17.

Es war eine Flucht.

Während der nächsten vier Tage ritten sie stur weiter nach Westen, zwölf, manchmal vierzehn, fünfzehn Stunden am Tag, so lange, bis die Pferde einfach vor Erschöpfung stehenblieben und auch mit Gewalt nicht mehr dazu zu bringen waren, noch einen Schritt zu tun. Ihr Tempo wurde von dem des Staubdrachens bestimmt, und sie ritten schnell, sehr schnell. Die Bewegungen des grauen Giganten wirkten auf den ersten Blick schwerfällig, aber ein einziger Schritt seiner gewaltigen schuppigen Beine trug ihn zehn, fünfzehn Fuß weiter, und trotz seiner ungeheuren Masse schien er weder Müdigkeit noch Erschöpfung zu kennen. Dafür forderte der erbarmungslose Marsch einen um so höheren Tribut von Velas Männern; zuerst nur einer, dann mehr - fünf, zehn, vielleicht ein Dutzend - sanken entweder erschöpft aus den Sätteln oder blieben, wenn sie morgens nach einer viel zu kurzen Rast weiterzogen, einfach liegen, um zu sterben, und auch Skar spürte, wie ihn seine gerade neu gewonnene Kraft wieder verließ. Er sprach während der ganzen Zeit kein Wort mit Gowenna, El-tra, Del oder Vela - sowohl während des Rittes als auch nachts wurde er höflich und respektvoll, aber unnachgiebig, von den anderen abgeschirmt; lediglich Tantor tauchte ein paarmal in seiner Nähe auf, wechselte jedoch nur einige belanglose Worte mit ihm und beschränkte sich im übrigen auf gelegentliche verschwörerische Blicke, ein Verhalten, das Skar mehr und mehr lächerlich vorkam.

Ihre Umgebung veränderte sich zusehends. Die Ruinen wurden weniger, und oft ritten sie über weite, öde Flächen, die nur hier und da von Büschen der sonderbaren Kristallgewächse bewachsen waren. Erst am Mittag des vierten Tages - sie mußten mittlerweile an die zweihundert Meilen zwischen sich und die Hellgor gebracht haben - sah Skar einen Schatten am Horizont, der im Lauf des Tages zu einer gewellten, blitzenden Linie heranwuchs; ein ungeheurer kristallener Wald der gläsernen Büsche, ineinander verfilzt und so unübersteigbar wie eine Mauer scharfgeschliffener Säbel.

Seine Grenzen reichten weiter, als Skar sehen konnte, und die Kolonne schwenkte kurz vor ihm von ihrem Kurs ab und bewegte sich in westlicher Richtung weiter. Nicht einmal Vela mit ihrem Staubdrachen schien es sich zuzutrauen, dieses Labyrinth aus tödlichen Glasdolchen und Speeren zu durchbrechen.

Es waren vielleicht noch drei Stunden bis Sonnenuntergang, als Tantor sein Pferd neben das Skars lenkte.

»Wir nähern uns den Grenzen Tuans«, sagte er. »Bist du bereit?«

»Bereit? Wozu?«

Tantor knurrte ärgerlich. »Hör auf, den Dummen zu mimen, Skar. Wenn wir jetzt nicht fliehen, dann nie.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die schimmernde Kristallwand, an der sie in einem Abstand von weniger als einer halben Meile entlangritten. »Hinter jenem Wald liegt die Grenze zu Cosh«, sagte er. »Wenn wir es schaffen, ihn zu durchqueren, sind wir in Sicherheit.« Skar sah sich mit einem demonstrativen Blick um. Die Truppe war zusammengeschmolzen, aber sie waren noch immer eingekreist von mehr als siebzig Kriegern, Vela und ihren Drachen nicht mitgerechnet. Und sein Pferd hatte, ebenso wie die der anderen, mit Sicherheit nicht mehr die Kraft, eine vielleicht Stunden währende Verfolgungsjagd durchzuhalten.

»Dort hindurch?« fragte er zweifelnd. »Weißt du vielleicht auch einen Zauber, der uns einen Weg durch dieses Labyrinth bahnt, ohne daß wir aufgespießt und zerschnitten werden?« Er war ganz ruhig. Tantors Worte schienen ihm seltsam irreal, und obwohl er während der letzten vier Tage an fast nichts anderes gedacht hatte als daran, wie er fliehen konnte, fehlte ihm jetzt jede Beziehung dazu.

»Der Wald ist nicht so dicht, wie es scheint«, murmelte der Zwerg. »Wir werden eine Schneise erreichen, wenige Meilen weiter im Westen. Sei bereit.«

»Bereit...« Skar lachte. »Willst du Velas Staubdrachen dazu überreden, ein Schläfchen zu halten?«

»Die Sumpfmänner werden sich um das Tier kümmern«, gab Tantor zurück. »Deine Aufgabe ist es nur zu reiten, Skar. Wenn wir den Waldrand lebend erreichen, haben wir eine Chance.« Er sah Skar scharf an. »Nun?«

Skar zuckte mit den Achseln. »Es ist dein Hals, den du riskierst«, sagte er gleichmütig. »Du bist ein seltsamer Mann, Tantor - erst setzt du alles daran, mich in deine Gewalt zu bekommen, dann rettest du uns, nimmst mich wieder gefangen und riskierst schließlich dein Leben für uns.«

»Ich riskiere es nicht für euch«, widersprach Tantor. »Nenne es einen Handel, wenn es dir lieber ist. Ich helfe euch, und ihr helft mir. Aber mir scheint, du hast keine rechte Lust mehr dazu, Skar.«

»Es wird nicht klappen«, gab Skar ruhig zurück. »Vela weiß, was wir vorhaben.«

Er hatte damit gerechnet, daß Tantor Schrecken oder wenigstens Überraschung zeigen würde, aber der Zwerg blieb ruhig. »Sie mag es ahnen«, sagte er, »aber ...«

»Sie weiß es«, beharrte Skar. »Erinnerst du dich an den Beutel, den du mir gegeben hast?« Er nahm die Hände von den Zügeln und legte die Gelenke übereinander, als wäre er gefesselt. »Für den Fall, daß sie mich in Ketten legen würde?«

Tantor nickte. »Hast du ihn noch?«

»Nein. Aber ich bin ziemlich sicher, daß Vela ihn hat. Sie ließ mir neue Kleider geben -«

»Das sehe ich«, knurrte Tantor.

»Und meine alten entfernen«, fuhr Skar beeindruckt fort.

»Sie müßte schon blind sein, ihn übersehen zu haben. Und dumm, nicht die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Leider ist sie weder das eine noch das andere.«

»Sicher nicht. Und gerade darauf baue ich. Natürlich weiß sie, daß ich euch zur Flucht verhelfen will. Sie soll es wissen.« Diesmal war Skar ehrlich überrascht.

Auf Tantors Gesicht erschien ein überlegenes Lächeln. »Du glaubst, Vela wäre die einzige, die sich darauf versteht, Intrigen zu spinnen?« fragte er. »O nein, Skar. Sie weiß, was ich vorhabe, aber der einzig mögliche Ort für eine Flucht wäre die Grenze zu Cosh, fünfzig Meilen weiter im Westen. Hier zu fliehen ist beinahe Selbstmord. Deshalb habe ich gerade diesen Ort ausgewählt. Wenn wir eine Chance haben, dann hier, wo es aussichtslos zu sein scheint.«

Skar schwieg einen Moment. »Ihr seid ein seltsames Volk, ihr Zwerge«, murmelte er.

Tantor machte ein ordinäres Geräusch. »Wir sind keine Zwerge«, sagte er. »Ihr seid Riesen. Und bevor du fragst - wir leben auf einer verbotenen Insel im Nebelmeer und verspeisen nichtsahnende Reisende, die sich an unsere Küsten wagen. Willst du sonst noch etwas wissen?«

»Ja«, antwortete Skar ernsthaft. »Wie willst du denn Gowenna und die beiden Sumpfleute mitten aus den Kriegern herausholen?«

»Laß das meine Sorge sein«, antwortete Tantor. »Achte auf den Wald. Und wenn ich dir das Zeichen gebe, dann reite, als wären sämtliche Geister Tuans hinter dir her.«

»Wer weiß«, murmelte Skar, »vielleicht sind sie es sogar.« Tantor musterte ihn mit einem seltsamen Blick, zwang sein Pferd herum und ritt ohne ein weiteres Wort zu seinem Platz am Ende der Kolonne zurück. Skar widerstand der Versuchung, sich umzudrehen und ihm nachzublicken. Noch immer erschien ihm der Gedanke, fliehen zu wollen, direkt lachhaft, vielleicht gerade weil es die einzig logische Konsequenz aus seiner Situation war. Er sah nach links und versuchte Einzelheiten hinter der Wand aus Glas und Kristall zu erkennen, die den Rand des versteinerten Waldes markierte, aber alles, was er sah, waren silberne Schatten und ein gelegentliches Blitzen, wenn sich ein Lichtstrahl tiefer ins Innere des Kristallwaldes verirrte. Tantor mochte durchaus recht haben - wenn es ihnen gelang, den Wald zu erreichen, hatten sie eine Chance. In einer Umgebung wie dieser konnten sie sich selbst gegen eine hundertfache Übermacht behaupten - wenn sie sie nicht vorher selbst umbrachte.

Er lockerte seinen Umhang, rückte ihn zurecht, daß er ihn beim Reiten nicht behindern würde, und schloß die Spangen sorgfältig wieder. Seine Hand tastete nach dem Schwert, führte die Bewegung jedoch nicht zu Ende. Er würde die Waffe nicht brauchen - nicht einmal brauchen dürfen, wenn er Erfolg haben wollte. Die Übermacht war zu groß, als daß er sich auf einen wie auch immer gearteten Kampf einlassen konnte.

Ihr Vorankommen erschien ihm plötzlich quälend langsam, und der kristallene Wald war in seiner Gleichförmigkeit so monoton, daß Skar für Momente glaubte, gar nicht vom Fleck zu kommen.

Es schien Stunden zu dauern, bis die Stelle, von der Tantor gesprochen hatte, endlich vor ihnen auftauchte. Sie sah aus wie eine halbierte Lichtung; eine gewaltige, halbrunde Bresche, an den Rändern scharfzackig ausgebrochen, als hätte ein Gigant ein Stück aus dem Wald herausgebissen. Skar sah, daß der Boden da, wo sich vorher Wald befunden hatte, aufgebrochen und geborsten war; eine Landschaft aus Kratern und jäh aufklaffenden Rissen, auf der ein Reiten beinahe unmöglich sein mußte. Tantor hatte recht, dachte er grimmig: An dieser Stelle einen Fluchtversuch zu wagen, grenzte dicht an Wahnsinn.

Er drehte sich nun doch im Sattel um und hielt nach dem Zwerg Ausschau. Tantors rotes Cape war nicht mehr als ein hüpfender Farbklecks zwischen dem blitzenden Schwarz der Rüstungen; er konnte nicht genau erkennen, was er tat, meinte jedoch eine allmählich stärker werdende Unruhe unter den Kriegern wahrzunehmen, ohne daß er diesen Eindruck im einzelnen begründen konnte.

Vielleicht spürten Menschen und Tiere auch nur, daß das Ende ihrer verzweifelten Odyssee nahte.

