Kurz darauf zogen sie weiter. Skar wurde, wie zuvor, sorgfältig von den anderen abgeschirmt, und auch Tantor zeigte sich nicht mehr in seiner Nähe. Doch auch das Verhalten der Krieger, die Skar bewachten, schien sich zu ändern - vielleicht fiel ihm aber auch jetzt, nachdem Tantor mit ihm geredet hatte, das sonderbare Benehmen der Männer erst auf. Sie bewachten ihn sorgfältig, und zumindest einer, meistens jedoch mehrere, hielten immer eine gespannte und schußbereite Armbrust in Händen. Trotzdem fühlte er, daß er mehr war als ein x-beliebiger Gefangener. Keiner der Männer sprach mit ihm - so wie sie auch nicht miteinander sprachen -, aber er fühlte, obwohl er die Gesichter hinter den schwarzen Masken nicht sehen konnte, ihre halb ängstlichen, halb respektvollen Blicke, mit denen sie ihn maßen, wenn sie glaubten, er merke es nicht.
Als es heller wurde, konnte Skar mehr von ihrer Umgebung erkennen. Die Hellgor schien mehr zu sein als ein willkürlich entstandener Riß - hier, auf dieser Seite der Höllenschlucht, bot sich Tuan dem Betrachter anders dar als hinter ihrer nördlichen Begrenzung. Der Boden war noch immer mit grünweißem, geschmolzenem Sand bedeckt, und die Ruinen zogen weiter wie stumme schwarze Wächter an ihnen vorüber, aber der glitzernde Panzer aus Glas war hier nicht annähernd so massiv wie weiter im Norden. Immer wieder passierten sie weite, flache Krater, an denen der gläserne Mantel Tuans durchbrochen war und auf deren Grund Erde und Sand - verbrannt und zu schwarzer Asche verkohlt, aber nicht mehr geschmolzen - sichtbar wurden, und manche der Ruinen schienen kaum beschädigt. Und es gab Pflanzen; jedenfalls glaubte Skar anfangs, daß es sich um solche handelte: dünne, glitzernde Büschel, die wie erstarrte Spinnweben aus dem aufgebrochenen Boden wuchsen. Erst nach einer Weile sah er, daß die Gewächse - wenn es sich um Pflanzen handelte - eine ebenso bizarre Verwandlung durchgemacht hatten wie Tuan selbst. Sie schimmerten, je nachdem, wie sich das Licht der Sonne auf ihren Oberflächen brach, grün, manchmal auch weiß oder silbern, aber sie schienen aus Glas oder einer unbekannten wasserklaren Art von Kristall zu bestehen, und als Skars Pferd einmal versehentlich auf einen der kniehohen Büsche trat, zersprangen die Blätter wie poröses Glas und zerfielen zu pulverigem, glitzerndem Staub. Skar wandte sich an einen seiner Bewacher und erkundigte sich nach den Kristallgewächsen, bekam jedoch nur ein Kopfschütteln zur Antwort. Aber die Zahl und Größe der Kristallgewächse nahm zu, je weiter sie nach Süden kamen, und schließlich waren es keine kleinen vereinzelten Büsche mehr, sondern gewaltige, baumgroße Ansammlungen schimmernder Glasdolche und -speere.
Ist es Zufall, dachte Skar, daß hier alles zu Glas und glitzernder Starre gefroren ist? Oder haben die Götter diesen Effekt beabsichtigt, um ihnen irgend etwas, irgend etwas, das sie vielleicht niemals begreifen würden, zu sagen?
Er fand keine Antwort auf diese Frage, wie auf so viele andere nicht, und nach einer Weile vergaß er sie wieder. Sie ritten nicht sehr schnell, aber stetig, nach Süden und wichen nur einmal kurz von ihrem eingeschlagenen Kurs ab, um einem mächtigen, undurchdringlich erscheinenden Wald der blitzenden Kristallbäume auszuweichen. Erst lange, nachdem die Sonne den Zenit überschritten hatte, tauchte ein Schatten vor ihnen am Horizont auf, wuchs langsam zu einem dunklen See aus Grau und Schwarz und gelegentlich aufblitzenden Lichtreflexen heran.
