5.

Gowenna und der zweite Sumpfmann erreichten die Ruine, als Skar zu seinem Pferd zurückkam. El-tra starrte ihn unverwandt an; ein Blick, der obwohl Skar seine Augen nicht sehen konnte, durchbohrend und beinahe schmerzhaft war; Warnung, Herausforderung, aber auch Ausdruck von Verständnis und beinahe Mitleid zugleich. Skar hatte kein Wort mehr gesprochen, sondern war nur stumm neben dem toten Krieger sitzen geblieben, bis El-tra sich erhoben und ihm das Zeichen gegeben hatte, mitzukommen. Aber er war sicher, daß der Mann aus Cosh genau wußte, was in ihm vorging. Auch ohne die kaum zu verstehende Seelenverwandschaft zwischen ihnen wäre es im Moment wohl nicht schwer gewesen, seine Gedanken zu erraten. Vielleicht, dachte er grimmig, hatten sie sich schon seit Tagen gefragt, wie lange es noch dauern würde, bis dieser arme kleine Narr endlich begriff, was hier vorging.

Er wartete, bis Gowenna ihr Pferd neben dem seinen zügelte, trat mit einem raschen Schritt neben sie und streckte die Hand aus, um ihr beim Absteigen zu helfen.

»Ich habe mit dir zu reden«, sagte er hart.

Gowenna hob müde den Kopf. Skar erschrak, als er ihr Gesicht sah. Es war nicht so sehr die Narbe; daran hatte er sich schon beinahe gewöhnt, so schrecklich der Anblick auch war. Aber auf dem unversehrten Teil ihres Gesichts lag ein Ausdruck so tiefer Müdigkeit, wie ihn Skar noch nie zuvor an einem lebenden Menschen gesehen hatte. Für einen Moment zweifelte er ernsthaft daran, daß in diesem ausgebrannten Körper überhaupt noch Leben war. Sie erschien ihm mehr denn je wie eine verzehrte Hülle, Fleisch, in dem keine Seele, sondern nur noch Haß war.

»Jetzt?« fragte sie. Ihre Stimme klang nicht mehr ganz so schrill und unmenschlich wie am Abend zuvor, aber noch immer schlimm genug, um seinen Zorn für einen winzigen Moment in Mitleid umschlagen zu lassen.

»Jetzt.« Irgend etwas in seiner Stimme oder seinem Gesicht schien anders zu sein als sonst, obwohl er sich Mühe gab, ruhig zu erscheinen. Gowenna hielt seinem Blick eine halbe Sekunde lang stand, nickte dann und stieg, seine Hand als Stütze gebrauchend, aus dem Sattel.

»Bitte.«

»Nicht hier«, sagte Skar. »Gehen wir irgendwo hin, wo wir ungestört sind.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die zerborstene Ruine hinter sich und machte mit der Linken eine auffordernde Geste. Ein grauer, gebückter Schatten erschien neben Gowenna, die Hand in einer vielleicht zufälligen, wahrscheinlich aber beabsichtigten Geste unter dem Umhang verborgen.

»Nur wir beide«, sagte Skar.

El-tra zeigte keine sichtbare Reaktion auf seine Worte, aber auf Gowennas Zügen erschien beinahe ein Ausdruck von Erheiterung. »Du entwickelst in letzter Zeit ein beachtliches Talent für dramatische Auftritte«, seufzte sie. »Aber wenn du darauf bestehst ...« Sie seufzte, lächelte ein etwas verunglücktes Lächeln und wandte sich an ihren Wächter. »Kehlem getrama«, sagte sie. »Toman.« Dann drehte sie sich wieder zu Skar um. »Gehen wir.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Daß er dir die Kehle durchschneiden soll, wenn du allein zurückkommst«, sagte Gowenna. »Was sonst?«

Skars Mißtrauen wuchs. Gowennas Worte paßten nicht zu dem Eindruck, den sie zu erwecken versuchte. Er sah einen Menschen vor sich, der am Rande des körperlichen und geistigen Zusammenbruchs stand - sie sprach schleppend, mit großen, erschöpften Pausen zwischen den einzelnen Worten, aber die Wahl ihrer Worte war nicht so, wie er es erwartet hatte. Trotzdem verzichtete er auf eine Antwort. Er fuhr herum, eilte ein paar Schritte in das steinerne Labyrinth hinein und blieb im Windschutz einer zerborstenen Wand stehen. Gowenna folgte ihm, langsamer und mit unsicheren, schleppenden Schritten. Und trotzdem spürte er in ihren Bewegungen eine Kraft, die über das hinausging, was sie ihm vorzuspielen versuchte.

Gowenna blieb einen halben Schritt neben ihm stehen, schlang die Arme um den Oberkörper und klapperte demonstrativ mit den Zähnen.

»Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür, mich hierherzuschleifen«, sagte sie. »Ich friere nicht gerne, weißt du?«

Skar ignorierte ihre Worte. »Du kannst mit dem Theater aufhören«, sagte er. Seine Stimme bebte, und seine Hände zuckten, als müsse er mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, sie um ihren Hals zu legen und zuzudrücken.

