unzählige schmale, wie mit dünnen Dolchen gezogene Schnitte, die teilweise bis auf den Knochen gingen - aber der Anblick hatte ihn kaum berührt; der Schmerz in seinem Inneren war schlimmer. Lange nach Sonnenuntergang war er eingeschlafen, und es war - anders, als er erwartet hatte - ein tiefer und traumloser Schlaf gewesen, als wäre sein Geist selbst zum Träumen zu erschöpft, erschöpft von dem Kampf, der in seinem Inneren stattgefunden hatte.
Donnernder Hufschlag weckte ihn. Er fuhr auf, für einen Moment desorientiert und hilflos. Durch die dünnen Wände der Hütte drangen aufgeregte Stimmen: das Organ Gowennas, aber auch Worte in der kehligen schnellen Sprache der Sumpfleute, dazwischen das unruhige Stampfen von Pferden und das Klirren von Geschirr.
Er stand auf, warf sich die Decke, unter der er geschlafen hatte, wie einen Mantel um die Schultern und verließ die Hütte.
Die Lichtung war vom Schein zahlreicher Fackeln erhellt. Skar schätzte, daß etwa dreißig bis vierzig der Sumpfleute zusammengekommen waren; mehr als er jemals auf einmal gesehen hatte. Die meisten von ihnen drängten sich eng um Gowenna, die noch immer auf dem Rücken ihres Pferdes saß und mit erhobener Stimme auf die Menge einredete. Skar verstand die Worte nicht, aber ihrer Gestik und der erregten, schnellen Art, in der sie sprach nach zu urteilen, schienen es keine guten Nachrichten zu sein, die sie brachte.
Als sie Skar sah, sprang sie mit einer zornigen Bewegung aus dem Sattel, bahnte sich einen Weg durch die Sumpfleute und kam mit weit ausgreifenden, energischen Schritten auf ihn zu.
»Du hast es also wirklich getan!« begann sie übergangslos. Skar blinzelte. »Was?« fragte er verwirrt. »Ich habe geschlafen, bis du angefangen hast, den halben Sumpf zusammenzuschreien und -«
»Du weißt genau, was ich meine!« unterbrach ihn Gowenna. Ihre Stimme zitterte vor Erregung. Als sie näher kam, sah Skar, daß ihre Kleider in großen, dunklen Flecken an ihrem Körper klebten. Sie mußte wie von Furien gehetzt geritten sein. »Du hast ihn gehenlassen! Kor-tel hat es mir gesagt. Du hast Del fortgeschickt.«
»Ich habe ihn nicht fortgeschickt«, sagte Skar ruhig. »Er ist gegangen.«
»Hör auf!« schrie Gowenna. »Ich habe keine Lust mehr, mir deine Haarspaltereien anzuhören. Du hast ihn weggeschickt, und er ist jetzt wahrscheinlich schon auf halbem Wege zu dieser Hexe! Du verdammter Narr hattest nicht einmal genug Geduld, meine Rückkehr abzuwarten.«
Skar trat mit einem raschen Schritt auf sie zu, packte ihr Handgelenk und drückte es so kräftig, daß sich ihr Gesicht vor Schmerz verzerrte. »Ich habe dir gesagt, du sollst nicht in diesem Ton mit mir reden«, zischte er. »Was zwischen Del und mir ist, geht dich nichts an. Du bist vielleicht meine Verbündete, aber nicht mein Vormund, Gowenna.«
Aber diesmal prallte sein Zorn von ihr ab. Gowenna riß ihre Hand los, wich einen halben Schritt zurück und funkelte ihn wütend an. »Narr«, sagte sie leise. »Ich habe dich für klug gehalten, Skar, aber es scheint, daß ich mich getäuscht habe. Soll ich dir sagen, was dein Del getan hat? Dein Freund, der nur irregeleitet ist? Er hat seine Bewacher getötet, kaum daß er fünf Meilen vom Lager entfernt war. Er hat sie umgebracht, heimtückisch und brutal !«
Ein Schlag vor die Stirn hätte Skar nicht härter treffen können. »Das... das ist nicht wahr«, stammelte er hilflos. »Du lügst!« Gowenna lachte abfällig. »Es ist wahr. Wir haben ihre Leichen gefunden. Wahrscheinlich ist er jetzt bereits bei Vela und erklärt ihr den Weg hierher in allen Einzelheiten.«
»Aber das ist unmöglich!« keuchte Skar. Sein Schreck begann sich in Entsetzen zu verwandeln. Sein Herz pochte, jeder Schlag war ein dünner, blitzender Schmerz, der ihn zusammenzucken ließ.