Skar fuhr aus dem erschöpften, schon halb schlafenden Dämmerzustand hoch, in den er im Lauf des Nachmittages verfallen war, als Tantor neben ihm auftauchte. Der Zwerg hatte sein rotes Cape gegen eine entsprechend kleinere Ausgabe der schwarzen Lederharnische ausgetauscht und unterschied sich nun nur noch in Größe und Statur von seinen Kriegern. »Wir sind da«, sagte er. »Denke daran, was ich dir gesagt habe.«
Skar sah neugierig nach vorn. Er hatte mit einer Festung gerechnet, einer zerfallenen Stadt oder einer Ansammlung gewaltiger, geborstener Türme, aber vor ihm lag ein gähnender Krater, ein rundes, wie ausgestanzt wirkendes Loch in der glitzernden Panzerhaut Tuans, wo der Boden über einen Hohlraum zusammengebrochen und so einen fast hundert Manneslängen messenden Schacht gebildet hatte. Seine Ränder waren scharf, wie abgeschnitten, und eine schräge, gut zehn Fuß messende Rampe führte in einer weit gezogenen Spirale bis zu seinem Grund hinab. Skar sah weder Wächter noch irgendein anderes Anzeichen von Leben, aber die Wände des Kraters, der sich nach unten verjüngte und in einem gewaltigen Schuttberg endete, waren mit zahllosen Öffnungen und Eingängen übersät; ein unterirdisches Labyrinth, ein gewaltiger Ameisenbau, in dem sich eine ganze Armee verbergen konnte, ohne daß man eine Spur von ihr entdeckt hätte.
»Irgendwie paßt das zu dem Bild, das ich von euch habe«, murmelte er, während er neben Tantor in die Tiefe ritt. Der Wind blieb über ihnen zurück, und es wurde merklich wärmer. Ein schwacher Geruch von Alter und Verfall wehte zu ihnen empor. »Ein Rattenloch.«
Tantor lachte leise. »Hüte deine Zunge, Satai«, sagte er amüsiert. »Sonst könnte es sein, daß dich die Ratten auffressen.« Skar schnitt eine Grimasse, schwieg aber. Er wußte nicht, ob er Tantor vertrauen konnte. All das, was der Zwerg ihm erzählt hatte, konnte wahr sein - es konnte aber auch ein weiterer Trick sein, um sein Vertrauen zu erschleichen.
»Was machst du eigentlich, wenn ich Vela von unserem kleinen Gespräch erzähle?« fragte er so leise, daß nur Tantor und nicht die vor und hinter ihnen reitenden Krieger die Worte verstehen konnten.
Tantor schwieg einen Moment. »Ich werde es leugnen, denke ich«, sagte er dann. »Obwohl es mir wohl nicht viel nutzen würde. Aber dir auch nicht. Und nun schweig. Auch diese Wände haben Ohren.«
»Wo?« fragte Skar mit einem demonstrativen Rundblick.
Tantor warf ihm einen wütenden Blick zu. »Dein Sinn für Humor ist manchmal recht eigentartig, Satai«, murmelte er. »Sieh hinunter auf den Grund des Kraters. Vielleicht dämpft das deinen Übermut ein wenig.«
Skar gehorchte. Im ersten Moment erkannte er nichts außer Bergen von Schutt und zerborstenem Fels, durchsetzt mit einem Diadem glitzernder Glasnester. Dann erkannte er, was Tantor ihm hatte zeigen wollen: Am Fuße der Rampe, flankiert von vier von Velas Kriegern, stand eine Gestalt, ein sieben Fuß großer, breitschultriger Hüne, gekleidet in einen bodenlangen schwarzen Umhang, knielange Hosen und einen knapp sitzenden Lederharnisch. Das Tschekal an seiner Seite blitzte unter den schräg einfallenden Strahlen der Sonne wie ein gefangener Lichtstrahl. Auf dem Haupt des Riesen saß ein wulstiger, stachelbewehrter Helm, aber das Gesichtsvisier war hochgeschoben, und Skar bildete sich trotz der Entfernung ein, seine Züge zu erkennen. Sein rechter Arm war bandagiert und hing in einer Schlinge.