Die Lücke im Waldrand kam langsam näher, aber das Zeichen, von dem Tantor gesprochen hatte, blieb aus. Skar spürte nun doch eine - wenn auch nur leise - Nervosität, und er ertappte sich selbst ein paarmal dabei, wie er unsicher in die Runde blickte und Bewegungen und Position der Krieger zu seiner Linken taxierte. Ein heller, erschrockener Aufschrei ließ ihn herumfahren. Am hinteren Ende der Kolonne entstand Aufregung, Tumult. Ein Pferd bäumte sich auf, dann noch eines, irgend etwas stürzte mit dumpfem Geräusch zu Boden, und ein Mann schrie. Für einen Moment sah Skar eine graue, schattenhafte Gestalt, die in ein verzweifeltes Handgemenge mit einem Krieger verwickelt war. Dann begruben Soldaten den Sumpfmann regelrecht unter sich. Skar spannte sich.

»Noch nicht!« zischte eine Stimme neben ihm. Skar sah auf und erblickte Tantor. Der Zwerg war neben ihm aufgetaucht, ohne daß er es bemerkt hatte.

»Schöner Fluchtversuch«, sagte Skar. »War das dein phantastischer Plan?« Seine Stimme zitterte. »Sollen sich die beiden El-tra opfern, nur um ein wenig Verwirrung zu stiften?«

Tantor antwortet nicht, sondern blickte gebannt in die Richtung, in der das Handgemenge noch immer im Gange war. Aber es konnte nur noch Augenblick dauern. Skar wußte aus eigener schmerzhafter Erfahrung, wie stark die beiden Brüder aus Cosh waren, aber gegen eine dutzendfache Übermacht hatten nicht einmal sie eine Chance.

Verzweifelt sah er sich um. Ihr Vormarsch war ins Stocken gekommen, aber der Kordon aus Kriegern hatte sich eher noch enger um ihn und den Zwerg zusammengezogen.

Der Boden dröhnte, als Velas Staubdrachen kehrtmachte und mit weit ausgreifenden Schritten zurückpreschte. Das Ungeheuer stieß einen gellenden Schrei aus; die Krieger spritzten auseinander, um dem herantobenden Koloß Platz zu machen; eine schwarze Flut, die sich vor dem grauen Giganten teilte.

»Aufhören!«

Velas Stimme übertönte für einen Augenblick selbst den Tumult, der dem fehlgeschlagenen Fluchtversuch der beiden Sumpfmänner gefolgt war. Skars Hände krampften sich um die Zügel, als wolle er sie zerreißen.

Er versuchte, Gowenna irgendwo in dem chaotischen Durcheinander zu erkennen, aber es war sinnlos.

»Noch nicht«, flüsterte Tantor. Seine Stimme klang gehetzt, beinahe beschwörend. »Jetzt noch nicht, Skar. Warte.«

Der Drachen hatte den Kampfplatz erreicht und blieb mit einem wütenden Trompeten stehen. Die letzten Krieger flohen, zogen sich - bis auf die, die die beiden El-tra aus den Sätteln gerungen hatten und nun am Boden festhielten, aus der unmittelbaren Nähe des geschuppten Giganten zurück. Der Drachen schien die Aufregung, die um ihn herum herrschte, zu spüren. Sein Schwanz peitschte nervös, riß Glassplitter und Staub aus dem Boden und trieb die Soldaten noch weiter zurück. Seine ungeheure Größe verlieh seinen Bewegungen etwas trügerisch Langsames, aber Skar sah, daß Vela Mühe hatte, sich im Sattel zu halten.

»Hört sofort auf!« schrie sie. Wieder schüttelte sich der Staubdrachen, eine Bewegung, die Vela um ein Haar aus dem Sattel geschleudert hätte. Ein röhrender, ungeheuer, lauter Schrei drang aus seiner Brust und ließ die Männer ringsum aufstöhnen.

»Skar!« schrie Vela. »Bring sie zur Ruhe!« Sie klammerte sich verzweifelt am Sattelknauf fest, beugte sich vor und versuchte auf dem bockenden Schlangenhals des Ungeheuers das Gleichgewicht zu halten. Ihr Blick suchte verzweifelt nach Skar, und trotz der großen Entfernung glaubte er beinahe Furcht auf ihren Zügen wahrzunehmen. »Bring sie zur Ruhe!« schrie sie noch einmal. »Ich lasse sie töten, wenn sie nicht sofort aufhören!«

Tantor legte Skar in einer hastigen Bewegung die Hand auf den Unterarm. »Nicht!« zischte er. »Tu nichts!«

Skar hätte es nicht einmal gekonnt, wenn er gewollt hätte. Er verstand nicht mehr, was dort drüben vorging. Die beiden Sumpfmänner wehrten sich noch immer, aber es war nur mehr ein nutzloses Aufbegehren gegen das Dutzend Männer, die sie hielten. Die Pferde, die bei dem plötzlichen Lärm zum Teil in Panik geraten waren, beruhigten sich zusehends.

Trotzdem wurde der Drachen nicht ruhiger.

Im Gegenteil.

Plötzlich und ohne eine weitere Vorwarnung bäumte sich das Ungeheuer auf. Der gewaltige, dreieckige Schädel ruckte hoch, biß wie in einem irren Schmerz nach den tiefhängenden Wolken; seine Reiterin wurde durch diesen neuerlichen Ruck endgültig aus dem Sattel geworfen, sie flog in einem unmöglich weit gestreckten Bogen durch die Luft und verschwand hinter dem graugeschuppten Leib. Ein Ton, lauter und schriller als alles, was Skar jemals zuvor gehört hatte, entrang sich der Brust des Staubdrachen. Das Ungeheuer stellte sich wie ein bockendes Pferd auf die Hinterläufe, schlug mit den kleineren, mit messerscharfen Krallen bewehrten Vordertatzen in die Luft. Sein Schwanz drosch wie eine gewaltige Keule aus tonnenschweren Muskeln und Horn auf den Boden, zuckte hierhin und dorthin und ließ die Krieger in wilder Panik auseinanderspritzen. Steine und winzige, scharfkantige Glassplitter fuhren wie tödliche Schrapnellgeschosse unter die Reiter und verletzten Menschen und Tiere. Die Erde bebte. Und dann begann das Ungeheuer endgültig zu toben.

Mit einem Brüllen, noch wilder und grauenhafter als zuvor, fuhr der Koloß herum, stieß auf die flüchtenden Reiter herab und spuckte eine brodelnde Wolke grauen, ätzenden Staubes aus. Sein Schwanz peitschte, zerschmetterte Pferde und Männer und riß eine sichelförmige Bresche in die Reihen der Söldner. Eine ganze Abteilung der Reiter verschwand in der kochenden Wolke des Drachenatems; ihre Schreie änderten sich, wurden von Lauten der Furcht zu Todes- und Schmerzensgebrüll. Pferde bäumten sich auf, brachen zusammen, als sich Fleisch und Knochen unter dem ätzenden Biß des Drachenatems auflösten. Ein Tier raste schreiend vor Schmerz, aus der kochenden Wolke hervor; seine Haut war eine einzige blutige Wunde, der Reiter auf seinem Rücken war schon tot, nicht mehr als eine leere, verbrennende Rüstung, die sich ein wenig langsamer auflöste als der empfindliche Körper, den sie gegen den mörderischen Staub nicht hatte schützen können.

»Jetzt!« schrie Tantor. »Reite, Skar!!« Seine Stimme ging im Schreien von Männern und Pferden fast unter, und Skar erriet die Worte mehr, als er sie hörte. Der Drachen tobte noch stärker, sein Schwanz zuckte erneut, beendete den tödlichen Halbkreis, den er mit seiner ersten Bewegung begonnen hatte. Ein scharfer, unerträglich beißender Geruch lag plötzlich in der Luft, legte sich wie ein dünner brennender Film über Skars Gesicht und Hände und verwandelte seine Atemzüge in flüssiges Feuer. Sein Pferd bäumte sich auf. Seine wirbelnden Vorderhufe streiften einen der Krieger und schleuderten ihn aus dem Sattel. Skar zerrte verzweifelt an den Zügeln, warf sich nach vorne und bekam das Tier mit einer gewaltigen Kraftanstrengung wieder unter Kontrolle. Tantor schrie etwas, aber Skar verstand die Worte nicht. Irgendwo vor ihm bewegte sich der Drachen, halb verschwunden hinter einer gewaltigen Wolke aus brodelndem grauem Nebel.

Skar riß mit aller Gewalt an den Zügeln, zwang das Pferd herum und sprengte los - geradewegs auf den Drachen zu! »Skar!« Tantors Stimme überschlug sich fast vor Schrecken. »Was tust du? Du bringst dich um! Komm zurück, du verdammter Idiot!«

Aber Skar hörte gar nicht mehr hin. Tief über den Hals seines Pferdes gebeugt, mit angehaltenem Atem und einen Zipfel seines Umhanges schützend vor das Gesicht haltend preschte er zwischen die fliehenden Krieger, galoppierte ein Stückweit direkt auf den tobenden grauen Giganten zu und wich im letzten Moment zur Seite aus. Ein schwacher Hauch des Drachenatems streifte ihn; sein Umhang schwelte, und auf dem Hals seines Pferdes erschien eine Unzahl winziger roter Punkte. Dann hatte er die tödliche Barriere durchbrochen, jagte an dem Ungeheuer vorbei und war plötzlich wieder inmitten einer Gruppe von Kriegern. Etwas ungeheuer Großes, Massiges tauchte vor ihm auf, glitt mit einer täuschend langsamen Bewegung über ihn hinweg und schmetterte dem Reiter neben ihm Helm und Schädel von den Schultern. Das Pferd galoppierte, blind vor Furcht, weiter, und der kopflose Torso blieb noch einige Meter aufrecht im Sattel sitzen.

Skar riß sein Tier herum, richtete sich auf und sah sich gehetzt um. Der Drachen war neben ihm, weniger als zwanzig Fuß entfernt; sein Schwanz zuckte wieder, schleuderte Männer und Tiere wie Spielzeuge durch die Luft, gleichzeitig senkte sich der gewaltige Schädel mit einer schlangenhaften Bewegung, verfolgte den verzweifelten Zickzack-Kurs eines flüchtenden Reiters. Die fürchterlichen Kiefer schlossen sich, und auf dem Sattel war plötzlich nur noch Blut.

Skar sah einen Schatten vor sich, riß sein Schwert aus dem Gürtel und schlug zu. Sein Hieb prellte dem Krieger die Waffe aus der Hand und schleuderte ihn aus dem Sattel. Skar wartete nicht, bis der Mann wieder auf den Füßen war. Er sprengte weiter, setzte über einen gefallenen Krieger hinweg und sah endlich, was er gesucht hatte.

»Del!!!«

Trotz des unbeschreiblichen Lärmes schien der junge Satai seinen Namen zu hören. Er erkannte Skar und griff mit der Linken nach seinem Schwert.

Seine Bewegung kam zu spät.

Skar ließ ihm nicht die geringste Chance. Er kannte Del zu gut, um nicht zu wissen, daß er trotz allem auf jeden nur denkbaren Angriff vorbereitet war. Deshalb versuchte er erst gar nicht, ihn mit irgendeinem Trick zu überwältigen.

Er ritt ihn schlichtweg über den Haufen.

Del wurde in hohem Bogen aus dem Sattel geschleudert, als Skars Pferd gegen das seine krachte. Die beiden Tiere bäumten sich auf. Skar verlor ebenfalls das Gleichgewicht, stürzte und brachte sich im letzten Moment vor den wirbelnden Hufen der Tiere in Sicherheit.

Er war eine halbe Sekunde vor Del auf den Füßen. Dels Hieb verfehlte ihn um eine Winzigkeit, und zu einem zweiten ließ Skar ihm keine Zeit. Seine Faust schoß vor und traf Dels bandagierte Hand mit gnadenloser Kraft.