Auf Gowennas Gesicht erschien ein wachsamer, lauernder Ausdruck. Der Wind schien plötzlich ein ganz kleines bißchen kälter zu werden. »Was - meinst du?«

Skar atmete hörbar ein. »Gut«, sagte er, mühsam beherrscht. »Wenn du Wert darauf legst, daß ich dich wie eine Närrin behandele, dann tue ich es. Du bist nicht so krank, wie du mich glauben machen wolltest. Die Verbrennungen sind nur oberflächlich, und Tantors Medizin hat das Fieber wahrscheinlich schon in der ersten Nacht besiegt. Ich war ein Narr, Gowenna, daß ich es nicht gleich gemerkt habe. Du bist stark wie ein Mann, und du wärst wahrscheinlich eher in der Lage gewesen, den Rückweg über die Berge zu bewältigen, als ich.«

Gowenna schwieg eine Weile, aber es war ein Schweigen ganz besonderer Art, etwas, das mehr ausdrückte, als Worte es gekonnt hätten. »Und warum sollte ich das tun?« fragte sie. Plötzlich schwankte ihre Stimme nicht mehr, sondern war fest, von einer fast gelassenen Ruhe. Sie hatte erkannt, daß Skar ihr Spiel durchschaut hatte.

»Um mich zu bewegen, genau hier entlangzuziehen«, grollte er. »Ich habe dich unterschätzt, Gowenna - meine Gratulation! Es gelingt nicht vielen Menschen, mich so gründlich hinters Licht zu führen. Bisher dachte ich, Vela wäre die einzige. Aber du bist ihr ebenbürtig. Du sagst, du willst kein Mitleid, wie? Dabei ist es genau das, worauf du spekuliert hast. Ich hätte dich vor Combat zurücklassen und allein durch die Berge reiten können, aber du wußtest, daß ich es nicht tun würde.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Darauf, daß du die ganze Zeit gewußt hast, wo sich Vela verbirgt !« brüllte Skar. »Sie ist hier, irgendwo hier, und du hast es gewußt!«

Gowenna wirkte nicht im mindesten überrascht. Auf der unversehrten Hälfte ihres Gesichts erschien ein leicht erstaunter Ausdruck, aber es schien Skar eher ein Erstaunen über die Tatsache zu sein, daß er es erst jetzt entdeckt hatte.

»Wir haben einen ihrer Krieger gefunden«, fuhr er, etwas leiser, aber noch immer erregt, fort. »Er ist tot. Wahrscheinlich an Entkräftung gestorben. Sie ist hier entlanggezogen, Gowenna, und die Ausrüstung des Mannes stammt aus diesem Land. Wahrscheinlich ist Tuan der einzige Ort auf der Welt, an dem man einen Staubdrachen verbergen und sich eine Privatarmee aufbauen kann, ohne daß es jemand merkt.«

»Das stimmt«, antwortete Gowenna ruhig. »Aber es ist nur die halbe Geschichte. Sie wäre zu lang, um sie jetzt zu erzählen.«

»Ich möchte sie trotzdem hören.«

»Nicht jetzt.« Gowenna schüttelte den Kopf. »Ich weiß, ich hätte es dir längst sagen sollen, aber es ändert ohnehin nichts. Nicht für dich.«

»Es ändert vieles«, antwortete Skar. »Wenn nicht alles.«

Gowenna gab ein abfälliges Geräusch von sich. »Und was?«

»Ich will ... endlich wissen, was hier gespielt wird«, sagte Skar stockend. Er wunderte sich beinahe selbst, woher er die Beherrschung nahm, noch so ruhig zu sprechen. »Ich will wissen, worum es wirklich geht, Gowenna. Ihr habt mich vom ersten Augenblick an belogen und getäuscht, sowohl du als auch Vela. Ihr -«

»Du bist nicht der einzige, der getäuscht wurde, Skar«, fiel ihm Gowenna ins Wort. »Ich werde dir alles erklären, aber nicht jetzt. Der tote Krieger sollte dir eine Warnung sein. Es ist nicht gut, zu lange in diesem Land zu bleiben.«

»Jetzt!« beharrte Skar. »Ich will es wissen, Gowenna, jetzt, nicht später, nicht irgendwann einmal, sondern jetzt! Ich bin es einfach leid, als einziger nicht zu wissen, was wir hier überhaupt tun!«

»Wir versuchen zu überleben«, konterte Gowenna gelassen. »Falls dir das entgangen sein sollte, Satai. Und wir versuchen deinen Freund zu befreien.«

»Lenk nicht ab«, knurrte Skar. »Ich will jetzt endlich Antworten, keine Ausflüchte, kein Später, und keine weiteren Rätsel mehr. Ich komme mir allmählich vor wie eine Figur auf einem Spielbrett, aber ich möchte wenigstens die Regeln kennen, wenn ich schon die Züge nicht bestimmen darf.«

»Du weißt so gut wie ich, worum es geht«, antwortete Gowenna aufgebracht. »Erinnere dich, was du selbst zu mir gesagt hast. Warst du nicht der Meinung, daß ...«