»Warum sollte es unmöglich sein?« fuhr Gowenna gnadenlos fort. »Nur weil sie Sumpfmänner waren und er nur ein gewöhnlicher Mensch? Du vergißt anscheinend, daß Del dein Schüler ist, dein bester Schüler, Skar. Einem Mann wie ihm dürfte es nicht schwerfallen, vier Ahnungslose zu ermorden. Selbst wenn sie Sumpfmänner sind.«
»Das glaube ich einfach nicht«, sagte Skar hilflos. »Del ist kein Mörder.«
»Du glaubst es nicht? Warum? Weil du dann zugeben müßtest, daß dich die Schuld am Tod der vier Sumpfbrüder trifft? Oder weil es dein Stolz nicht zuläßt, einzugestehen, daß du einen Fehler begangen hast?«
»Aber Del -«
»Der Del, den du kanntest, existiert nicht mehr, Skar«, unterbrach ihn Gowenna. »Er starb in Ikne, im ersten Augenblick, in dem er Vela gegenüberstand. Du hattest die Chance, ihn wieder zum Leben zu erwecken, aber du wolltest es ja nicht.« Sie schwieg einen Moment, erregt und schnell, beinahe hastig atmend. Sie war erschöpft gewesen, als sie vom Pferd stieg, und die kurze Rede hatte sie noch mehr Kraft gekostet. Skar sah, daß ihre Hände zitterten. »Du kannst ihn selbst fragen, Skar«, fuhr sie fort. »Er wird hierherkommen, schon bald. Vielleicht bist du bereit, mir zu glauben, wenn Vela mit ihren Kriegern und ihrem Drachen auf diese Lichtung gestürmt kommt. Sie sind auf dem Weg hierher.«
»Sie -«
»Das war der Grund für mein Fortgehen«, sagte Gowenna ein wenig ruhiger, aber noch immer erregt. »Ich wollte mich selbst davon überzeugen, was sie tat. Sie hat den Kristallwald umgangen und die Grenzen von Cosh überschritten. Sie, der Drachen und vierzig Krieger, die ihr geblieben sind. Wenn wir sie nicht aufhalten, ist sie morgen bei Sonnenuntergang hier.«
Skar suchte vergeblich nach Worten. Es war zuviel, selbst für ihn. Er wußte, daß Gowenna die Wahrheit sprach, und trotzdem glaubte er ihr nicht. Allein die Vorstellung, daß jemand die Sumpfleute in ihrem ureigensten Gebiet angreifen sollte, erschien ihm lächerlich. Er wußte, obwohl vor ihm wohl weniger als ein Dutzend Menschen überhaupt so tief in das Geheimnis von Cosh vorgedrungen war, noch immer so gut wie nichts über das Volk der Sumpfleute, aber die Wälder und Moore, die die Lichtung wie ein schützender Wall umgaben, erschienen ihm wie das Sinnbild der Stärke, Sicherheit und Unangreifbarkeit. Den Krieg nach Cosh tragen zu wollen, das war für ihn das gleiche, wie den Winter oder die Wüste bekämpfen zu wollen: unmöglich, schlicht und einfach unmöglich.
Und doch hatte sie es getan.
Und sie war der einzige Mensch auf der Welt, dem er zutraute, dieses Unternehmen sogar erfolgreich abschließen zu können. »Was werdet... ihr tun?« fragte er stockend.
Es war El-tra, der anstelle von Gowenna antwortete. »Wir werden sie vernichten, Skar. Wir werden sie und jeden, der in ihrer Begleitung ist, töten. Noch heute.«
Skar nickte. Natürlich hatte er die Antwort gewußt. »Ich werde euch begleiten«, murmelte er.