Del schrie auf, für eine Sekunde blind vor Schmerz, als der gerade geheilte Knochen zum zweiten Mal brach. Er krümmte sich zusammen, sank in die Knie und preßte die verletzte Hand gegen den Leib. Skar schleuderte ihn mit einem Fußtritt vollends zu Boden und schlug ihm die gefalteten Fäuste in den Nacken. Dels Körper erschlaffte.

Wieder bebte die Erde, und als Skar sich umsah, sah er, daß der Staubdrachen kehrtgemacht hatte und mit einem trompetenden Kampfesschrei auf die flüchtenden Krieger eindrang. Skar bückte sich, warf sich Del wie einen leblosen Sack über die Schulter und griff mit der Linken nach den Zügeln seines Pferdes. Das Tier scheute und schlug aus, aber die Furcht gab Skar zusätzliche Kräfte. Er zwang den Kopf des Pferdes herab, sprang in den Sattel und legte Del vor sich über den Leib des Tieres. Ein Krieger sprengte auf ihn zu, starr, in seltsam verkrampfter Haltung. Aus den Ritzen seines Panzers und durch den Sehschlitz des Visiers quoll dunkelbrauner, fettiger Qualm.

Skar riß das Pferd herum und galoppierte los. Überall lagen Tote - Dutzende, hundert, wie es ihm vorkam, zertrampelte, verbrannte, halb aufgelöste Körper, Männer, die nach dem Tod schrien. Irgendwo zwischen den flüchtenden Gestalten waren zwei schmale graue Schatten, zwischen sich eine dritte, reglose Gestalt schleifend. Dann sah er Tantor, der ein winziger hüpfender Farbklecks auf dem Rücken eines bockenden Pferdes war und mit wild gestikulierenden Armen auf den Waldrand deutete, wobei er ununterbrochen schrie. Skar sprengte auf ihn zu, gab seinem Pferd gnadenlos die Sporen und deutete auch zum Wald hinüber. Tantor riß sein Pferd herum, aber irgend etwas schien mit dem Tier nicht zu stimmen: Es lahmte, warf immer wieder den Kopf hin und her und weigerte sich, zu laufen, obwohl Tantors Sporen tiefe blutige Gräben in seine Haut rissen.

»Skar!« brüllte der Zwerg. »Hilf mir!« In seiner Hand blitzte plötzlich ein winziger nadelspitzer Dolch. Mit einem gellenden Schrei stieß er seinem Pferd die Spitze in den Hals und riß an den Zügeln, als das Tier vor Schmerz einen Satz machte. »Hilf mir!« kreischte er. Sein Pferd ging durch, bockte, brach in den Hinterbeinen ein und kam wie durch ein Wunder noch einmal hoch. Tantor beugte sich verzweifelt im Sattel vor, griff nach Skars Umhang und glitt ab, bekam aber einen Steigbügel zu fassen. Skar spürte einen schmerzhaften Ruck, als Tantor aus dem Sattel gerissen und mitgeschleift wurde. Der Zwerg begann zu kreischen, griff mit der anderen Hand nach Skars Sattel und klammerte sich fest.

»Laß los!« schrie Skar, aber Tantor hörte seine Worte nicht. Sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung, während er versuchte, sich zu Skar auf den Rücken des Pferdes zu ziehen. Das Tier scheute. Seine Schritte kamen aus dem Takt, wurden zu einem mühsamen, arhythmischen Stampfen. Skar kämpfte mit aller Kraft um seine Gleichgewicht und versuchte gleichzeitig, Del vor sich festzuhalten. »Laß los!« schrie er noch einmal, aber wieder reagierte Tantor nicht. Er klammerte sich am Sattel fest, schrie vor Furcht und Schmerz und zog sich mit erstaunlicher Kraft Zentimeter für Zentimeter nach oben.

Skar ließ den Zügel los, klammerte sich nur mit der Kraft seiner Beine fest und schlug zu. Seine Faust traf Tantor über dem Auge; der Schlag war so wuchtig, daß Skar ihn als dumpfen Schmerz bis in die Schulter hinauf spürte. Tantors Schreie verstummten. Seine Hände lösten sich. Er stürzte zu Boden, überschlug sich wie ein kleiner, bunter Stoffball und blieb reglos liegen. Skar griff hastig wieder nach den Zügeln, verschwendete drei, vier Sekunden damit, das bockende Pferd zu beruhigen, und ritt weiter. Die beiden Sumpfbrüder und Gowenna waren bereits ein gutes Stück vor ihm, kaum hundert Schritte vom Waldrand und der rettenden Schneise entfernt, und hinter ihnen tobte nach immer das Chaos. Die Schreie des Drachen waren leiser geworden, aber dafür brach in einer verspäteten, bisher durch ungläubigen Schrecken gelähmten Reaktion, unter Velas Kriegern endgültig Panik aus. Er glaubte Gowennas Stimme in dem unbeschreiblichen Lärm zu hören, war sich aber nicht sicher.

Sein Pferd begann zu lahmen. Die Haut des geschundenen Tieres war blutig, von zahllosen verätzten Wunden und Rissen übersät, und das Gewicht zweier ausgewachsener Männer war mehr, als es noch zu tragen imstande war. Skar sah sich abermals um. Noch schien keiner der Soldaten daran zu denken, sie zu verfolgen, aber es waren noch immer mehr als zweihundert Schritte bis zum Waldrand, eine lächerliche Entfernung, und doch zu weit, wenn man von Männern mit Armbrüsten und Bögen verfolgt wurde. Er trieb das Pferd noch einmal an, zwang es mit brutaler Kraft, weiterzustolpern, und sprang aus dem Sattel, als es endlich, zitternd und wimmernd vor Schmerz und Erschöpfung, stehenblieb. Vom Waldrand her drang ein hoher, vibrierender Ruf zu ihm. Er warf sich Del über die Schultern, ging unter dem Gewicht für einen Moment in die Knie und rannte los. Ein Schatten löste sich vom Waldrand, aber die Zeit schien plötzlich stehenzubleiben, und Dels Gewicht nahm mit jeder Sekunde zu. Skar taumelte weiter, rang nach Luft und fiel auf die Knie. Hinter ihm erscholl ein wütender Schrei, und irgend etwas Dunkles, Schlankes zischte an ihm vorbei. Er spürte kaum noch, wie El-tra neben ihm anlangte und sich Del so mühelos, als wäre er nicht mehr als eine Stoffpuppe, über die Schulter warf. Eine Hand packte ihn, riß ihn mit unmenschlicher Kraft vom Boden hoch und zerrte ihn mit sich. Ein zweiter Pfeil zischte heran, zersplitterte wenige Fuß neben ihm auf dem spröden Glasboden, dann ein dritter, besser gezielt und nahe, zu nahe. Der Boden dröhnte plötzlich unter dem hämmernden Stampfen von Pferdehufen. Er wollte sich umsehen, aber El-tra riß ihn rücksichtslos mit sich, so daß er Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten und auf den Beinen zu bleiben.

Die Reiter hatten sie fast eingeholt, als sie den Waldrand erreichten. Skar taumelte blind an El-tra vorbei, brach durch eine schmale, von rasiermesserscharfen Glaszähnen eingerahmte Lücke zwischen den Stämmen und sank in die Knie. Übelkeit stieg wie eine schleimige Woge in ihm empor. Er spürte kaum, wie El-tra das Tschekal aus seinem Gürtel riß und sich - gemeinsam mit seinem Bruder, der sich Dels Waffe bemächtigt hatte - den Reitern entgegenwarf. Der Wald begann sich vor seinen Augen zu drehen. Die Übelkeit verschwand und kam dann, urplötzlich und zehnmal schlimmer, zurück. Skar übergab sich würgend, immer und immer wieder, bis sein Magen leer war und er nur noch bittere Galle erbrach.

Jemand berührte ihn an der Schulter. Mühsam hob er den Kopf und blickte in ein schmales, zweigeteiltes Gesicht.

»Bist du verletzt?« fragte Gowenna.

Skar schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln, aber er brachte nur eine Grimasse zustande. »Nein«, sagte er. »Ich glaube jedenfalls nicht.« Hinter ihnen erscholl Kampfeslärm, das berstende Geräusch von Stahl und Rüstungen, die Schreie von Männern und Tieren. Skar griff blind nach einem Halt, zog sich unter erheblicher Anstrengung auf die Füße und drehte sich um, aber Gowenna hielt ihn mit einer hastigen Bewegung zurück. »Nicht«, sagte sie. »Es sind nur vier. Die Sumpfbrüder werden sie abwehren. Wir müssen weg.«

Skar zögerte. Sie waren nur wenige Schritte in den Wald eingedrungen, aber selbst von hier aus war es schon fast unmöglich, zu sehen, was sich draußen abspielte. Die blitzenden Kristallstämme standen so dicht, daß alles, was mehr als einen Schritt entfernt vor sich ging, hinter einem Vorhang aus Licht und tanzenden Reflexen verborgen blieb. Seine Hand glitt an den Gürtel, ehe ihm einfiel, daß El-tra seine Waffe hatte. Aber schließlich kämpfte er auch seinen Kampf.

»Wir müssen weiter«, sagte Gowenna noch einmal. »Hier sind wir nicht sicher. Sie haben sich noch nicht von der Überraschung erholt, aber wenn Vela alle ihre Krieger hinter uns herschickt, dann erwischen sie uns.«

Skar nickte, doch es war eigentlich nur ein Reflex auf den Klang ihrer Stimme, nicht auf die Worte. Er bückte sich zu Del herab, drehte ihn auf den Rücken und untersuchte ihn flüchtig. Der Verband an Dels Hand war gerötet von frischem Blut, aber sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. »Du mußt mir helfen, ihn zu tragen«, sagte er. »Ich schaffe es nicht mehr allein.«

Gowenna runzelte die Stirn, schwieg aber. Gemeinsam hoben sie Del hoch, wobei Skar ihn unter den Schultern ergriff und sich bemühte, den Großteil des Gewichts zu übernehmen. »Wohin?« Gowenna deutete mit einer Kopfbewegung nach Süden, tiefer in den Wald hinein. Sie gingen los, aber es erwies sich als fast unmöglich, neben- oder hintereinander zu gehen und Dels reglosen Körper mitzuschleppen. Das Geflecht der Bäume und Büsche war zu eng, die Stämme, die zum Teil nur dünn wie Schilf, mancherorts aber auch so stark wie ein Menschenleib waren, standen zu eng, und dort, wo ein Durchkommen möglich schien, waren die Zwischenräume Fallgruben aus tödlichen Klingen und Dolchen. Skar, der vorausging, war schon nach Augenblicken am ganzen Leib zerstochen und zerschnitten; er blutete aus unzähligen winzigen Wunden, und einer der harten Stengel war wie ein Dolch durch die zähe Sohle seines Stiefels gefahren und hatte sich in seinen Fuß gebohrt.

Skar blieb stehen, schüttelte erschöpft den Kopf und ließ Del behutsam zu Boden sinken. »Sinnlos«, sagte er. »Wir müssen warten, bis er erwacht.«

»Er wird nicht sehr begeistert sein«, vermutete Gowenna. Etwas in ihrer Stimme, ein Unterton, den sie angestrengt zu verbergen versuchte, der aber trotzdem hörbar blieb, ließ Skar aufsehen. »Und du auch nicht«, sagte er.

Gowenna antwortete nicht. Die düstere Beleuchtung hier im Inneren des Waldes machte es Skar unmöglich, den Ausdruck auf ihren Zügen zu erkennen, aber er spürte trotzdem, daß er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte.