»Nun?« fragte Tantor, nachdem Skar eine Zeitlang stumm zu der Gestalt hinabgestarrt hatte. »Du lachst ja gar nicht mehr? Wo bleibt dein Humor, Satai?«
Skars Bewegung war zu schnell, als daß selbst Tantor noch hätte reagieren können. Er fuhr im Sattel herum, riß den Zwerg mit einer spielerischen Geste hoch und hielt ihn mit ausgestreckten Armen in der Luft. »Ich habe noch mehr davon, als du glaubst«, knurrte er. »Zum Beispiel fände ich es ungeheuer komisch, dich jetzt einfach loszulassen.«
Tantor begann zu kreischen. Unter seinen strampelnden Beinen lag ein fast hundert Fuß tiefer Abgrund. Wenn Skar ihn losließ, würde er mit Sicherheit von der Rampe fallen und in die Tiefe stürzen.
»Hör auf!« keuchte er. »Du bist irre!«
Skar lachte, setzte den Zwerg mit einem schmerzhaften Ruck in den Sattel zurück und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, der ihn um ein Haar wieder vom Rücken seines Tieres geschleudert hätte. Mit einem neuerlichen, verzweifelten Kreischen krallte sich der Zwerg in der Mähne des Pferdes fest, angelte mit den Füßen nach den Steigbügeln und richtete sich mühsam auf.
»Dir werden die Scherze schon noch vergehen, Skar«, giftete er. »Rascher, als du glaubst. Warte, bis du dem Drachen gegenüberstehst.«
Skar ignorierte ihn und sah weiter zu Del hinab. Der junge Satai stand reglos wie eine Statue am Fuß der Rampe und erwartete ihr Näherkommen. In Skar krampfte sich irgend etwas zusammen, ein Gefühl, als würde eine Stahlfeder gespannt, mit jedem Schritt, den sie näher kamen, mehr. Er hatte gewußt, was ihn erwartete, und er hatte geglaubt, darauf vorbereitet zu sein. Aber wie so oft war es eine Sache, über einen Schrecken nachzudenken, und eine andere, eine ganz andere, mit ihm konfrontiert zu werden.
Seine Attacke auf Tantor war nichts als eine Reaktion darauf gewesen, ein stummer optischer Schrei der Hilflosigkeit und Wut. Es kostete ihn unendliche Mühe, seinen Blick von der Gestalt am Fuß der Rampe zu lösen und sich im Sattel herumzudrehen. Er hatte während des gesamten Rittes wenig mehr als einen flüchtigen Blick auf Gowenna oder die beiden Sumpfleute erhäschen können, und selbst jetzt noch ritt zwischen ihm und Gowenna fast ein Dutzend Krieger. Er konnte Gowennas Gesicht nicht erkennen, aber er sah, daß sie müde und weit nach vorn gebeugt im Sattel hockte und offenbar alle Mühe hatte, sich überhaupt noch aufrechtzuhalten.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Tantor, als er seinen Blick bemerkte. »Ihr geschieht nichts. Und auch diesen beiden Schlammfressern nichts - solange du vernünftig bist und tust, was man von dir verlangt, versteht sich.«
Skar drehte sich wieder herum, sah zuerst Tantor, dann Del, und dann wieder den Zwerg an. Er sprach kein Wort, aber etwas in seinem Blick brachte Tantor dazu, sein Pferd ein wenig weiter zur Seite zu lenken, obgleich er dadurch dem Abgrund bedrohlich nahe kam.
Sie erreichten den Fuß der Rampe, und die Krieger, die bisher vor und hinter Skar geritten waren, bildeten einen weit auseinandergezogenen Kreis um ihn herum. Gowenna und El-tra blieben weiter im Hintergrund.
In Skars Mund machte sich ein übler Geschmack breit. Er war plötzlich ruhig, ganz ruhig, aber es war keine entspannende Ruhe, sondern jene angespannte Gelassenheit, die ihn normalerweise vor einem Kampf überkam - seine Nerven schienen wie Stahlsaiten zum Zerreißen angespannt, und er sah plötzlich jedes noch so winzige Detail seiner Umgebung mit übernatürlicher Klarheit. Die Reihe der Reiter vor ihm teilte sich, und Del trat, flankiert von seinen vier Begleitern, in den Kreis.