El-tra zögerte einen Moment. »Du mußt es nicht«, sagte er leise. »Du weißt, daß Del bei ihr sein wird, und -«
»Ich weiß!« unterbrach ihn Skar. Seine Stimme war leise, stand aber trotzdem dicht davor, überzukippen. Ohne es zu merken, hatte er die Fäuste geballt. Er hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, etwas zu zerstören, zu zerschlagen. Irgend etwas. »Ich weiß, daß ihr es ehrlich meint, und ich danke euch«, fuhr er fort. »Aber ich muß es tun. Es war mein Fehler. Ich hätte Del niemals hierherbringen dürfen. Wann ... brecht ihr auf?«
»So rasch wie möglich«, sagte El-tra. »Sie ist bereits tief in die Sümpfe vorgedrungen, und sie zieht eine Bahn der Vernichtung. Wir müssen sie aufhalten, ehe der Schaden, den sie anrichtet, zu groß geworden ist. Ich werde Kor-tel zu dir schicken, damit er deine Verbände wechselt. Damit« - er deutete auf Skars dick bandagierte Waden - »kannst du nicht reiten.«
El-tra entfernte sich, und Skar und Gowenna blieben allein zurück. Auf dem Platz begann sich eine hektische Aktivität zu entfalten, obwohl Skar nicht erkennen konnte, was die Sumpfleute im einzelnen taten. Er sah eine Weile zu, drehte sich dann um und ging in die Hütte zurück. Gowenna folgte ihm nach kurzem Zögern, aber er beachtete sie gar nicht. Vorsichtig und mit zusammengebissenen Zähnen begann er die Verbände von seinen Beinen abzuwickeln. Ein paar der Schnitte rissen wieder auf und bluteten, aber diesmal begrüßte er den Schmerz, konzentrierte sich ganz auf das schneidende Brennen, das ihn wenigstens für Sekunden von der Qual in seinem Inneren ablenkte. Er setzte sich, griff nach der Wasserschale und begann ungeschickt das frische Blut von seiner Haut zu tupfen. Gowenna sah ihm eine Weile zu, kniete dann wortlos vor ihm nieder und nahm ihm das Tuch aus der Hand. Er ließ es geschehen, aber es bedeutete jetzt nichts mehr. Wenn sie ihm half, dann nicht mehr aus Mitleid oder gar Liebe, sondern nur, um ihn auf den Kampf vorzubereiten. Sie versorgte einen Krieger, keinen Freund. Vela hätte dasselbe für einen ihrer Puppensoldaten getan, hätte er ihre Hilfe benötigt.
»Wo werden sie ihre Truppen sammeln?« fragte er nach einer Weile.
Gowenna tauchte das Tuch ins Wasser, schwenkte es ein paarmal hin und her und wrang es sorgfältig aus. Ihre Bewegungen waren schnell und sicher; die routinierten Hände einer Heilerin, die dasselbe schon tausend Mal getan hatten. »Welche Truppen?« fragte sie, ohne ihn anzusehen.
»Die der Sumpfleute.«
»Truppen ...« Gowenna betonte das Wort auf eine Art, die ein Alarmsignal in Skar auslöste. »Sie haben keine Truppen, Skar.«
»Keine ...« Skar schluckte verblüfft und sah unwillkürlich zum Ausgang, aber hinter dem niedrigen Rechteck waren nur Dunkelheit und das gelegentliche Flackern einer Fackel zu erkennen. Gowenna setzte sich auf, legte die Hände flach nebeneinander auf die Oberschenkel und sah ihn fest an.
»Es gibt keine Truppen, Skar«, sagte sie noch einmal. »Das, was du dort draußen gesehen hast, war das Volk der Sumpfleute.« Skar begriff nur langsam, widerwillig.