»Er wird uns keine Schwierigkeiten bereiten, das verspreche ich«, sagte er.

Gowenna drehte sich um und sah eine Weile in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Sie hatten sich kaum weiter als dreißig oder vierzig Schritte vom Waldrand entfernt, aber selbst hier war der Lärm des Kampfes kaum noch zu hören. Die silbrigweißen Stämme und Blätter des erstarrten Waldes schienen nicht nur das Licht, sondern auch jegliches Geräusch zu verschlucken.

»Was war mit Tantor?« fragte sie, ohne ihn anzusehen.

»Was soll mit ihm gewesen sein? Du hast es gesehen.«

Gowenna nickte. »Ja. Aber ich möchte eine Erklärung für das, was ich gesehen habe.«

Skar schürzte wütend die Lippen. »Was gibt es da zu erklären? Er hat sein Pferd zuschanden geritten. Wenn ich ihn nicht weggestoßen hätte, hätte er mich mit aus dem Sattel gerissen. Und mein Tier hätte keine drei Männer getragen.«

Gowenna drehte sich nun doch herum, schnell, mit einer abgehackten, fast wütenden Bewegung, starrte sekundenlang wortlos auf Del hinab und ballte die Fäuste.

»Drei nicht, aber zwei.«

»Del ist mein Freund«, sagte Skar betont. »Und es ist mir vollkommen egal, was er getan oder gesagt hat, Gowenna. Ich werde herausfinden, was diese Hexe mit ihm getan hat, und ich werde ihm helfen.«

»So wie du Tantor geholfen hast?«

Skar machte eine wütende Geste. »Was ist in dich gefahren?« regte er sich auf. »Hast du plötzlich dein Herz für diesen Gnom entdeckt? Er wußte genau, welches Risiko diese Flucht bedeutet. Und ich kann nichts dafür, wenn er mit einem Messer auf sein Pferd einsticht, um es weiterzutreiben! Was hätte ich tun sollen? Del aus dem Sattel werfen, um ihm zu helfen? Oder warten, bis Velas Schergen uns alle drei wieder eingefangen hätten?«

»Er hat uns geholfen«, sagte Gowenna leise. »Ohne ihn wäre es El-tra niemals gelungen, den Drachen abzulenken.«

»Wie meinst du das?«

Gowenna lächelte, aber es wirkte eher wie ein Vorwurf. »Was glaubst du, warum die Bestie plötzlich durchdrehte?« fragte sie. »Tantor hat die Sumpfbrüder den Ruf des Drachen gelehrt.«

»Den Ruf des Drachen? Was ist das?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Gowenna. »Er nannte es so, aber El-tra schien sofort zu wissen, was er meinte. Ein Laut - vielleicht etwas wie ein Brunftschrei - was weiß ich? Wußtest du nicht, daß die Sumpfleute mit den Tieren reden?«

»Geschwätz.«

»Sicher. Sie reden nicht mit ihnen, wenn du das meinst, aber sie vermögen sie zu beruhigen - oder zur Raserei zu bringen, je nachdem.«

»Und selbst wenn«, murmelte Skar. »Er kannte das Risiko.« Plötzlich schrie er: »Verdammt noch mal, Gowenna - wenn dir dieser verlogene Zwerg so sehr am Herzen liegt, dann geh doch hinaus und hole ihn! Vela wird sich sicher freuen, dich wiederzusehen!«

Sein Zorn prallte an ihr ab. Sie blieb ruhig, hielt seinem Blick stand und kam im Gegenteil noch einen Schritt näher. »Was hat sie mit dir gemacht, Skar?« fragte sie. »Dich behext?«

Skar wollte auffahren, aber er spürte, daß er ihr, ganz gleich, was er auch sagen konnte, nur recht geben würde. So schwieg er, auch, als Gowenna neben ihm niederkniete und ihm die Hand auf den Unterarm legte. Das vertraute Gefühl, das ihre Berührung sonst in ihm ausgelöst hatte, blieb aus. Sie schienen plötzlich nur noch Fremde füreinander zu sein.

»Verdammt, Gowenna - was hätte ich denn tun sollen?«

Sie schwieg einen Moment, sah auf Del herab und berührte sein Gesicht mit den Fingerspitzen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie leise und ohne ihn anzusehen. »Aber ich kannte einmal einen Skar, der hätte diese Frage nicht gestellt.«

Ein sonderbares irreales Gefühl von Schuld machte sich in Skar breit. Keine Schuld Tantor gegenüber - er fühlte sich dem Zwerg in keiner Hinsicht verpflichtet und hatte schlimmstenfalls mit gleicher Münze zurückgezahlt - aber das plötzliche Gefühl, vor sich selbst versagt zu haben, auch wenn er vielleicht subjektiv richtig gehandelt hatte. Gowenna war der Wahrheit nähergekommen, als sie wahrscheinlich selbst ahnte. Vela hatte etwas mit ihm gemacht, aber es war nicht heute morgen geschehen, auch nicht in den Tagen zuvor, die er im Kerker verbracht hatte, sondern viel, viel früher. Sie hatte einen Keim gelegt, den Keim zu einer Veränderung, die ebenso langsam wie unaufhaltsam mit ihm geschah. Wie lange hatte er in sich hineingelauscht, hatte auf die Stimme, das Erwachen seines Dunklen Bruder, gewartet? Der war stumm geblieben, als hätten Velas Bemühungen, ihn zu erwecken, das Gegenteil bewirkt, aber Skar begriff plötzlich, daß das gar nicht stimmte. Er war längst erwacht, und er hatte - vielleicht schon, bevor sie dieses Land und die Brennende Stadt erreicht hatten - damit begonnen, seine Seele zu verändern, ihn langsam, ganz langsam erstarren zu lassen. Und er würde fortfahren, ganz gleich, ob er sich dagegen wehrte oder nicht, er würde seine Seele vergiften und ihn töten, Stück für Stück, bis er so kalt und berechnend wie Vela selbst geworden war.

Del stöhnte leise. Er erwachte nicht, aber sein Gesicht zuckte. Der Verband an seinem Handgelenk war mittlerweile vollkommen durchblutet, und etwas Dünnes, Spitzes stieß von unten gegen den Stoff. Der Knochen mußte gesplittert, nicht nur gebrochen sein.

»Kannst du ... etwas gegen seine Schmerzen tun?« fragte Skar stockend.

Gowenna schüttelte den Kopf. »Mit leeren Händen? Er wird durchhalten müssen, bis wir in Cosh sind.«

Skar seufzte ergeben. Del war stark, das wußte er. Und die Verletzung würde ihn vielleicht davon abhalten, einen Fluchtversuch zu unternehmen. »Wie weit ist es?«

Gowenna überlegte einen Moment. »Fünf, vielleicht zehn Meilen. Genau weiß ich das nicht - aber die Grenze zu Cosh liegt auf der anderen Seite dieses Kristallwaldes. Es wird nicht leicht sein, ihn zu durchqueren, wir -«

Die Rückkehr der beiden Sumpfbrüder unterbrach sie. Die beiden Männer aus Cosh erschienen Skar gleicher denn je - ihre Umhänge waren zerfetzt und blutig, beide nicht von ihrem Blut und beide auf die gleiche Weise - und selbst die Art, in der sie die Schwerter hielten, der eine rechts, der zweite, wie in einer spiegelverkehrten Abbildung, in der linken Hand, ähnelte sich auf verblüffende Weise.

»Wir müssen weg. Rasch.« Es war nicht festzustellen, welcher der beiden El-tra sprach; die blitzenden Wände des Kristallgewölbes verzerrten seine Stimme und warfen sie in tausendfachen leisen, glockenhellen Echos zurück, so daß sie aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. »Kann er gehen?« Einer der beiden deutete auf Del. Skar schüttelte den Kopf. Der Sumpfmann schob das Schwert - es war Dels Tschekal, wie Skar mit einem raschen Blick feststellte - in den Gürtel, bückte sich und lud sich den bewußtlosen Satai auf die Schulter. Skar war sich nicht sicher, aber er hatte für einen Moment den Eindruck, als ob der Sumpfmann unter dem Gewicht des reglosen Körpers wanke. Auch die Kraft der Sumpfleute war nicht unerschöpflich.

»Kommt.«

Sie gingen los, El-tra mit Del über der Schulter an der Spitze, gefolgt von Skar und Gowenna. Der zweite Sumpfmann bildete den Abschluß. Skar fiel auf, daß er sich immer wieder mit kleinen, nervösen Blicken umsah.

Skar verlor schon nach wenigen Schritten die Orientierung. Das glitzernde Dach über ihren Köpfen ließ zwar das Tageslicht hindurch, aber er konnte weder die Sonne noch den Himmel wirklich sehen, und es gab in diesem Labyrinth aus Licht und Glas und tödlichen Spitzen keine Geradeaus, sondern nur ein scheinbar zielloses Hin und Her, eine mühsame Suche nach Lücken und Durchlässen, die nur zu oft damit endete, daß sie weit auf ihrer eigenen Spur zurückgehen und einen anderen Weg suchen mußten. Skar hätte schon nach Augenblicken nicht mehr sagen können, in welche Richtung sie sich nun bewegten.

»Wie viele Männer verfolgen uns?« fragte er.

»Keiner«, antwortete El-tra. »Sie sind noch dabei, ihre Wunden zu lecken und die Überlebenden zu versorgen. Die Errish muß die Hälfte ihrer Leute eingebüßt haben. Aber sie hat andere Möglichkeiten, uns zu verfolgen.«

Skar hätte den Sumpfmann gern nach diesen Möglichkeiten gefragt, doch der Weg wurde schwieriger, und für die nächsten Minuten, vielleicht auch für Stunden, hatte er alle Mühe, hinter El-tra zu bleiben und sich dabei keine schweren Verletzungen zuzuziehen. Nach einer Weile begann sich der »Wald« aufzulockern; die Stämme traten ein wenig weiter auseinander, und sie kamen etwas schneller voran.

Nach einer Weile blieb El-tra stehen und ließ Del zu Boden sinken, nun sichtlich erschöpft. Er wankte, und im unsicheren Licht des verzauberten Kristallwaldes schien es Skar für einen Augenblick, als flackere seine Gestalt, als wären die Kräfte, die die wogenden Nebel unter der spitzen Kapuze in ihrer Form hielten, erlahmt. Er warf dem Sumpfmann einen langen, besorgten Blick zu, kniete neben Del nieder und versuchte ihn aufzuheben. Es ging nicht. Auch er war erschöpft durch den langen, kräftezehrenden Marsch, aber auch durch den Verlust an Blut, das aus unzähligen winzigen Schnittwunden über seine Arme und Beine lief. Mit einem erschöpften Keuchen richtete er sich, schwankend und die Hände haltsuchend ausgestreckt, auf, lehnte sich gegen einen der kühlen, glatten Stämme und schloß die Augen. Das Blut rauschte hinter seinen Schläfen, und die Atemzüge waren scharf wie geriebenes Glas und schmeckten nach Blut.

»Wir schaffen es nicht«, flüsterte Gowenna. Sie war neben ihm zusammengesunken, den Kopf auf die Knie gestützt und die Hände wie in Schmerzen gegen den Leib gepreßt. »Diesmal sind wir erledigt, Skar.«

Skar öffnete mühsam die Augen. Das Licht flackerte und verlieh den starren Kristallstrukturen um sie herum scheinbares Leben. »Wir werden es schaffen«, widersprach er. »Ich denke gar nicht daran, aufzugeben. Jetzt nicht mehr. Ich werde ... Del tragen. Gib mir nur ein paar Augenblicke, um neue Kraft zu schöpfen.«

Gowenna hob müde den Kopf und sah ihn an. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht konnte ein Lächeln sein, vielleicht aber auch etwas ganz, ganz anderes.