Mit raschen Schritten näherte er sich Skar, blieb dicht vor ihm stehen und machte eine Bewegung mit der Linken. »Steig ab.« Skar fuhr beim Klang seiner Stimme zusammen, als hätte er einen Schlag erhalten. Sein Blick saugte sich an Dels Gesicht fest, und was er sah, war schlimmer als alles, was er erwartet hatte. »Del«, keuchte er stockend, »du -«
»Steig ab, Skar«, unterbrach ihn Del hart. »Reden können wir später. Vela erwartet dich.«
Skar blieb noch sekundenlang reglos sitzen, ehe er - langsam und umständlich wie ein alter Mann - aus dem Sattel stieg und neben dem Pferd stehenblieb. Für lange Sekunden kreuzten sich ihre Blicke, und was Skar in den dunklen Augen des anderen sah, war Leben. Er hätte es ertragen - hatte es sogar erwartet -, Del als seelenlose Puppe vorzufinden, als eine Marionette gleich den Kriegern, die sie getötet hatten oder ihren Wächtern. Aber es war nicht so. Was immer mit Del geschehen war - es war kein Bann, kein Zauber oder wie immer man es nennen wollte. Plötzlich, ohne daß es einer Erklärung oder eines sichtlichen Grundes bedurft hätte, wußte Skar, daß Del alles, was er tat, freiwillig tat. Er stand unter Velas Bann, sicher, aber es war ein Bann anderer Art, als Skar erwartet hatte. Sie hatte ihn nicht gezwungen, mit ihm zu kämpfen, begriff er plötzlich. Er hatte es aus freien Stücken getan, allein der Gedanke erschien Skar so wahnwitzig, daß er am liebsten laut aufgelacht hätte.
»Hallo Del«, murmelte er. »Es ist lange her, daß wir uns gesehen haben.« Seine Stimme klang belegt, fremd in seinen eigenen Ohren.
In Dels Gesicht zuckte ein Muskel. Seine unverletzte Linke glitt mit einer kleinen nervösen Bewegung an seinem Umhang herab und umklammerte den Griff des Schwertes durch den Stoff hindurch. Sein Blick flackerte. Er drehte mit einem Ruck den Kopf, sah für die Dauer von drei, vier Atemzügen weg und wandte sich dann übertrieben hastig um. »Komm mit«, sagte er. »Du wirst alles erfahren.«
Skar rührte sich nicht. »Ich glaube, ich weiß schon zuviel, Del«, sagte er leise.
Del blieb stehen, sah ihn unsicher, aber auch trotzig und mit einem Ausdruck, der Skar fast wie Mitleid vorkam, an und schüttelte den Kopf. »Du weißt nichts, Skar«, sagte er rauh. »Es ist zuviel geschehen, seit wir uns getrennt haben. Du bist nicht mehr der Mann, den ich kannte.«
Skar lachte leise. »Du auch nicht, Del.«
»Nun, dann haben wir wenigstens noch eines gemeinsam. Komm jetzt.« Diesmal klang Dels Stimme hörbar ungeduldig, aber Skar rührte sich noch immer nicht.
»Was geschieht mit Gowenna und den beiden Sumpfmännern?« fragte er.
Del machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mach dir keine Sorgen. Sie werden Nahrung und einen Platz zum Ausruhen bekommen. Was weiter geschieht, hängt von dir ab.«
»Du machst noch immer keine Umwege, wie?« fragte Skar. »Wenn ich nicht so handele, wie ihr wollt, dann tötet ihr sie.«
»Vielleicht«, sagte Del kalt. »Aber wenn es dir lieber ist, daß ich dich belüge, dann sag es. Und nun komm - bitte.«
Skar nickte, warf Tantor einen letzten, bitteren Blick zu und ging hinter Del her. Die Reihe der Krieger teilte sich vor ihnen. Ihre Eskorte blieb - einschließlich des Zwerges - zurück, und nur die vier Krieger, die zusammen mit Del hier unten auf sie gewartet hatten, begleiteten sie. Sie überquerten den Kratergrund und stiegen über eine schräge, aus Schutt aufgeschüttete und sorgfältig mit Sand geglättete Rampe zu einem der Eingänge hinauf.