Skar griff blitzschnell nach Gowennas Hand, verdrehte sie und drückte mit der Linken kräftig auf ihren Ellbogen. Sie schrie auf, mehr überrascht als vor Schmerz, brach in die Knie und versuchte sich seinem Griff zu entziehen. Aber er hielt sie erbarmungslos fest und verstärkte seinen Druck noch. »Ich habe dich gewarnt, Gowenna«, sagte er leise. »Spiel nicht mit mir. Sag mir jetzt endlich die Wahrheit.«

Gowenna keuchte. »Laß ... los ... du ... tust... mir ... weh ...!«

Skar lockerte seinen Griff für einen Moment, aber nur, um sofort erneut und noch stärker zuzudrücken. »Ich weiß«, sagte er gelassen. »Aber warst du es nicht, die immer wie ein Mann behandelt sein wollte? Ich verspreche dir, es zu tun. Gowenna. Rede, oder ich breche dir den Arm.«

»Du weißt nicht, was du tust«, wimmerte Gowenna. »El-tra -« Sie brach mit einem neuerlichen Keuchen ab, als Skar den Druck auf ihr Ellbogengelenk noch weiter verstärkte.

»Es ist mir vollkommen egal, was deine beiden Halbaffen mit mir anstellen, Gowenna«, sagte er. »Du kannst sie mir gerne auf den Hals hetzen, wenn es dir Spaß macht, aber jetzt wirst du mir antworten!« Er drückte noch einmal, noch fester zu, riß Gowenna plötzlich in die Höhe und schmetterte sie so wuchtig gegen die Wand, daß ihr Kopf zurückflog und mit dumpfem Geräusch gegen den Stein stieß.

»Rede!«

»Sie ist... hier«, keuchte Gowenna. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. Ein dünner Blutfaden sickerte aus ihrem Haar, lief über das blinde Auge und hinterließ eine glitzernde Spur auf dem Narbengewebe darunter. »Auf den Ebenen. Sie ... lebt in einer der toten Städte, zusammen mit ihrem Drachen und den Männern, die ihr dienen.«

»Und Del?«

»Ich weiß es nicht. Ich ...« Sie zuckte zusammen, als Skar drohend die Faust ballte, hob schützend die Hände vors Gesicht und duckte sich ein wenig. Ihr Blick irrte hilfesuchend über die Ruinenlandschaft, aber von den beiden Sumpfmännern war keine Spur zu sehen. »Er wird bei ihr sein«, sagte sie hastig. »Ich bin mir nicht sicher, aber er ist noch immer Satai. Sie wird nicht auf einen Mann wie ihn verzichten, nur weil du ihn besiegt hast.«

»Und wo ist diese tote Stadt?«

»Ich weiß es nicht, Skar. Irgendwo vor uns. Ich war niemals dort, und sie hat niemals darüber gesprochen. Doch das wenige, das ich aufschnappen konnte, wird reichen, sie zu finden. Die beiden El-tra sind die besten Fährtensucher, die du auftreiben kannst. Wir folgen ihrer Spur schon von der ersten Minute an, ohne daß du es gemerkt hättest.«

Skar spannte sich, aber diesmal blieb Gowenna unbeeindruckt. »Du kannst mich totschlagen, wenn du willst«, sagte sie. »Aber das ist alles, was ich weiß. Weiter im Süden gibt es Städte, die nicht so zerstört sind wie diese. Sie ist dort, in einem Ort jenseits der Hellgor.«

»Hellgor?« fragte Skar.

»Eine Schlucht«, erklärte Gowenna. »Ein Riß, der quer durch Tuan geht, so tief wie ein Abgrund und eine Meile breit, wenn die Legenden nicht lügen. Aber es gibt einen Weg hinüber. Sie wird dort auf uns warten, Skar. Sie oder ihre Männer. Das ist alles, was ich weiß.«

»Alles!« schnaubte Skar. »Du verlangst nicht wirklich, daß ich dir glaube?«

»Natürlich nicht«, antwortete Gowenna. »Aber ich habe dir erzählt, was ich weiß.«

»Nicht ganz. Bisher kenne ich nur die halbe Geschichte.«

»Kannst du dir den Rest nicht selbst zusammenreimen?« fragte Gowenna. »Sie braucht den Stein, um wieder in den Orden aufgenommen zu werden. Nicht aus Machtgier oder Haß, wie du glaubst.«

Skar schnaubte wütend. »Du sprichst sehr ehrfürchtig von einem Menschen, dem du den Tod geschworen hast.«

Gowenna schwieg eine Weile. In ihrem Gesicht zuckte es, aber es war nicht allein die Reaktion auf den Schmerz, den er ihr zugefügt hatte. »Ich habe geschworen, sie zu töten«, sagte sie. »Das stimmt. Und ich werde es tun. Aber aus Gründen, die du nie begreifen würdest.«