»Mach dich nicht zum Narren, Skar«, sagte sie ruhig. »Du bist am Ende, genau wie wir. Du kannst ja kaum mehr aus eigener Kraft stehen.«

»Und was schlägst du vor, das wir tun sollen?« fragte Skar böse. »Hier warten, bis Velas Männer uns eingeholt haben?«

»Natürlich nicht«, mischte sich El-tra ein. »Aber Gowenna hat recht - wir waren zu lange in Tuan. Unsere Kräfte sind erschöpft. Mein Bruder wird allein vorausgehen und Hilfe holen.«

»Hilfe?« Skar lachte leise, als hätte der Sumpfmann einen Scherz gemacht. »Und wo?«

»Cosh ist nicht weit, Bruder«, antwortete El-tra ernst. »Mit etwas Glück können wir bei Sonnenaufgang zurücksein. So lange müßt ihr euch hier verbergen.«

»Und wenn er nicht zurückkommt?«

»Ich komme zurück«, sagte El-tra. Er schien einen Moment zu überlegen, griff dann unter seinen Mantel und zog Dels Schwert hervor. Ohne ein weiteres Wort drückte er Skar die Waffe in die Hand, drehte sich um und verschwand im Unterholz. Seine Schritte waren noch eine Weile auf dem klingenden Boden zu hören.

Skar fühlte sich plötzlich auf seltsame Weise alleingelassen. Für einen Moment mußte er mit aller Macht gegen den irrsinnigen Impuls ankämpfen, blindlings hinter dem Sumpfmann herzustürzen. El-tra war längst kein Fremder mehr für ihn, sondern so vertraut wie ein guter Freund, mit dem er seit Jahrzehnten zusammen war. »Keine Sorge, Bruder«, murmelte der andere Sumpfmann. »Er wird zurückkommen. Wir kennen diese Wälder. Auch ihre Gefahren.« Obwohl die Worte dazu gedacht waren, Skar zu beruhigen, bewirkten sie eher das Gegenteil. Aber er beherrschte sich und schwieg.

»Wir sollten trotzdem weitergehen«, fuhr der Sumpfmann fort. »Wir sind noch zu dicht am Waldrand. Velas Arm reicht weit.«

»So?« Skar stieß sich von dem Baumstamm, an dem er gelehnt hatte, ab, machte einen Schritt auf den Sumpfmann zu und sah ihn scharf an. »Wahrscheinlich ist es sinnlos«, sagte er spöttisch, »aber vielleicht kannst du dir irgendwann einmal angewöhnen, nicht in Rätseln zu sprechen. Was heißt: Velas Arm reicht weit?«

»Wüßte ich es, wären wir nicht hier«, entgegnete El-tra. »Doch ich spüre, daß wir noch nicht in Sicherheit sind. Vielleicht gewähren uns nicht einmal die Grenzen von Cosh wirklichen Schutz. Du kennst diese Frau besser noch als wir, Skar. Sie wird nicht eher ruhen, als bis sie erreicht hat, was sie will.«

»Vielleicht könntet ihr für einen Moment damit aufhören, euch ununterbrochen Dinge zu erklären, die ihr längst wißt«, sagte Gowenna spitz. »Del erwacht.«

Skar fuhr schuldbewußt zusammen und kniete neben Del nieder. Das Gesicht des jungen Satai glänzte vor Schweiß, trotz der Kälte und der Feuchtigkeit, die sie auch hierherverfolgt hatte und beharrlich durch ihre Kleider kroch. An seinem Hals pochte eine Ader. Skar erschrak, als er sah, wie schlecht Dels Zustand wirklich war. Der gebrochene Arm mußte sehr schmerzhaft sein - aber darin allein konnte der Grund für das Beinahe-Koma, in dem Del lag, kaum liegen. Seine Augenlider flatterten, öffneten sich für einen Moment und fielen dann wieder zu, als fehle ihm selbst für diese Bewegung noch die Kraft. Skar sah auf und blickte erst Gowenna, dann den Sumpfmann hilfesuchend an.

»Was ... ist mit ihm?« fragte er.

Gowenna bedeutete ihm mit einer Geste, beiseite zu treten, und Skar gehorchte. Del bewegte sich stärker, öffnete noch einmal die Augen und versuchte sich hochzustemmen. Sein Blick war verschleiert. Er sah Skar an, aber in seinen Augen war kein Erkennen. Ohne ein weiteres Wort ließ sich El-tra neben ihm nieder, zwang ihn mit sanfter Gewalt wieder zurück und legte Mittel- und Zeigefinger der linken Hand über seine Augen.

»Was habt ihr vor?« fragte Skar besorgt.

Gowenna winkte ungeduldig ab. »Nichts, was dir Anlaß zur Sorge geben könnte«, sagte sie ausweichend.

»Aber -«

»Bitte, Skar - laß ihn. Wenn du willst, daß dein Freund lebend in Cosh ankommt, dann vertraue El-tra. Wenn du es sonst schon nicht kannst.«

Skar schluckte den kaum verhüllten Vorwurf in Gowennas Worten widerspruchslos hinunter und wandte sich ab. Sie waren alle nervös, nervös, verängstigt und dazu am Ende ihre physischen Kraft. Wenn er sich jetzt auf einen Streit mit Gowenna einließ, dann würde er vielleicht Dinge sagen, die ihm hinterher leid täten. Eine Zeitlang ging er unruhig auf und ab, während El-tra weiter reglos dahockte, die Linke auf Dels Gesicht, und leise, unverständliche Worte murmelte. Aber was immer er tat - es wirkte. Dels Atem beruhigte sich. Sein Blick wurde wieder klar, wenn auch auf eine Art, die Skar bewies, daß er noch immer nicht Herr seiner Sinne war. Nach einer Weile stand El-tra auf, trat einen Schritt zurück und hob die Hand. Dels Blick hing wie gebannt an seinem Schattengesicht. Wieder stemmte er sich hoch, versuchte aufzustehen und sank mit einem schmerzhaften Seufzer zurück. El-tra schüttelte den Kopf. »Sinnlos«, sagte er. »Velas Einfluß ist zu stark in ihm. Und ich bin allein nicht stark genug, ihn brechen zu können.« Er schwieg einen Moment, drehte sich um und fuhr fort: »Wir werden ihn tragen müssen. Oder hierbleiben.« Skar antwortete nicht darauf. Und er wollte auch plötzlich gar nicht mehr wissen, was El-tra getan oder gemeint hatte. Er war so lange mit den Sumpfbrüdern zusammengewesen, daß er zu vergessen begann, was sie wirklich waren - nämlich keine Menschen, sondern Männer eines Volkes, das vielleicht ebenso fremd und unverständlich war, wie es die Erbauer Combats gewesen sein mochten.

»Bleiben wir eine Weile hier und ruhen uns aus«, schlug Gowenna vor. »Wir könnten später weitergehen. Das heißt, wenn wir hier sicher sind.«

»Das sind wir nicht.« El-tra machte eine rasche Geste mit beiden Händen, die den gesamten Wald einschloß. »Aber wir sind auch weiter im Süden nicht sicherer. Nicht, ehe wir nicht die Grenzen zu Cosh überschritten haben. Und ich glaube nicht«, fügte er nach kurzem Überlegen hinzu, »daß sie weiß, wo wir sind.«

Wieder schwiegen sie eine Weile, bedrückt, erschöpft, aber auch aus dem Wissen heraus, daß es nichts gab, was noch zu sagen gewesen wäre. Schließlich hockte sich Skar - so wie schon zuvor - neben Del auf den Boden und lehnte sich gegen einen Baum. Der glatte Kristall erschien ihm kälter als noch vor wenigen Augenblicken, und der Boden war, obgleich sie schon lange wieder über normales Erdreich und Stein, nicht mehr über Glas marschierten, hart und unnachgiebig wie geschmiedeter Stahl. Das Licht, das verzerrt und tausendfach gebrochen durch das kristallene Dach über ihren Köpfen sickerte, verlor allmählich an Intensität; es mußte Abend werden. Trotzdem wurde es nicht dunkel, zumindest nicht vollständig. Die Sonne ging unter, aber das Sternenlicht spiegelte sich in den unzähligen Facetten und Flächen der Diamantbäume, so daß der Kristallwald auch nach Sonnenuntergang noch von gräulicher, von unzähligen flirrenden Lichtpunkten durchsetzter Helligkeit erfüllt war; ein Licht, das gleichermaßen faszinierend wie unheimlich war. Skar versuchte zu schlafen, aber die zunehmende Kälte und die Furcht, die sich wie ein schleichendes Gift in seinen Gedanken festgesetzt hatten, hielten ihn wach. Del schlief - Schlaf oder Bewußtlosigkeit, das blieb sich gleich -, während El-tra und Gowenna sich darin ablösten, Wache zu halten und ihre nähere Umgebung zu erkunden. Skar hatte sich angeboten, seinen Teil der Wache zu übernehmen, aber der Sumpfmann hatte das rundweg abgelehnt, und Skar war nicht allzu unglücklich darüber gewesen. Er fragte sich ohnehin, wie El-tra das Kunststück fertigbrachte, nicht die Orientierung zu verlieren. So beschränkte er sich darauf, wach zu bleiben und - eigentlich nur, um seine Hände beschäftigt zu wissen und nicht, weil er ernsthaft daran glaubte, angegriffen zu werden - sein Tschekal griffbereit zu halten.

Der Laut zaghafter Schritte riß ihn aus seinen Gedanken. Er sah auf, nickte Gowenna wortlos zu und fuhr fort, seine Waffe zu polieren, während sie neben ihm Platz nahm. Eine Weile sah sie ihm schweigend zu, wie er das Schwert sorgfältig mit einem Tuchstreifen, den er von seinem Umhang gerissen hatte, reinigte, immer wieder absetzte und ins Licht hielt, um sich davon zu überzeugen, daß auch nirgendwo ein Fleck oder ein Kratzer zurückgeblieben war. Ihre Hand berührte seinen Arm. Skar hielt einen Moment inne, sah auf ihre Finger hinab und fuhr dann fort, das Tschekal zu streicheln. Einen Herzschlag lang erstarrte Gowennas Bewegung, und er dachte, daß sie die Hand zurückziehen würde, aber ihre Finger glitten weiter, berührten sein Handgelenk und schmiegten sich gleichzeitig sanft und kräftig um dieses. Skar ließ die Waffe sinken und sah Gowenna an. Ihr Gesicht lag im Schatten, aber das kristallene Dach über ihren Köpfen ließ winzige Lichtmotten darüberflattern, so daß es eine eigene, fremde Art von Leben bekam. Skar lauschte einen Moment in sich hinein, aber alles, was er fühlte, war Müdigkeit und ein vager, noch weit entfernter Schmerz.

»Was ich vorhin gesagt habe«, murmelte Gowenna, »tut mir leid.«

»Was?«

»Tantor. Du hast richtig gehandelt. Ich ... habe mich hinreißen lassen. Verzeih.«

Skar lächelte, schob die Waffe in den Gürtel zurück und legte den Arm um Gowennas Schulter. Aber es war eigentlich nur ein Reflex, etwas, das er im Grund nur tat, weil sie es von ihm erwartete. »Schon gut. Du hattest recht.«

Gowenna schmiegte sich eng an ihn, aber er wartete weiter vergeblich auf irgendeine Regung in sich.