Der Gang war von unzähligen Fackeln taghell erleuchtet. Ein frischer, kühler Luftzug schlug Skar entgegen, als er hinter Del gebückt durch den niedrigen Eingang trat. Der Weg führte in sanfter Neigung in die Tiefe, und ein paarmal durchquerten sie hohe, verschieden geformte Hallen und Räume, winzige Ausschnitte des unendlichen Labyrinths, das hier unten liegen mußte.
Skars Verwirrung wuchs, während er Del tiefer in den Irrgarten aus steinernen Gängen und Arkaden folgte. Die Architektur der Räume war nicht menschlich, sie glich nichts, was er je gesehen hatte. Die Gänge waren verschieden hoch und breit, jeder anders geformt, und an den Wänden prangten Bilder oder jedenfalls etwas, das er für Bilder hielt. Es gab bizarre Dinge, deren Bestimmung er nicht einmal erraten konnte, dann wieder Treppen, die scheinbar vollkommen sinnlos nach oben oder unten führten, manchmal gar vor massiven Wänden oder nach wenigen Stufen einfach in der Luft endeten. Und doch kam ihm all dies bekannt vor. Er hatte das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein, Dinge, die er nie zuvor gesehen hatte, genau zu kennen; das Gefühl von etwas Vertrautem, ja, beinahe Heimeligem.
Nach einer Weile blieb Del stehen. Sie waren vor einer hohen, aus zwei ungleichmäßigen Flügeln zusammengesetzten Tür angekommen, zu der eine Anzahl schräger Stufen hinaufführte. Auf dem kleineren der Türflügel prangte ein Symbol, das Skar vage an eine geballte Faust erinnerte, die einen Blitz umklammerte. Aber es konnte auch etwas vollkommen anderes sein.
»Ihr könnt gehen«, sagte Del, zu den Kriegern gewandt, die sie bis hierher begleitet hatten. Die Männer drehten sich gehorsam um und gingen, aber Del wartete auch als sie den Raum verlassen hatten noch, bis ihre Schritte nicht mehr zu hören waren.
Skar lächelte dünn. »Ich nehme an, deine Herrin erwartet uns hinter dieser Tür«, sagte er.
Dels Gesicht blieb ausdruckslos, wie aus Stein gemeißelt. Er trat an die Tür, öffnete sie mit einem Mechanismus, den Skar nicht erkannte, und machte eine einladende Handbewegung. Skar trat zögernd an ihm vorbei.
Der Anblick traf ihn wie eine Ohrfeige.
Der Raum hinter der Tür war kein Raum, sondern streng genommen nur ein vergleichsweise schmaler, sichelförmiger Sims, hinter dem sich eine gewaltige, bodenlose Höhle erstreckte. Ihre gegenüberliegende Wand verlor sich in wogender Weite; Nebel stieg in dünnen, geisterfingrigen Schwaden aus ihrer Tiefe empor und kroch über den Rand des Simses. Aber davon sah Skar kaum etwas. Auch nicht von der schlanken, weißgekleideten Frauengestalt, die am Rand des Abgrundes stand und ihm und Del, der die Tür hinter ihm schloß und sich neben ihm aufbaute, entgegensah. Sein Blick saugte sich an dem schwarzen Gewebe fest, das die Höhle wie klebrige Spinnfäden durchzog; ein Netz aus straff gespannten, miteinander verwobenen Fäden, stark wie ein Männerarm und schwarz, ein Schwarz, das Skar in dieser Tiefe erst einmal gesehen hatte, langgestreckt, organische, verquollene Formen, die sich wie Teer, der zu Fäden gezogen und dann erstarrt war, durch die Weite der Höhle zogen, hier und da zu Knoten und mächtigen pulsierenden Klumpen zusammengewachsen, lebend, lebend, lebend...