»Sie sind wenige«, fuhr Gowenna fort. »Sie waren nie viele, und in den letzten Jahren ist ihre Zahl weiter gesunken. Vielleicht leben noch einmal so viele verstreut in den Sümpfen, aber ich glaube nicht, daß ihre Zahl die Hundert überschreitet. Warum, glaubst du, verlassen sie so selten diese Sümpfe?«
»Nur hundert...«, murmelte Skar.
»Nur hundert«, bestätigte Gowenna. »Und die Hälfte von ihnen wird vielleicht sterben, bevor die Sonne aufgeht. Es geht hier nicht um verletzten Stolz, Skar. Es ist ein Kampf ums Überleben. Das Überleben eines ganzen Volkes!«
Skar starrte sie weiter ungläubig an. »Nur hundert...«, sagte er zum dritten Mal, noch immer ungläubig, schockiert.
»Sie waren niemals ein großes Volk, Skar«, sagte Gowenna leise. Ihr Tonfall klang jetzt fast versöhnlich, aber Skar wußte, daß das nur an den Worten lag, die sie sprach. Es war nicht das, was sie fühlte. »Die Legende von ihrer Unbesiegbarkeit war ihr Schutz; eine Festung aus Mythen und Legenden, hinter der sie sicher waren. Sie haben sie sorgsam gepflegt. Aber vielleicht endet dieser Mythos morgen.« Sie seufzte, beugte sich wieder herab und begann, einen frischen Verband um Skars Beine zu wickeln; dünn und sehr eng anliegend diesmal, so daß er darüber noch seine Stiefel tragen konnte.
»Ich würde dir raten, im Sattel zu bleiben, wenn es zum Kampf kommt«, sagte sie, plötzlich das Thema wechselnd. »Zu Fuß würdest du keine sehr gute Figur machen, fürchte ich.«
Skar hörte ihre Worte kaum. Er spürte auch kaum, wie Kor-tel die Hütte betrat und damit begann, Gowenna zur Hand zu gehen. Als sie fertig waren, stand er auf, zog sich an und verließ ohne ein weiteres Wort die Hütte.
Er wußte nicht, welche der grauen Gestalten, die sich auf der Lichtung eingefunden hatten, El-tra war, und so hielt er den nächstbesten Sumpfmann an und fragte nach ihm.
»Sprich, Bruder«, sagte der Sumpfmann. »Was immer du El-tra sagen willst, er wird es wissen.«
Skar schüttelte den Kopf. »Ich weiß«, murmelte er. »Aber ...«
»Ich verstehe«, sagte der Sumpfmann, als Skar nicht weitersprach. »Ihr Menschen seid es gewohnt, mit Namen zu reden, nicht mit Personen. Komm.« Er wandte sich um, machte eine einladende Geste und führte Skar über den Platz. Andere Sumpfmänner kamen ihm entgegen, und obwohl Skar sich einzuhämmern versuchte, daß es nicht so sei, glaubte er einen stummen Vorwurf in ihren Blicken zu spüren.
El-tra erwartete ihn am jenseitigen Rand der Lichtung. Sechs andere Sumpfmänner standen bei ihm, doch sie gingen, als Skar näher kam, und auch sein Führer entfernte sich rasch, um ihn und El-tra allein zu lassen.
»Du wirst uns also begleiten«, begann El-tra.
»Ja«, sagte Skar. »Aber das ist es nicht, worüber ich mit dir reden wollte.«
»Ich weiß, Bruder.«
Skar senkte den Blick und scharrte betreten mit der Fußspitze im Boden. »Können wir ... irgendwo hingehen, wo wir allein sind?« fragte er.