»Wir könnten uns jetzt natürlich wieder streiten, wer von uns beiden nun im Recht war«, sagte Gowenna. »Aber ich bin zu müde dazu. Wie geht es Del?«

Skar wandte den Kopf und sah auf die schlafende Gestalt hinab. »Er schläft«, antwortete er. »Das Beste, was ihm passieren kann. Was ... hat El-tra mit ihm gemacht?«

Gowenna schwieg einen Moment. Ihr Atem ging schneller als normal, und Skar spürte durch den dicken Stoff ihres Mantels hindurch, wie sie zitterte, aber das konnte ebenso an seiner Nähe wie an der Kälte liegen. Er hoffte, daß es die Kälte war. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie nach einer Weile. »Die Sumpfleute sind ein seltsames Volk. Ich habe lange bei ihnen gelebt, aber du mußt nicht denken, daß ich sie kenne. Ich weiß nur das von ihnen, was sie wollten, daß ich wissen darf. Und das ist nicht viel. Vielleicht«, fügte sie plötzlich und überraschend hinzu, »hätten sie Tantor getötet, wenn er ihre Sümpfe betreten hätte. Möglicherweise hast du ihm das Leben gerettet.«

Skar lachte rauh. »Das bezweifle ich. Wenn er den Sturz vom Pferd überlebt hat, wird Vela ihre Wut an ihm auslassen.«

»Wut?« Gowenna betonte das Wort auf seltsame Art. »Ich glaube nicht, daß sie so etwas wie Wut überhaupt kennt, Skar. Sie ist...« Sie brach ab, löste seinen Arm von ihrer Schulter und setzte sich auf. »Spielst du Schach?« fragte sie.

Skar versuchte gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. »Nicht sehr gut.«

»Sie beherrscht es meisterhaft, Skar. Und sie spielt ohne Gefühle.«

»Aber sie benutzt lebende Figuren«, murmelte Skar.

»Tun wir das nicht alle? Versuchen wir es nicht wenigstens alle irgendwann einmal?«

Skar begann sich unbehaglich zu fühlen. Er hatte nicht über Vela reden wollen, wenigstens jetzt nicht. Aber das schien unmöglich zu sein. Die Errish war mit der Unaufhaltsamkeit einer Naturkatastrophe in sein Leben gebrochen und hatte es verändert, grundlegender als irgend jemand oder irgend etwas zuvor. Selbst wenn es ihm gelang, sie zu besiegen, würde er hinterher nicht mehr derselbe sein wie vorher.

Er lehnte sich zurück, sah zu dem lichtdurchwobenen Kristalldach über sich empor und deutete mit einer fragenden Geste auf den Wald. »Was ist das hier eigentlich?« fragte er, nicht aus wirklicher Neugier, sondern nur, um auf ein anderes Thema überzulenken.

»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es, glaube ich. Tuan steckt voller Geheimnisse, und manche von ihnen werden wohl nie gelüftet werden. Vielleicht war es einmal ein Wald, der zu Glas wurde wie Tuan, vielleicht auch etwas anderes ... aber es ist schön.«

»Schön?«

Gowenna nickte. »Schön und unheimlich, jedenfalls für mich.« Ihre Stimme bekam einen seltsam weichen Klang. »Es ist, als ... als wäre man im Inneren eines gewaltigen Diamanten. Man fühlt sich so geborgen.«

»Geborgen ...« Skar lachte leise. »Kennst du den gelben Stein, der manchmal vom Meer ans Land geworfen wird? Ich habe einmal ein solches Stück gefunden. In seinem Inneren war eine Spinne begraben, ein winziges Tier nur, noch in der Luftblase, die sie mitgenommen hatte, um unter Wasser zu atmen. Glaubst du, daß sie sich geborgen gefühlt hat?«

Gowenna sah ihn lange und schweigend an.

»Sind alle Satai so wie du?« fragte sie plötzlich.

»Wie meinst du denn, daß ich bin?«

»Auf jeden Fall seltsam«, seufzte Gowenna. »Wir sind nun schon lange zusammen, und ich kenne dich immer noch nicht. Vielleicht kennst du dich nicht einmal selbst. Du bist ein Mann des Krieges, und doch kannst du sanft wie ein Kind sein. Und zeigt man dir etwas Schönes, siehst du überall Bedrohung und Gefahr.«

»Ein Mann des Krieges?« Skar schüttelte den Kopf. »Das bin ich mit Sicherheit nicht. Vielleicht bin ich ein Krieger, aber das bedeutet nicht, daß mir das, was ich tun muß, Freude bereitet.«

»Wie viele Männer hast du getötet, Skar? Hundert? Zweihundert?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Skar ehrlich. »Ich habe sie nicht gezählt.«

»Und doch haßt du es, zu töten. Das ist es, was ich nicht verstehe. Nur die wenigsten schaffen es, die Ausbildung eines Satai abzuschließen ...«

»Und die, denen das Töten Freude bereitet, mit Sicherheit nicht«, fiel ihr Skar ins Wort.

»Aber das ist verrückt!«

»Und doch logisch. Jemand muß es tun.«

»Was? Töten?«

Skar nickte. »Ich kann mir so gut wie du eine Welt vorstellen, in der es keine Kriege und keinen Streit gibt, aber solange wir in der Welt leben müssen, in die wir hineingeboren sind, muß es auch Krieger geben. Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, kriegerisch zu sein, und vielleicht hören wir auf, diese Welt zu beherrschen, wenn wir aufhören, Kriege zu führen.«

»Lernt man das auch als Satai?« fragte Gowenna. »Zynisch zu sein?«

»Zynisch?« Skar lächelte. »Es klingt vielleicht so, aber ich fürchte, es ist die Wahrheit. Auch, wenn sie mir nicht gefällt. Die Welt braucht uns - natürlich nicht dich oder mich oder Del, nicht einmal die Satai -, aber sie braucht Krieger.«

»Krieger vielleicht. Aber Männer wie euch? Männer wie ...«

»Mordmaschinen«, sagte Skar, als Gowenna nicht weitersprach. »Sprich es ruhig aus - es verletzt mich nicht. Ich weiß, daß man uns so nennt, daß man uns diesen und andere, schlimmere Namen gegeben hat. Es ist ein Teil des Planes.«

»Welches Planes?« fragte Gowenna verwirrt.

Skar lächelte. »Nun, vielleicht ist Plan nicht der richtige Ausdruck. Doch es gehört dazu, irgendwie. Du selbst hast es gesagt: Männer wie wir ... Männer, vor denen man Angst hat, die man fürchtet, auch wenn man keinen Grund dazu hat. Sie fürchten uns, weil wir die Gewalt symbolisieren, weil wir leben, um zu töten. All diese Herzöge und Barone, die reichen Kaufleute und Ritter - was tun sie, wenn sie Streit mit ihrem Nachbarn haben, wenn sie sich bedroht oder ins Unrecht gesetzt fühlen? Sie rufen uns, die Satai. Sie geben uns Gold, manchmal nur ein Essen und ein Nachtlager, und wir tragen ihren Streit aus. Wir sind es, die die Waffe in die Hand nehmen, die töten. Und schließlich, wenn alles getan ist, können sie uns sogar noch die Schuld geben. Deshalb gibt es die Satai, Gowenna. Nicht, weil wir Freude am Morden haben, sondern weil wir gebraucht werden. Gäbe es uns nicht, gäbe es andere.«

»Aber -«

»Vielleicht schlimmere«, fuhr Skar mit leicht erhobener Stimme fort, als Gowenna etwas einwerfen wollte. »Ich weiß, was du sagen willst. Es gibt immer andere, und es ist keine Entschuldigung. Aber vielleicht wären diese anderen schlimmer. Vielleicht verhindern wir Satai die Gewalt, gerade, indem wir sie ausüben. Vielleicht würde Enwor binnen einer Generation in Barbarei versinken, gäbe es nicht die Satai und Veden und die anderen Kriegerkasten. Wer die Gewalt beherrscht, kann sie auch lenken.«

Gowenna schüttelte den Kopf. »Klingt das nicht alles nach einer Entschuldigung?«

»Es ist eine«, bestätigte Skar ruhig. »Ich behaupte nicht, daß es so ist. Wir Satai glauben, es wäre so, aber auch wir sind Menschen und können uns irren. Vielleicht wäre Enwor besser ohne uns. Vielleicht.«

»Eine seltsame Philosophie für einen Mann, der gelernt hat, einen Menschen mit einem Finger zu töten.«

»Und doch notwendig. Nenne es Selbstschutz. Wer gelernt hat« - er zitierte sie absichtlich, sogar auch noch im Tonfall - »einen Menschen mit einem Finger zu töten, der muß sich selbst Regeln auferlegen. Es ist kein Zufall, daß wir Satai eine so komplizierte und anderen manchmal unverständliche Moral haben. Ohne sie hätten wir nicht überlebt. Wir hätten uns selbst vernichtet.«

»Aber ihr habt diese Welt einmal beherrscht.«

Skar schüttelte erneut den Kopf. »Nicht wirklich«, sagte er. »Wir hatten Gewalt über sie, das stimmt. Aber wer ein Ding in seiner Gewalt hat, der muß es nicht beherrschen. Wir ...«

Der Boden erzitterte. Skar stockte mitten im Satz, fuhr auf und sah sich aufmerksam um. Ein leises Klingen, ein Geräusch, als striche sanfter Wind durch einen Wald gigantischer gläserner Harfensaiten, drang an sein Ohr, dann lief ein neuerliches schwaches Zittern durch den Boden.

»Was ist das?« fragte er.

Gowenna zuckte mit den Achseln. Aber auch ihre Haltung wirkte mit einem Mal angespannt. Sie stand mit einer fließenden Bewegung auf, machte einen Schritt und blieb, unsicher nach rechts und links sehend, stehen.

Wieder zitterte der Boden, und das helle Klingen und Schlagen wurde durchdringender, wenn auch nicht lauter. Auch Skar erhob sich und spähte aufmerksam in die Runde. Aber selbst wenn es in ihrer Umgebung irgendeine Veränderung gegeben hätte, wäre kaum etwas davon zu bewirken gewesen; es war nicht wirklich hell. Seine Augen hatten sich an das schwache Licht gewöhnt, und er hatte wenige Schritte weit sehen können, doch auch das nur, weil er wußte, was die Schatten und Umrisse vor ihm bedeuteten. Sie waren eingewoben in ein Spinnennetz aus Licht und Grau und unsicheren Dingen, deren Konturen nur zu erraten waren und sich zudem beständig zu wandeln schienen, und es war wie in jenen Momenten zwischen Tag und Dämmerung, in denen das Licht noch ausreichte, man aber trotzdem fast weniger sah als bei Dunkelheit.

»Verschwinden wir von hier«, murmelte Gowenna. Sie gab sich sichtlich Mühe, ruhig zu bleiben, aber ihre Stimme zitterte hörbar, und ihre Bewegungen erschienen Skar ein klein wenig zu hastig, als sie sich umdrehte und auf Del deutete. »Kannst du ihn tragen ?«

»Und El-tra?«

Gowenna winkte ab. »Er wird uns finden, keine Sorge. Beeil dich.«

Der Harfenklang wurde lauter; härter, kein Streicheln mehr, sondern eine Folge harter, fordernder Schläge, die von einem vibrierenden, unangenehmen Gefühl in der Luft begleitet wurden. Skar eilte rasch zu Del hinüber, ließ sich auf ein Knie sinken und hob ihn behutsam hoch. Del stöhnte leise, wurde aber nicht wach. Skar wankte einen Moment unter dem Gewicht des reglosen Körpers. Er hatte vergessen, wie schwer Del war, selbst ohne den schwarzen Hornpanzer. Mühsam lud er ihn sich auf die Schulter, blieb einen Herzschlag lang mit gespreizten Beinen stehen, um sicheren Stand zu finden, und sah Gowenna fragend an. »Wohin?«

»Nach Süden«, sagte Gowenna unsicher.