»Versuche sie mir zu erklären.«

»Nein. Was du miterlebt hast, war nicht alles, Satai. Aber meine Gründe gehen dich nichts an. Rache! Ausgerechnet du, ein Satai, sprichst von Rache! Bei allen Göttern, Skar, hat dir das, was du selbst erlebt hast, nicht die Augen geöffnet? Wäre es ihr um Rache gegangen, wäre all dies nicht nötig gewesen. Sie hat einen Staubdrachen gezähmt, Skar. Dieses Tier allein hätte gereicht, Elay zu schleifen. Sie braucht den Stein der Macht nicht, um sich zu rächen.«

»Und wozu sonst?«

Gowenna machte eine wütende Bewegung. »Aus dem Grund, den sie dir nannte, Skar. Um aus dieser Welt wieder eine Welt zu machen, in der es sich lohnt zu leben. Sie wollte den Stein einzig, um ihn der Ehrwürdigen Mutter als Geschenk zu Füßen zu legen. Um den Errish die Macht zu geben, die sie brauchen, um ihr Werk zu vollenden.«

»Geschwafel!« grollte Skar. »Nichts als leeres Gerede! Von welcher Macht sprichst du? Von der Macht, die Welt in Flammen zu setzen, so wie es die Herren Combats taten?«

»Enwor stirbt«, sagte Gowenna, als hätte sie seine Worte gar nicht gehört. »Diese Welt stirbt einen langsamen, qualvollen Tod, und die Errish sind die einzigen, die versuchen, sie zu retten. Aber sie können es nicht. Sie sind zu wenige, und ihr Wissen reicht nicht aus. Sie kämpfen seit Jahrtausenden gegen eine Welt voller Barbarei und Ungeheuer, aber es ist ein Kampf, den sie nicht gewinnen können.«

»Und mit dem Stein der Macht können sie es?« fragte Skar höhnisch.

»Vielleicht«, antwortete Gowenna. »Niemand weiß, was dieser Stein wirklich ist, Skar. Vielleicht ist er nicht mehr als ein Stück buntes Glas, vielleicht der Schlüssel zum Paradies.«

Skar starrte Gowenna durchdringend an. In seinem Gesicht arbeitete es. Aber seine Stimme klang ruhig, als er antwortete: »Und um dieses Vielleicht willen mußten Gerrion und Nol und Beral und El-tra sterben«, sagte er. »Und vielleicht auch Del und ich und du, alle, die hier sind.«

»Vielleicht noch mehr«, nickte Gowenna. »Welche Rolle spielen ein oder auch hundert Menschenleben, wenn es um die Zukunft einer Welt geht, Skar?«

Skar fühlte, wie seine Wut von einem Gefühl der Hilflosigkeit abgelöst wurde. Es war nicht das erste Mal, daß er Worte wie diese hörte, und es war nicht das erste Mal, daß er keine Antwort darauf fand.

»Ich werde nicht schlau aus dir, Gowenna«, murmelte er. »Du bist besessen von dem Gedanken, Vela zu töten, aber wenn man dich reden hört, könnte man glauben, ihr gegenüberzustehen.« Er brach ab, senkte den Blick und starrte sekundenlang wortlos auf das schimmernde Glas zu seinen Füßen. »Gibt es noch etwas, das du mir verschwiegen hast?« fragte er.

»Nein. Nur etwas, das du schon lange weißt, aber vielleicht erst jetzt begriffen hast.«

Skar sah auf. Die Unsicherheit war aus Gowennas Stimme gewichen und hatte wieder der alten Überheblichkeit Platz gemacht. Er hatte sie mit seinem Angriff überrascht, aber dieser Zustand hätte nicht lange angehalten. Für einen Moment hatte er sie in eine Ecke gedrängt, aber eine zweite Chance würde sie ihm nicht geben.

»Was wäre das?«

»Daß du mich begleiten wirst«, sagte Gowenna kühl. »Daß du bei mir bleiben wirst, bis wir sie gefunden haben. Du hast recht - ich hätte dir sagen können, wo wir Vela finden, und es hätte nichts geändert. Du suchst Del, und wo Del ist, ist auch Vela. Wir kommen entweder gemeinsam zum Ziel oder gar nicht.«

»Vielleicht«, gestand Skar. »Aber das bedeutet nicht, daß ich dir helfen werde. Ein Begleiter muß nicht unbedingt ein Verbündeter sein.«

Gowenna machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es reicht, wenn du da bist, Skar.«

Skar setzte zu einer wütenden Entgegnung an, beließ es aber dann bei einem ärgerlichen Achselzucken. Er hätte es besser wissen müssen. Er kannte Gowenna lange genug, um erkennen zu können, daß er nicht der Mann war, es mit ihr aufzunehmen. Sie hatte zu viel von Vela gelernt. Für einen kurzen Moment hatte er ihre Deckung durchbrochen, aber die Mauer war wieder da, und sie erschien ihm rätselhafter als zuvor.