»Wir können es. Aber ...«
»Ich weiß, daß ich zu euch allen rede, wenn ich mit dir spreche«, sagte Skar hastig. »Aber es wäre mir trotzdem lieber.«
El-tra nickte. Sie verließen die Lichtung und drangen ein paar Schritte weit in den Wald ein. Der Boden federte unter Skars Schritten, und ein schwerer, süßlicher Geruch schlug ihm entgegen, der Geruch von Feuchtigkeit und Leben und Verwesung, gemischt mit Dunkelheit und den verwobenen Geräuschen des nächtlichen Waldes. Erst als die roten Lichtpunkte der Fackeln hinter ihnen erloschen waren, drehte sich El-tra um und blieb stehen. »Wir sind allein, Bruder«, sagte er. »Sprich.«
Etwas Seltsames geschah. Die Dunkelheit hatte den Sumpfmann vollends verschluckt, und Skar erkannte nur noch am Klang seiner Stimme, wo er stand. Aber selbst diese Stimme schien plötzlich nicht mehr die eines einzelnen Mannes zu sein; es war, als spräche der Wald selbst mit ihm, als forme das Wispern und Raunen der Blätter Worte und Gedanken, die von überallher gleichzeitig auf ihn eindrangen.
»Gowenna hat mir erzählt, daß euer Volk klein ist«, begann er, »und daß -«
»Gowenna weiß nicht alles, Skar«, unterbrach ihn El-tra sanft. Aber war es überhaupt noch El-tra, der da sprach? Oder hörte Skar die Stimme des Sumpfes?
»Unser Volk ist klein, doch was zählt, sind nicht seine Männer, Skar. Auch die Satai sind nicht viele.«
»Es ist nicht euer Krieg, den ihr führen wollt«, widersprach Skar. »Erinnerst du dich an das, was du selbst zu mir gesagt hast? Ihr könnt diesen Kampf für mich verlieren, aber nicht gewinnen.« El-tra (El-tra?) schwieg einen Moment. »Und was willst du tun, Bruder?« fragte er.
»Das, was ich schon lange hätte tun sollen«, sagte Skar. »Gebt mir ein Pferd und einen Mann, der mir den Weg weist. Ich werde mich Vela stellen.«
»Ein Mann gegen vierzig Krieger und den Drachen?« El-tra lachte leise, aber es klang nicht verletzend, sondern eher gutmütig. »Jetzt überschätzt du dich.«
»Ich weiß, daß ich sie nicht besiegen kann«, sagte Skar ruhig. »Aber vielleicht geht sie, wenn sie hat, was sie will.«
»Und du glaubst, du wärst das?« Wieder lachte El-tra, und jetzt war Skar sicher, daß das Geräusch nicht allein aus seiner Kehle kam. »Du täuschst dich, Bruder. Sie wird versuchen, deiner habhaft zu werden, doch der wahre Grund für ihr Eindringen in unser Land ist ein anderer. Sie kam aus dem gleichen Grund, aus dem sie ihre Festung im Herzen Tuans verließ. Ihr seid euch ähnlicher, als du weißt. Auch sie ist eine Gejagte. Und es ist nicht mehr dein Krieg, Skar. Sie hat den Frieden unseres Landes gestört, und sie weiß, welche Strafe den erwartet, der den Krieg nach Cosh trägt.«
»Euer Volk wird einen hohen Preis für diesen Sieg zahlen müssen«, murmelte Skar.
»Keinen so hohen, wie du glaubst«, antwortete El-tra. »Vielleicht sterben einige von uns, vielleicht alle. Doch wir fürchten den Tod nicht so wie ihr. Cosh wird weiterleben, auch wenn wir sterben.«
»Und dafür wollt ihr euch opfern?«
»Willst du es nicht auch, Bruder? Bist du nicht mit mir hierhergekommen, um mir dein Leben anzubieten? Ich hätte dein Opfer angenommen, hätte es Sinn. Doch es hat keinen. Du kamst hierher, um mit mir zu sprechen, mit dem Körper, den du als El-tra kennst. Doch es gibt mich nicht, nicht so, wie du mich siehst. Ich bin El-tra, doch ich bin auch Kor-tel, auch der Teil El-tras, der in Combat verbrannte, und jeder einzelne Sumpfmann, den du gesehen hast. Du hast es nie verstehen wollen, Skar, doch wir sind eins. Solange Cosh existiert, wird auch das Volk der Sumpfleute leben. Vielleicht fallen viele von uns in der Schlacht, vielleicht alle. Ich will ehrlich zu dir sein - wir wissen nicht, ob wir Vela besiegen können. Der Drachen ist stark, und auch wir sind nicht gegen seinen Atem gefeit. Vielleicht schlägt sie uns, doch wir werden weiterleben in jedem Strauch, in jedem Fußbreit Boden, in jedem Baum von Cosh. So wie auch du weiterleben wirst. Denn du bist ein Teil von uns.«