»Und wo«, fragte Skar betont, »ist hier Süden?«

Gowenna blickte ratlos in die Runde. Das Klingen und Schlagen hatte weiter zugenommen, so daß Skar bereits die Stimme heben mußte, um sich verständlich zu machen, und der Boden erzitterte nun beinahe ununterbrochen, nicht mehr so sanft wie zu Anfang, sondern in harten, mahlenden Stößen, die mehr und mehr in ein ununterbrochenes Beben übergingen, so daß Skar beinahe Schwierigkeiten hatten, mit Dels zusätzlichem Gewicht auf den Schultern überhaupt auf den Beinen zu bleiben.

»Was ist das?« fragte er noch einmal. »Gowenna - was geht hier vor?!«

Gowennas Antwort ging in einem ungeheuren Bersten und Krachen unter. Flackerndes rotes Licht löschte die Schatten ringsum aus, und Skar taumelte, von einer unsichtbaren Riesenfaust getroffen, gegen einen Baum. Er sah, wie Gowenna stürzte, klammerte sich verzweifelt mit der Linken fest, versuchte gleichzeitig, Del mit der anderen Hand festzuhalten, und ging unter einem zweiten, noch härteren Schlag zu Boden. Alles um ihn herum war rot, rot und düster und flackernd, und als er herumfuhr und sich hochstemmte, sah er eine brüllende, dunkelrote Feuersäule über den Wipfeln des Kristallwaldes emporsteigen. Ein Hagel winziger, messerscharfer Kristallsplitter regnete auf ihn herunter und fügte neue Wunden zu den kaum verheilten Schnitten auf seinem Gesicht und seinen Händen hinzu.

Wieder erbebte der Boden, und hinter der ersten stieg eine zweite, kochende Feuersäule in den Himmel. Es wurde warm, für einen winzigen Moment heiß, dann fegte eine zweite, von einem neuerlichen Hagel scharfkantiger Trümmer begleitete Druckwelle Gowenna und Skar wieder zu Boden. Skar warf sich schützend über Del und vergrub sein Gesicht zwischen den Armen. Irgend etwas schrammte über seinen Rücken, heiß, brennend und unglaublich scharf, und ein harter Schlag traf sein linkes Bein und lähmte es für Sekunden.

Skar blieb einen Moment benommen liegen, ehe er sich hochstemmte. Dicht neben ihm kam Gowenna mit unsicheren Bewegungen auf die Füße. Auf ihrem Gesicht war frisches Blut zu sehen, aber sie schien, wie er, im großen und ganzen unverletzt geblieben zu sein. Skar blieb für die Dauer von drei, vier Herzschlägen reglos sitzen und lauschte, aber es gab keine dritte Explosion. Es war still wie zuvor, jetzt, nach dem ungeheuren Krachen und Klirren, das den Kristallwald bis ins Herz erschüttert hatte, fast noch stiller, so daß Skar das Geräusch seiner eigenen Atemzüge unangemessen laut und störend vorkam. Als hielte die Natur in Erwartung eines weiteren Hiebes den Atem an, dachte er. Nur in seinen Ohren war noch ein leises Klingeln und Klirren, ein Nachhall des Brüllens, das seine Trommelfelle gemartert hatte.

Es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß der Laut wirklich und nicht eingebildet war. Er stand auf, blickte sich verwirrt um und warf Gowenna einen fragenden Blick zu. Sie wirkte blaß.

Skar trat mit einem raschen Blick auf sie zu, packte sie an den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. »Was war das?«

»Ich weiß es nicht. Ich -«

Skar schüttelte sie so heftig, daß sie mit einem schmerzhaften Keuchen verstummte. »Du weißt es ganz genau«, sagte er wütend. »Und ich will endlich wissen, was hier los ist! Verdammt, Gowenna, ich habe dir gesagt, daß du mich nicht länger belügen sollst!«

El-tras Erscheinen bewahrte Gowenna für den Moment davor, antworten zu müssen. Der Sumpfmann stürzte heran, eilte ohne ein erklärendes Wort oder Geste an Skar vorüber und bückte sich nach Del. Skar wollte ihm helfen, aber El-tra winkte hastig ab und warf sich Del wie ein Spielzeug über die Schulter. »Geh voraus!« sagte er befehlend. »Dort entlang!«

Skar stürmte wortlos in die Richtung, in die der Sumpfmann gedeutet hatte. Er begriff schon nach wenigen Augenblicken, warum El-tra diesmal darauf bestanden hatte, daß er vorausging. Der Wald wurde wieder dichter, so daß Skar sich schon nach kurzer Zeit gezwungen sah, sein Schwert zu ziehen und eine Gasse durch das glitzernde Unterholz zu hacken. Der Kristall zersplitterte schon bei der geringsten Berührung, aber die Schläge kosteten trotzdem Kraft, und sie kamen nicht halb so rasch voran, wie Skar sich gewünscht hätte. Zudem verursachten sie einen höllischen Lärm. Das Klirren, mit dem die Kristallgewächse zerbarsten, mußte meilenweit zu hören sein.

Skar wußte hinterher nicht, wie weit sie gelaufen waren - zwei, drei, vielleicht fünf Meilen, vielleicht aber auch nicht einmal eine. Irgendwann konnte er einfach nicht mehr. Er blieb stehen, taumelte gegen einen Baum und ließ kraftlos die Arme sinken. Sein Schwert schien plötzlich Zentner zu wiegen. Sein Herz schlug so hart, daß er jeden einzelnen Schlag mit fast schmerzhafter Intensität spürte, und in seiner Kehle stieg schon wieder Übelkeit empor. Das Klirren und Tönen in seinen Ohren blieb. Er atmete zehn, fünfzehnmal hintereinander tief durch, schloß die Augen und versuchte, das Schwindelgefühl zu vertreiben, das sich hinter seiner Stirn breitmachte. Jemand berührte ihn an der Schulter und schüttelte ihn; die Bewegung ließ Wellen von Übelkeit in ihm aufsteigen, und als er die Augen öffnete, sah er im ersten Moment nichts als wogende Schatten.

»Wir müssen weiter, Skar!« Er erkannte El-tra nur an seiner Stimme, und sein Nicken war keine Zustimmung, sondern nur noch ein Reflex; der Instinkt zu überleben, der ihm so lange eingehämmert worden war, bis er selbst dann noch funktionierte, wenn sein Wille längst aufgegeben hatte. Er stieß sich von dem Baumstamm ab, wankte und wäre gestürzt, wenn El-tra ihn nicht aufgefangen hätte. Das Klingen in seinen Ohren wurde stärker. Irgend etwas bewegte sich vor ihm.

Unendlich müde schob er die Waffe in den Gürtel zurück, griff blindlings nach Gowennas hilfreich ausgestreckter Hand und taumelte, halb auf sie gestützt, halb mit der anderen Hand Halt an Bäumen und gläsernem Buschwerk suchend, weiter.

»Es ist nicht mehr weit. Halte durch.« Diesmal durchbrachen El-tras Worte den Mantel aus Erschöpfung, der sich um sein Bewußtsein gelegt hatte.

»Cosh?«

Der Sumpfmann nickte. »Zwei, vielleicht drei Meilen. Wir haben Glück.«

Skar hatte plötzlich das Bedürfnis zu lachen - zwei Meilen oder die andere Seite des Schattengebirges, das blieb sich gleich. Er würde keine zwei Schritte mehr gehen können. Nicht jetzt; vielleicht überhaupt nicht mehr. Er wankte, ließ Gowennas Hand los und fiel schwer auf die Knie. Zum ersten Mal, seit er Ikne verlassen hatte, dachte er ernsthaft daran, aufzugeben.

Gowenna versuchte ihn auf die Füße zu zerren, aber er war zu schwer. »Bitte, Skar«, sagte sie verzweifelt. »Reiß dich zusammen! El-tra kann dich nicht auch noch tragen!«

Skar stützte sich schwer mit den Handknöcheln auf dem eisenharten Boden ab, hob den Blick und sah Gowenna an. Der Boden vibrierte noch immer, und die Bewegung pflanzte sich durch seine Hände und die bis zur Grenze des Erträglichen gespannten Arm- und Schultermuskeln fort und erfüllte ihn mit einem nicht einmal unangenehmen Kribbeln.

»Geht allein weiter«, murmelte er. »Bringt... Del in Sicherheit. Ihr könnt mich später holen.«

»Es wird kein Später für dich geben, du verdammter Idiot!« schrie Gowenna. »Das hier ist kein Spiel, begreifst du das nicht? Wir sind in Gefahr!«

»Ach«, machte Skar. »Seit wann?«

Gowennas Gesicht verdüsterte sich. Sie schwieg einen Moment, fuhr dann mit einer blitzartigen Bewegung herum und krallte die Linke in Dels Haar. In ihrer anderen Hand blitzte plötzlich ein schmaler, zweischneidiger Dolch.

»Ich schwöre dir, daß ich ihm die Kehle durchschneide, wenn du nicht weitergehst«, sagte sie. Ihre Stimme klang plötzlich ganz ruhig, aber es war gerade diese Ruhe, die Skar zeigte, daß ihre Worte keine leere Drohung waren. »Ich tue es, Skar. Er ist ohnehin nur Ballast für uns und wird mehr Schaden als Nutzen bringen.«

Skar musterte sie eisig. Er war nicht einmal mehr in der Lage, Zorn zu empfinden. »Du hast dich wirklich nicht verändert«, sagte er.

»Warum auch?« Die Spitze des Dolches ritzte Dels Haut. Ein winziger Blutstropfen erschien auf seinem Hals, leuchtend wie eine rote Träne. »Sein Hiersein ist vielleicht der Preis für deine Begleitung, Skar. Aber ohne dich bringt er keinen Nutzen für uns. Nicht für uns und nicht für unsere Mission. Warum sollten wir uns mit ihm belasten, wenn es dich nicht mehr gibt?«

Skar ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste, stand aber trotzdem gehorsam auf und begann weiterzugehen, nicht mehr vor, sondern hinter El-tra jetzt, und mit mühsamen, schleppenden Schritten. Gowenna ließ ihren Dolch wieder unter dem Gewand verschwinden, aber allein die Art, in der sie es tat, sagte Skar, daß sie ihn jederzeit erneut hervorholen und ihre Drohung wahrmachen würde.

Das klingende Geräusch, das sie die ganze Zeit begleitet hatte, wurde wieder leiser, als sie sich weiter nach Süden bewegten; es blieb jedoch die ganze Zeit in ihrer Nähe wie ein unsichtbares, nur aus Tönen und gespenstischer Musik bestehendes Raubtier, das sie beschlich und auf eine Gelegenheit wartete, über sie herzufallen. Skar wußte nicht, warum es ausgerechnet dieser Vergleich war, der sich ihm aufdrängte, aber er erschien ihm auf schwer zu fassende Art passend. Der Laut hatte etwas Drohendes an sich, obwohl er so klar wie der Kristall des Waldes und hoch war, eher der Gesang von Engeln als der von Dämonen. Und Gowenna schien ebenso zu empfinden. Ihr Blick streifte immer wieder nach rechts und links, tastete unsicher über den Boden und das gewölbte kristallene Dach über ihren Köpfen; sie wirkte ganz wie ein Mensch, der irgend etwas Bestimmtes sucht, voller Ungeduld darauf wartet und gleichzeitig Angst davor hat.