Daher dieses Gefühl, dachte er. Selbst das Denken schien ihm Mühe zu bereiten. Es war zu viel. Der Schock war zu groß, und der Hieb kam aus einer Richtung, aus der er ihn nicht erwartet hatte. Daher dieses aberwitzige Gefühl, schon einmal hiergewesen zu sein. Es war keine Einbildung gewesen. Er war schon einmal hiergewesen, oder zumindest an einem Ort wie diesem, irgendwo, am anderen Ende der Welt. Urcôun.
Irgendwann, nach Stunden, wie es ihm vorkam, nach Stunden, die er gelähmt und betäubt am Rand des Abgrundes gestanden und hinabgestarrt hatte, hinab in eine Tiefe, die tiefer als die Hellgor war, bodenloser als die Hölle, brach Del das Schweigen. »Das war es, was wir dir zeigen wollten«, sagte er. »Vielleicht begreifst du jetzt.«
Skar drehte sich um, sah zuerst Del, dann Vela an und schüttelte stumm den Kopf. Nein. Er begriff nicht. Aber er begann damit. Er begann Dinge zu ahnen, ein Wissen zu spüren, das er nicht haben wollte und gegen das er sich wehrte.
Es war nutzlos. Er hatte es die ganze Zeit über geahnt, aber irgend etwas in ihm hatte sich gegen die Erkenntnis gewehrt, hatte sie unterdrückt und verzweifelt vergraben.
Er sah auf, als er Schritte neben sich hörte. Vela war schön, wie er sie in Erinnerung hatte, vielleicht noch schöner, jetzt, wo sich ihr Antlitz nicht hinter einem unansehnlichen grauen Schleier verbarg, sondern nur von lose fallendem Haar und einem dünnen, silbernen Diadem eingerahmt wurde. Es wäre so einfach, dachte er. Sie standen kaum einen Fußbreit vom Abgrund entfernt, und auch Del, so nahe er war, würde nicht rasch genug reagieren können. Eine kurze Bewegung, ein Stoß ...
»Aber du bist kein Mörder, Skar«, sagte sie. Ihre Stimme klang sanft, gar nicht so, wie er sie erwartet hatte, und die Leere unter ihm sang eine unhörbare Begleitmelodie zu ihren Worten. »Und du bist nicht sicher, ob es überhaupt etwas ändern würde.«
»Liest du meine Gedanken?« fragte er, nicht einmal sonderlich überrascht.
Vela schüttelte den Kopf. »Es ist das zweite Mal, daß du mir diese Frage stellst«, sagte sie mit einem flüchtigen, entschuldigenden Lächeln. »Und ich sage zum zweiten Mal nein. Aber es ist leicht zu erraten, was du denkst.«
Skar wandte sich ab, starrte wieder in die Tiefe. Nichts bewegte sich unter ihm, nur die Schatten wogten hierhin und dorthin, und trotzdem spürte er, daß unter ihm etwas war, lebte, ein pulsierendes, großes, unendlich großes und altes Etwas, kein Wesen, Körper oder Geist, vielleicht Leben in seiner reinsten Form. Bisher hatte er Leben mit Bewußtsein gleichgesetzt, aber vielleicht war das falsch. Vielleicht mußte, was lebte, nicht denken, und vielleicht lebte nicht alles, was dachte.
»Del hat mir alles erzählt«, sagte Vela nach einer Weile.
Skar sah Del an, lächelte und starrte weiter wortlos in die Tiefe. Er spürte den unsichtbaren Hauch, der ihn - nein, eigentlich nicht ihn, sondern vielmehr seine Seele, oder etwas in seiner Seele - streifte, und er wußte plötzlich, daß die anderen es nicht spürten. Daß es trotz allem noch ein Geheimnis gab, das er nicht mit ihnen teilte.
»Hätte ich es vorher gewußt -«
»Dann hättest du nicht Befehl gegeben, mich zu töten?« unterbrach Skar sie kalt.