»Warum?« fragte er, aber diesmal tat er es in verändertem, fast resignierendem Tonfall. »Warum das alles? Seit wir zusammen sind, hast du mich belogen, und dort, wo du nicht gelogen hast, hast du mir Dinge verschwiegen und mich mit Halbwahrheiten abgespeist. Es ist nicht das erste Mal, daß wir dieses Gespräch führen, und -«

»Und es wird nicht das letzte Mal sein«, unterbrach ihn Gowenna, »wenn du weiter versuchst, mit dem Kopf durch die Wand zu brechen, statt mir zu vertrauen. Ich bin nicht dein Feind, Skar. Ich bin es nie gewesen und bin es auch jetzt nicht.«

Skar schürzte wütend die Lippen. »Was bist du dann?« fragte er. Aber der beißende Spott, den er in seine Stimme legte, verfehlte seine Wirkung.

»Muß ich dich wirklich daran erinnern, daß du mir dein Leben verdankst, Skar?« fragte Gowenna ruhig. »Und nicht nur einmal. Vela gab mir den Auftrag, dich zu töten, vergiß das nicht.«

»Ich weiß«, knurrte Skar übellaunig. Er war in Gowennas Schuld, und es wäre nicht nötig gewesen, daß sie ihn daran erinnerte. Trotz allem war er noch immer ein Mann, ein Mann in einer Welt dazu, in der ihm die Beschützerrolle zugeschrieben war. Ihre Worte weckten Schuldgefühle in ihm, und in der Folge Zorn. »Aber wenn du daraus irgendwelche Ansprüche ableitest«, fuhr er gereizt fort, »wenn du glaubst, das Recht auf irgendwelche Forderungen zu haben, dann stell sie endlich. Aber hör auf, mich wie einen dummen Jungen zu behandeln. Keiner von uns weiß, ob er den morgigen Tag erlebt. Ich will aber wenigstens wissen, warum ich sterbe.«

Seine Worte erzeugten eine andere Wirkung, als er erwartet hatte. Ein rascher Schatten von Schmerz, aber auch von etwas anderem, von etwas, das er nicht beschreiben, nicht greifen konnte, huschte über Gowennas Züge. Es dauerte einen Moment, bis Skar begriff, daß es keine Reaktion auf seine Worte war, zumindest keine direkte, auf ihn bezogene Reaktion, sondern daß er irgend etwas in ihr berührt hatte, etwas, das er niemals begreifen würde. Gowenna war noch immer eine Fremde für ihn, und sie würde es auch immer bleiben.

»Wie weit ist es bis zu dieser Schlucht?« fragte er, nicht aus wirklichem Interesse, sondern nur, um das quälend werdende Schweigen zu durchbrechen.

Gowenna atmete hörbar ein; ein irgendwie endgültiger, abschließender Laut, mit dem sie einen unsichtbaren Schlußstrich unter den bisherigen Teil ihres Gespräches zog, eine Grenze, die sie beide beachten würden.

»Nicht weit«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Ich glaube es jedenfalls nicht. Die Reiter hatten nur wenig Wasser und kaum Nahrungsmittel mit. Ich denke, wir werden sie morgen erreichen. Spätestens übermorgen. Wenn sie überhaupt exisiert. Es ist nur eine Legende, vergiß das nicht.«

»Auch Combat war nur eine Legende«, murmelte Skar unsicher. »Ich -« Er brach ab, sah Gowenna verwirrt an und schlug hilflos die Hände ineinander. So, wie seine Gedanken in Aufruhr waren, waren es auch seine Gefühle, Verzweiflung, Schrecken und Furcht mischten sich mit Wut, Wut und einem Gefühl der Hilflosigkeit, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Er wußte, daß Gowenna ihm diesmal die Wahrheit gesagt hatte, und er glaubte auch zu wissen, warum sie ihn die ganze Zeit hingehalten und belogen hatte. Sie hatte ihn falsch eingeschätzt, versucht, seine Reaktionen im voraus zu berechnen, und die falschen Schlüsse daraus gezogen, aber das war im Grunde nichts anderes, als wie er umgekehrt bei ihr verfahren war.

Gowenna lächelte, doch es war wieder dieses seltsame, so vollends humorlose Lächeln, das er schon ein paarmal an ihr beobachtet hatte und das ihn beinahe ängstigte. »Sie hat einen Fehler gemacht, Skar«, sagte sie. »Nur einen. Einen einzigen Fehler, aber er wird tödlich sein. Sie hat geglaubt, wir würden in diesem Krater sterben oder, wenn nicht, auf dem Rückweg durch die Berge umkommen. Sie wird versuchen, diesen Fehler wieder gutzumachen, sobald sie es merkt. In gewissem Sinne hast du recht, es ist ein Spiel. Wir jagen sie, sie jagt uns.«

Skar knurrte wütend. Er fand den Gedanken ganz und gar nicht belustigend. »Und warum?« fragte er. »Sie hat, was sie wollte. Wenn es ihr wirklich nur darum geht, den Stein der Macht zu bekommen, warum läßt sie Del und die anderen dann nicht frei? Ich bin keine Gefahr für sie. Von mir aus kann sie halb Enwor erobern. Ich will Del, mehr nicht.«