Etwas Unsichtbares, Körperloses und unglaublich Weises berührte Skars Seele. Es war ein zeitloser Moment, zu kurz, um ihn wirklich wahrzunehmen, aber plötzlich wußte Skar. Plötzlich verstand er alles, jede Andeutung, jedes Wort, das er für eine leere Phrase gehalten hatte, jeden Blick, die Bedeutung jeder Geste. Das Volk von Cosh - das waren nicht die Sumpfmänner, nicht die schattenhaften, kleinen Gestalten, die Furcht und Schrecken verbreiteten, wo immer sie auftauchten. Sie waren seine Hände, seine Arme und Beine und Münder, mehr nicht. Und plötzlich begriff er auch, was Gowenna gemeint hatte, als sie ihm erzählte, Cosh hätte ihr die drei El-tra geschenkt. Es war ein Geschenk, eine Gabe, die Cosh - nicht die Sumpfleute, sondern das wirkliche Cosh, das Wesen, das in diesem Land lebte, dieses Land war - ihr mit auf den Weg gegeben hatte.
»Jetzt weißt du es«, sagte die Stimme des Sumpfes. »Was morgen geschieht, hat keine Bedeutung. Wäre mehr Zeit, könnten wir ihr Tausende von Kriegern entgegenwerfen, doch wir würden es nicht tun. Vielleicht wird sie uns schlagen, aber sie wird einen hohen Preis dafür zahlen, Skar.«
Skar nickte mühsam. »Und ... Del?«
»Ich werde versuchen, ihn zu schonen«, antwortete Cosh. »Um deinetwillen. Du bist ein Teil von uns, und er ist ein Teil von dir. Doch ich kann es dir nicht versprechen.«
»Ist er ... schon bei ihr?«
»Noch nicht. Doch er wird sie erreichen, lange bevor wir auf sie stoßen. Versuche ihn zu schützen, Skar. Ich werde dich dabei nicht behindern. Doch ich kann dir auch nicht helfen. Diesen Kampf mußt du allein führen.«
Skar sagte nichts mehr. Er spürte, daß Cosh nicht mehr antworten würde, daß alles gesagt war, was zwischen ihnen gesagt werden mußte.
»Wir müssen jetzt gehen, Skar.« Es war wieder El-tra, der sprach. Der Zauber des Augenblicks war verflogen, und der Wald um sie herum war wieder zu Dunkelheit und schweigenden Bäumen geworden. Irgendwo platzten Gasblasen im Sumpf; ein monotones, seltsam gleichmäßiges Geräusch, fast wie der Takt einer Melodie. Für einen Moment fragte sich Skar, ob er all das wirklich erlebt oder nur geträumt hatte. Aber schon El-tras nächste Worte bewiesen ihm, daß es nur zu wahr gewesen war.
»Du weißt jetzt alles«, sagte der Sumpfmann. »Mehr als je ein Mann eures Volkes von dir erfahren hat, mehr, als Vela oder Gowenna auch nur ahnen. Es ist eine schwere Last, die du auf dich genommen hast, Skar.«
»Ich ... werde schweigen«, antwortete Skar stockend, obwohl er wußte, wie überflüssig diese Worte waren. Cosh hätte nicht mit ihm geredet, hätte er seine Antwort nicht schon vorher gewußt. »Meine Brüder sind bereit, aufzubrechen«, fuhr El-tra fort. »Du hast noch Zeit, dich zu entscheiden. Ich weiß, daß du dir die Schuld an dem gibst, was geschehen ist. Aber ganz egal, wie es wirklich war - es ist nicht mehr dein Kampf. Du kannst gehen. Wohin du willst.«
Skar schüttelte den Kopf. »Ich begleite euch«, sagte er mit fester Stimme.
Plötzlich hatte er das Bedürfnis zu schreien. Aber natürlich tat er es nicht.