Ein winziger Lichtfleck löste sich aus den Baumwipfeln, fiel vor Skar auf den Boden und erlosch. Er blieb stehen, bückte sich neugierig und erkannte, daß es ein Bruchstück des Kristalls war; klar und rein wie ein geschliffener Edelstein, nur an einer Seite zerborsten und milchig wie ein uraltes Glas. Aber noch während er hinsah, begann sich die Bruchkante zu glätten.

»Was ...«

Gowenna stieß einen halblauten, erschrockenen Ruf aus und deutete nach links.

Skars Herz schien einen schmerzhaften Sprung zu tun, als er sah, was Gowenna zu ihrem Ausruf veranlaßt hatte. Der Wald war nicht länger tot. Die kristallene Starre war unter einem Wirbel fließender, wogender Bewegung verschwunden; blitzende Kristallspinnen, die auf glatten, beinlosen Körpern geschäftig hin und her huschten und dabei winzige, haardünne Fäden hinter sich herzogen, hier und da Netz und feine, zerbrechliche Gespinste formend, Knoten und große, durchbrochene Platten, die das Licht einfingen und wie eine Million unterschiedlich angeordneter Spiegelscherben zurückwarfen. Das Klingen wurde wieder lauter, und dazwischen hörte Skar ein neues Geräusch: einen Laut, als würde irgendwo ein gewaltiges Stück Pergament von einer noch gewaltigeren Faust ergriffen und langsam, ganz langsam zusammengedrückt.

»Nein!« keuchte Gowenna. »Das ...« Sie brach ab, stieß einen schrillen, kaum mehr artikulierten Schrei aus und hetzte dann wie von Furien gejagt los. Auch El-tra fuhr mit einem keuchenden Laut herum und stürmte davon. Skar rannte hinter ihnen her, auf der Flucht vor einer Gefahr, die er weder sehen noch begreifen konnte, die er jedoch instinktiv spürte.

Der Wald bebte. Nicht nur der Boden, jeder einzelne Stamm, jeder Halm und jeder gläserne Dorn schienen zu vibrieren, hohe, einzeln nicht hörbare summende Laute auszustoßen, die in ihrer Gesamtheit wie eine Flutwelle aus Lärm über ihnen zusammenschlugen. Licht blitzte überall auf, und die winzigen Kristallspinnen schienen plötzlich allgegenwärtig - zwischen den Stämmen, im Geäst und im Unterholz, auf dem Boden, ja selbst scheinbar freischwebend in der Luft, Millionen und Abermillionen winziger lebloser Lebewesen, die lautlos hin und her huschten und den Wald in einen Kokon haarfeiner gläserner Fäden einspannen. Sie schienen überall zugleich zu sein - je weiter sie liefen, desto dichter wurde das Gewebe, und ein paarmal brach El-tra mit sichtlichem Kraftaufwand durch große, wehende Vorhänge aus gläserner Seide, die quer zwischen den Bäumen gesponnen waren und den Zwischenraum wie blitzender Nebel ausfüllten. Eine der Glasspinnen fiel direkt auf Skars Hand; er versuchte instinktiv, sie abzustreifen, aber es ging nicht. Sie saß auf seiner Haut wie festgeklebt, bewegte sich träge und hinterließ eine Spur eisiger tauber Kälte auf seinem Arm. Skar fluchte, griff noch einmal zu und riß das Ding mit aller Kraft herunter. Auf seinem Arm blieb ein runder, blutiger Fleck von der Größe eines Fingernagels zurück, aber er sah jetzt auch, daß die Spinne keine wirkliche Spinne, sondern ein tropfenförmiger, glatter Kristall ohne sichtbare Vorsprünge oder Unregelmäßigkeiten war. Sein Inneres war von vager, unbestimmbarer Bewegung erfüllt, und aus seinem spitzen Ende drang ein haarfeiner, glatter Faden, der bei der leisesten Berührung zerriß. Skar schleuderte den Stein, von plötzlichem Widerwillen erfüllt, von sich, und rannte geduckt und den wehenden Netzen im Zickzack ausweichend, weiter.

Es wurde schlimmer, je weiter sie kamen. Die Glasspinnen mußten überall gleichzeitig, vielleicht wirklich in dem gesamten Waldgebiet, mit ihrem Werk begonnen haben, und so winzig sie waren, so unendlich schien ihre Zahl. Das Durchkommen wurde bald zur Qual, und selbst El-tras ungeheure Kraft reichte nicht mehr immer, um die schimmernden Netze zu zerreißen, so daß Skar nach einer Weile wieder die Führung übernahm und wie wild mit seinem Schwert um sich schlug und hackte. Und auch auf dem Boden waren die geschäftigen Spinnen am Werk. Skars Schritte waren von einem nicht endenwollenden Klirren und Bersten begleitet; er watete durch ein erst nur fingerdickes, dann bis an die Knöchel und schließlich bis zu den Knien reichendes Unterholz aus gläsernen Fäden und nadelspitzen Dornen. Seine Beine begannen unerträglich zu schmerzen, und als er an sich herabblickte, sah er, daß seine Stiefel in Fetzen hingen und seine Haut zerschunden und blutig war; er sah aus, als trüge er glitzernde rote Strümpfe. Auch Gowenna und dem Sumpfmann erging es nicht besser. Ihre Schritte hinterließen blutige Fußabdrücke in der weißen Decke.

Dann erreichten sie eine Stelle, an der es kein Weiterkommen mehr zu geben schien. Die Zwischenräume zwischen den Bäumen waren ausgefüllt von Netzen, die so dicht waren, daß sie wie eine kompakte gläserne Wand wirkten. Skar schlug beidhändig mit dem Tschekal zu und legte all seine verbliebene Kraft in den Hieb. Die Klinge riß eine lange Scharte in die Wand, eine Platte der gläsernen Subtanz löste sich und fuhr dicht vor Skars Füßen wie eine durchsichtiges Fallbeil in den Boden. Aber die Glasspinnen waren überall; ihr geschäftiges Hin und Her füllte die Lücke fast im gleichen Tempo, in dem sie entstanden war - ein Vorgang, der so bizarr war, daß Skar eine Sekunde reglos stehenblieb und zusah. Es war wie das allmähliche Wachsen einer Schneeflocke, nur unendlich größer und rascher: Einzelne Kristalle, gewoben aus unzähligen einzelnen Fäden, wuchsen zu Gruppen zusammen, bildeten blitzende Schrägen und Facetten, vereinigten sich zu Stegen und Brücken, über die neue Fäden fielen und die Zwischenräume ausfüllten.

»Skar!« Gowennas Schrei riß ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück. In seinen Beinen tobten Schmerzen. Es war, als würde seine Haut von tausenden winziger Zähne heruntergerissen.

»Lauf, Skar!« schrie Gowenna. »Es ist der Stein! Sie setzt die Macht des Steines gegen uns ein!« Und als wären ihre Worte ein Signal gewesen, wurde es schlimmer. Eine klirrende Woge der gläsernen Weber rollte heran, breitete sich wie fallender Schnee über Bäume und Boden aus und begann auch die Lücke, durch die sie gekommen waren, zu füllen. Skar schrie auf, als er erkannte, daß sie plötzlich in einer Falle saßen, einer Falle, die sich rascher schloß, als er zu reagieren imstande war. Er wußte, daß er es nicht schaffen würde; trotzdem rannte er los, warf sich mit einem krächzenden Schrei gegen das Netz, das plötzlich da war, wo es vor Sekunden noch einen Durchgang gegeben hatte, und schlug wie ein Tobender zu. Das Tschekal sprang mit einem hellen Klingen zurück und wurde ihm aus der Hand geprellt. Die gläserne Wand schien nicht einmal einen Kratzer zu haben.

Wimmernd vor Schmerz bückte er sich nach seiner Waffe, aber der Sumpfmann war schneller. Er warf Del von den Schultern, raffte das Schwert auf und schlug beidhändig und mit der ganzen unmenschlichen Kraft seines Körpers zu. Die Klinge krachte gegen einen Baumstamm, sprang zurück und hackte fast im gleichen Moment erneut in den entstandenen Riß. Der Baum wankte. Kristallspinnen und Bruchstücke regneten wie Dolche aus seinem Geäst und ließen Skar und Gowenna zurückspringen. Ein langer, dreieckiger Splitter bohrte sich in El-tras Schulter und blieb zitternd stecken, und ein Dutzend Spinnen begann über seinen Körper zu kriechen und ihn einzuweben. Er beachtete sie nicht. Immer und immer wieder schwang er die Waffe, schlug er mit einer Gewalt, die Skar beinahe mehr erschreckte als das Treiben um sie herum, zu, und hackte einen Keil aus dem Stamm. Wieder erzitterte das gewaltige Kristallgewächs, bebte, schrie seinen Schmerz in hohen, klagenden Tönen hervor. Aber selbst die Kraft des Sumpfmannes schien dem Treiben der Spinnen - der Macht des Steines, der Gedanke schoß mit schmerzhafter Wucht durch Skars Kopf - nicht gewachsen zu sein. Der Baum neigte sich nach einem letzten gewaltigen Hieb, kippte langsam zur Seite und blieb, lange bevor er den Boden erreichte, vom Griff der Netze gehalten, hängen. El-tra stieß einen wütenden Schrei aus, sprang vor und hackte wie ein Rasender auf die singenden Stränge ein. Der Baum zitterte, fing sich noch einmal und stürzte dann vollends zu Boden.

»Lauft!!«

Noch während El-tra zurückeilte, um Del zu holen, rannten Gowenna und Skar los. Die Lücke begann sich bereits wieder zu schließen, aber sie schafften es, wenn auch keiner von ihnen hinterher genau zu sagen wußte, wie. Neue Netze wehten ihnen entgegen, keine starren Wände diesmal, sondern dünne, bewegliche Gespinste, die sich wie Altweibersommer um ihre Glieder und auf ihre Gesichter legten, sie zu fesseln und zu ersticken trachteten, als hätte der Wald eingesehen, daß er seine Taktik ändern mußte, um seiner Opfer habhaft zu werden. Skar schlug schreiend um sich, riß sich Hände und Arme an dem gläsernen Gewebe blutig und taumelte, blind den beiden Schatten folgend, in die sich Gowenna und El-tra verwandelt hatten, weiter. Der beißende Schaumteppich auf dem Boden reichte ihm jetzt bis an die Oberschenkel, und bei jedem Schritt schoß eine feurige Lohe durch seine Beine; er schwang seine Waffe wie eine Sense und spürte, wie das Gespinst rascher nachwuchs, als er es kappen konnte. »Lauf, Skar!« Gowennas Stimme war voller Blut, und sie drang durch einen Nebel von Glas zu ihm. Er wankte, schlug blindlings um sich, prallte gegen ein Hindernis, riß sich die Seite auf und fühlte, wie etwas beißend und eisig seinen Nacken hinunterlief. Und dann war es vorbei. Plötzlich war der Wald wirklich Wald, die Bäume grün und schwarz, wie sie sein sollten, der Boden weich und federnd, nicht mehr länger aus schneidenden Messern gemacht, und es gab keine Kristallspinnen und keine Netze mehr.

Nur noch Schmerz. Der Schmerz war ihm gefolgt wie ein dunkler Bruder des Waldes. Alles um ihn herum begann sich zu drehen, zu wanken; der Boden zitterte. Aber noch bevor er merkte, daß diesmal er es war, der wankte, verlor er endgültig das Bewußtsein.

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