Wieder zögerte Gowenna mit der Antwort, doch diesmal war es nicht Unsicherheit oder Furcht. Etwas in seiner Stimme, in der lockeren und doch angespannten Art, in der er ihr gegenüberstand, schien ihr zu sagen, daß er sie nicht mehr schlagen würde. Er hatte es getan, zweimal, und es hatte nichts genutzt. Sie wußten beide, daß er es kein drittes Mal tun würde. Mit den wenigen Worten, die sie zu ihm gesagt hatte, hatte sie ihm die Berechtigung dazu ein für allemal genommen. Er hatte die Hand gegen sie erhoben, ohne (zumindest beim ersten Mal) zu wissen, daß er die ganze Zeit unter ihrem Schutz gestanden hatte, daß ihre Lügen und Täuschungen auch dazu dienten, ihn zu schützen. Er konnte es wieder tun, aber es hätte keinen Sinn mehr. Er hätte versuchen können, die Wahrheit - die ganze Wahrheit - aus ihr herauszuprügeln, hier und jetzt, ohne Furcht vor den Sumpfleuten haben zu müssen. Aus irgendeinem Grund war er sicher, daß die El-tra ihm nichts tun würden. Seit dem Geschehen im Tempelraum von Combat waren sie mindestens ebenso seine wie ihre Beschützer. Aber er war genauso sicher, daß ihn Gewalt in diesem Fall nicht weiterbrachte. In einem Punkt waren Gowenna und er gleich wie Zwillinge: Sie fürchtete ihn, weil sie wußte, wie überlegen er ihr war, aber ihre Furcht reichte nicht so weit, sich deswegen selbst aufzugeben.

»Vielleicht hat sie einfach Angst«, sagte Gowenna nach einer kleinen Ewigkeit.

»Unsinn«, murrte Skar. Er starrte Gowennas verbrannte Gesichtshälfte an, so offen, daß sie spüren mußte, wohin er sah. »Jemand, der so etwas zu tun vermag, soll Angst vor mir haben? Das ist nicht dein Ernst.«

Gowenna hielt seinem Blick einen Herzschlag lang stand, senkte dann den Kopf und drehte das Gesicht aus dem Wind. Der Sturm trug einen Hagel winziger Eiskristalle mit sich, die sich in ihren Haaren und Brauen festsetzen und ihren Zügen einen seltsam weichen Anstrich gaben, und erneut mußte Skar an einen gefallenen Engel denken: Schönheit und Zerfall und Leben und Tod und Liebe und Haß in einem. Aber der Haß überwog. Und hieß es nicht, nichts sei grausamer und härter als ein Engel, der gestürzt ist?

»Doch, Skar. Sie hat dich nach Combat geschickt, weil du der einzige warst, der die Aufgabe überhaupt bewältigen konnte.«

»Quatsch«, widersprach Skar. »Ich habe so gut wie nichts getan. Ihr hättet diesen verdammten Kiesel auch ohne mich gefunden.«

»Das stimmt nicht. Es ...« Sie stockte, lehnte sich gegen die eisverkrustete Wand und strich mit der Hand darüber, unbewußt mit den Fingerspitzen die Linien verfolgend, die die Flammen in den schwarzen Stein geätzt hatten. »Es ist das gleiche wie jetzt«, setzte sie nach einer Weile erneut an. »Sie hat dich nicht gebraucht, weil du ein Satai bist und besonders gut kämpfen kannst. Du hast die Wächter Combats erlebt - es sind keine Wesen, die man mit Schwert oder Muskelkraft besiegen könnte. Und selbst wenn - Männer, die ein Schwert zu führen vermögen, gibt es zuhauf. Sie brauchte dich, Skar.«

Mich? dachte Skar. Mich oder das Ding in meiner Seele? Sie mußte es gewußt haben. Mein dunkler Bruder war ihr nicht verborgen geblieben.

Laut sagte er: »Was soll besonderes an mir sein?«

Gowenna hob beinahe unmerklich die Schultern. »Das weiß ich nicht. Sie hat es mir nie gesagt, so, wie sie mir vieles nie gesagt hat. Aber sie hat lange nach dir gesucht. Mehr als ein Jahr. Ich war vor dir in Combat, Skar, und vor mir waren andere da. Alle sind gescheitert. Nicht einer ist auch nur in die Nähe des Steines gekommen. Erinnerst du dich, wie ich dir sagte, ich wüßte nicht, wo er ist? Das war die Wahrheit. Ich wußte es nicht, und ich hatte auch keine Chance, ihn zu finden. Du hast ihn gefunden, du allein, auch wenn du es vielleicht nicht einmal gemerkt hast. Ich bin sicher, der Stein wäre nicht einmal da gewesen, wo wir ihn fanden, wärest du nicht bei uns gewesen. Nur du konntest ihn finden, nur du konntest die Wächter Combats besiegen und ihn aus der Stadt herausbringen. Ich weiß nicht, warum, aber ich weiß, daß es so war. Und sie wußte es ebenfalls. Sie brauchte dich, aber sie fürchtet dich auch.«

»So sehr, daß sie Befehl gab, mich zu töten?« fragte Skar. »Vielleicht«, murmelte Gowenna. »Vielleicht war es auch etwas anderes. Sie ...« Sie schluckte, und plötzlich war sie es, die hilflos wirkte. »Die Frau, die du vor Combat erlebt hast, war nicht Vela«, sagte sie. »Nicht die Vela, die ich gekannt und geliebt habe. Etwas ist mir ihr geschehen. Eine ... eine Veränderung, die ich mir nicht erklären kann.«

»Und wenn du es könntest, würdest du es zumindest mir nicht erklären, nicht?« grollte Skar. Die Worte taten ihm fast im gleichen Augenblick schon wieder leid. Es war eine unnötige Spitze gewesen, unnötig und grausam, und doch war da etwas in ihm, das sich über den Schmerz in ihrem Blick freute.

»Ich bin nicht dein Feind, Skar«, sagte Gowenna noch einmal. »Bitte glaub mir das. Ich weiß, ich hätte dir vieles schon eher sagen müssen, aber ... da war so vieles, das ich selbst nicht begriff, und so vieles, das mir auch jetzt noch ein Rätsel geblieben ist, und ...« Ihre Stimme schwankte. Sie stockte, setzte nach Sekunden dazu an, weiter zu sprechen und brach dann endgültig ab. Aber Skar wußte auch so, was sie hatte sagen wollen. Er wäre selbst nicht in der Lage gewesen, es mit Worten auszudrücken, aber er verstand sie.

Lange Zeit schwiegen sie beide. Skar suchte vergeblich nach irgend etwas, das er hätte sagen können. Es gab nichts. Diese Auseinandersetzung war die letzte gewesen. Er hatte verloren, endgültig, und sie wußten es beide. Gowenna hatte seine Niederlage nur vergrößert, in dem sie ihm das gesagt hatte, wonach er so lange gefragt hatte. Aber er spürte auch, daß es nicht in ihrer Absicht gelegen hatte, ihm weh zu tun. Im Gegenteil.

»Und wie geht es weiter?« flüsterte er. Die Worte waren bedeutungslos, einzig dazu gedacht, die Stille zu durchbrechen und das Schweigen nicht noch drückender werden zu lassen, als es ohnehin schon war. Der Wind riß die Silben von seinen Lippen und trug sie davon, aber Gowenna verstand ihn trotzdem.

»Auf dem einzig möglichen Weg«, antwortete sie. Sie löste sich von der Wand, trat neben ihn und deutete nach Süden. Die Ebene war noch immer unter wirbelnden Schneewolken verborgen. »Dort entlang. Wir sind im Vorteil, Skar. Sie weiß nicht, daß wir noch leben, und sie weiß nicht, daß wir auf dem Weg zu ihr sind. Wenn wir sie überraschen können, haben wir eine Chance.«

»Das habe ich nicht gemeint«, sagte Skar.

»Ich weiß. Aber die Frage, die du wirklich gemeint hast, kann ich dir nicht beantworten. Ich weiß nicht, was sie mit deinem Freund gemacht hat, und ich weiß nicht, wie oder ob man es überhaupt wird rückgängig machen können.«

»Du hast das Wissen einer Errish.«

Gowenna lächelte. »Sicher«, murmelte sie. »Wenn ich es überlebe, und wenn du es dann noch willst, werde ich ihm helfen, irgendwie.«

»Irgendwie ...« Skar ließ das Wort langsam auf der Zunge zergehen. Es hatte einen bitteren Beigeschmack, einen von Niederlage und Tod. Irgendwie würde es weitergehen. Er hatte sich schon einmal auf dieses Wort eingelassen, hatte geglaubt, Velas Pläne irgendwie durchkreuzen zu können, vor einer Ewigkeit in Ikne. Das einzige, was er bisher geschafft hatte, war irgendwie zu überleben. Und auch das war nicht endgültig.

Er atmete hörbar ein. »Eine Frage noch, Gowenna«, sagte er, ohne den Blick von der Ebene zu wenden.

»Ja?«

»Del«, sagte er. »Welche Rolle spielt er? Nur die eines Kriegers? Oder braucht sie ihn so wie mich oder dich?«

»Er spielt keine Rolle«, antwortete Gowenna. »Er war zufällig bei dir, das ist alles. Sie benutzte ihn als Druckmittel, aber hätte es ihn nicht gegeben, hätte sie etwas anderes gefunden. Er lebt wohl nur noch, weil er ein Satai ist und zwanzig ihrer Krieger ersetzt. Er spielt keine Rolle. Sie hätte etwas anderes gefunden, um dich zu erpressen - eine Frau, ein Mädchen ... Hast du ein Mädchen, irgendwo?«

Skar antwortete nicht. Er hatte Frauen gehabt, zu Dutzenden. Einem Satai fiel es nicht schwer, für ein paar Stunden Gunst zu erkaufen, mit Gold oder seinem Ruf. Aber in dem Sinn, in dem Gowenna die Frage gestellt hatte?

»Ja«, sagte er nach einer Weile. »Aber es ist lange her. Und ... ich habe eigentlich erst hinterher begriffen, daß ich sie geliebt habe. Es ist vorbei.«

»Sie hätte etwas gefunden, sei sicher«, sagte Gowenna. »Aber Del - Del als Person - spielt keine Rolle. Er ist dein Freund, mehr nicht.«

Mehr nicht... Skar ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. »Du wirst es nie begreifen, Gowenna«, sagte er. »Du wirst nie begreifen, daß man Menschenleben und Schicksale nicht in Zahlen und Ziffern ausdrücken kann. Del ist mehr als ein Freund für mich. Aber das wirst du nicht verstehen.«

»Doch, Skar«, flüsterte Gowenna »Ich weiß, was er dir bedeutet. Du sprichst fast nie über ihn, und ich glaube beinahe, daß du es versucht hast, ihn aus deinen Gedanken zu verbannen. Aber ich weiß genau, wie du fühlst. Er ist ein Teil von dir, nicht nur dein Freund.« Sie zögerte, senkte für einen Moment den Blick und sah ihn dann offen an. »Du bist nicht der einzige, der etwas verloren hat, Skar«, fuhr sie fort. »Sieh mich an. Sieh dir genau an, was sie mir angetan hat, und dann sag mir noch einmal, daß ich sie nicht hassen darf.« Sie streifte mit einer raschen Bewegung ihre Kapuze zurück, nahm seine Hand und drückte sie auf das verbrannte Gewebe ihres Gesichts.

Skar unterdrückte mit Mühe ein Schaudern. Das verschmorte Fleisch sah hart und trocken aus, aber es fühlte sich warm und feucht an, voller pulsierendem Leben, als hätte der ätzende Staub, der es gestreift hatte, seine Schönheit nicht zerstört, sondern nur eingesperrt, gefangen in einem Mantel aus eiteriger Häßlichkeit, unter der sie weiterlebte, angekettet wie ein gefangenes Tier, schrie, schrie, schrie ... Er widerstand der Versuchung, seine Finger zurückzuziehen, sondern hob statt dessen auch noch die andere Hand und berührte sanft ihre Lippen, fuhr mit den Fingerspitzen über das verbrannte bräunliche Narbengewebe, weiter über die unsichtbare Grenze, die die Lähmung durch ihr Gesicht gezogen hatte, über gesundes, weiches, bebendes, verlockendes Fleisch, berührte ihren Mundwinkel und fuhr den Weg zurück, der Krümmung der Unterlippe folgend, hinein in den Bereich, wo ihr Gesicht taub und entstellt war. Gowenna erbebte unter seiner Berührung. Der Blick ihres gesunden Auges bohrte sich in den seinen, und Skar erkannte einen wahren Sturm von Gefühlen: Furcht, Verzweiflung, Haß, aber auch stumme, unendlich flehende Hilferufe. Und er spürte etwas - zum zweiten Mal -, das ihn selbst in maßlose Verwirrung stürzte. Er spürte, daß etwas in ihm - ein Skar, der ihm bis zu diesem Augenblick fremd und verborgen gewesen war und es auch vielleicht immer bleiben würde - ihre Gefühle erwiderte.

Langsam löste er die Hände von ihrem Gesicht, legte sie sanft um ihre Schultern und zog sie zu sich heran. Sie wehrte sich und versuchte ihn wegzuschieben, aber er spürte, daß es ihr - trotz aller Kraft, die sie aufwandte - nicht ernst damit war, daß etwas in ihr nach dieser Berührung schrie.

»Bitte, Skar«, flehte sie. »Kein Mitleid. Jetzt nicht mehr.« Er schüttelte sanft den Kopf. »Kein Mitleid«, flüsterte er. Ihre Blicke trafen sich erneut. Zum ersten Mal - wirklich zum ersten Mal, wie er plötzlich begriff - sah er Gowenna so, wie sie war: eine Frau. Eine Frau, die trotz allem noch stolz auf ihren Körper und seine Schönheit war, aber die diese Tatsache vielleicht erst jetzt, jetzt, als es zu spät war, begriff. Sie hatte sich selbst ihr Leben lang verleugnet, und das, worauf es ihr ankam, das, was sie in Wirklichkeit sein wollte, nämlich nicht mehr als eine Frau, die lieben und geliebt werden konnte, die wie jeder Mensch ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Geborgenheit hatte, war ihr im gleichen Augenblick genommen worden, in dem sie es gefunden hatte. Skar verstand sie, verstand nur zu gut, wie sie die Frau, die ihr das alles angetan hatte, hassen mußte. Und er verstand auch den Ausdruck in ihrem Blick, diesen stummen Schrei nach Liebe und Zärtlichkeit. Und etwas in ihm antwortete darauf, etwas, das nicht neu, sondern die ganze Zeit über dagewesen war, vom ersten flüchtigen Blick an, den sie in RACHES WACHT in Ikne getauscht hatten.

Nein - es war kein Mitleid, und es war auch keine barmherzige Lüge, als er ihr Gesicht zwischen die Hände nahm und sie, zuerst behutsam, dann wild und so heftig, daß es sie schmerzen mußte, küßte.

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