Vela schwieg einen Moment. Irgend etwas ging in ihrem Gesicht vor, aber Skar konnte nicht erkennen, was. »Wie du willst«, sagte sie plötzlich verändert, kalt und so hart wie das Glas, über das sie geritten waren. »Ich wollte fair zu dir sein, dir eine Chance geben -«
»Danke«, unterbrach Skar sie erneut. »Ich habe genügend Kostproben deiner Fairness bekommen. Ich brauche keine weiteren.« Er dachte an das, was ihm Tantor gesagt hatte, und jetzt wußte er, daß der Zwerg die Wahrheit gesprochen hatte. Sie war kein Mensch mehr, nicht mehr wirklich. Er hatte den Atem des Bösen gespürt, als er zum ersten Mal in eine Höhle wie diese gekommen war, jenseits der Grenzen Tuans, tief unter den Sandmeeren der Nonokesh, und er spürte ihn jetzt wieder. Vielleicht war es nicht einmal böse, sondern nur fremd. Doch wenn, dann war es so fremd, war diese Form von Leben so anders, daß sich das Ergebnis gleichblieb.
»Was du hier siehst«, sagte Vela, wieder in anderem Tonfall, dozierend, ruhig, als erkläre sie einem Kind das kleine Einmaleins, während sie an den Abgrund trat und mir einer weit ausholenden Geste in die Tiefe deutete, »ist nur ein kleiner Teil eines gewaltigen Systems von Höhlen und Katakomben, die sich unter den Ebenen von Tuan erstrecken. Del erzählte mir, ihr wäret auf eine ähnliche Höhle gestoßen, tief im Herzen der Nonakesh.« Skar nickte.
»Vielleicht ist es die gleiche«, sagte Vela versonnen. »Die Grenzen Tuans stoßen an die der großen Wüste - es wäre möglich.«
»Und wenn?« fragte Skar achselzuckend. »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, Vela - aber ich werde dir nie dienen.«
»Wie kommst du darauf, daß ich das im Sinn habe?« fragte Vela lauernd.
Skar deutete auf das Geflecht aus schwarzen Strängen. In einer der mächtigen Verdickungen, nicht weit vom Rand des Simses entfernt, pulsierte etwas. »Es ist wohl kein Zufall, oder? Und es ist kein Zufall, daß die Festung am Rand der Nonakesh von den gleichen Wesen errichtet wurde, die Tuan erbauten. Nur die Rolle, die ich darin spiele, ist mir noch nicht ganz klar.«
Vela schürzte abfällig die Lippen. »Du solltest deine Wichtigkeit nicht überschätzen, Satai«, sagte sie, so betont gleichmütig, daß dadurch schon fast wieder das Gegenteil zum Ausdruck kam. »Del erzählte mir von Urcôun und diesen närrischen Wilden, die eine verrottete Ruine als Sitz der Götter anbeten. Setz mich nicht mit dieser Närrin Coar gleich, Skar. Die Herren Urcôuns waren auch die Erbauer Tuans, das stimmt, aber sie waren keine Götter. Sie waren Wesen wie wir.«
»Wesen wie wir?« Skar dachte an die Hoger und ihre tödliche Brut, an den eisigen Hauch, der wie ein giftiger Nebel über den Ruinen Urcôuns gelegen hatte, und an seinen Dunklen Bruder, dieses Etwas, das er aus der Höhle unter der Tuan mitgebracht hatte.
»Wesen wie wir«, bestätigte Vela, »doch auf einer ungleich höheren Stufe der Entwicklung.«
»Ja«, nickte Skar mit einem bitteren, humorlosen Lachen, »das habe ich gesehen. In Combat und auf dem Weg hierher.« Vela machte eine ärgerliche Geste. »Urteile nicht vorschnell, Skar. Was du gesehen hast, ist nichts als ein kümmerlicher Rest ihrer einstigen Größe. Doch selbst dieses wenige, das übriggeblieben ist, würde ausreichen, diese Welt zu retten.«
Skar seufzte. »Schon wieder die alte Leier, Vela?« fragte er. »Ich bin in deiner Hand. Du hast den Stein, du hast Del und mich und Gowenna, und du hast die Macht, dir alles zu nehmen, was du willst. Es ist nicht mehr notwendig, die Heilige zu spielen.« Vela schwieg einen Moment. »Ich mache dir nichts vor, Skar«, sagte sie dann. »Was ich dir damals, in Ikne, gesagt habe, war die Wahrheit. Ich habe all dies getan, um diese Welt zu retten. Mit der Macht der Alten kann Enwor wieder werden, was es war - eine blühende Welt.«
»Unter deiner Herrschaft?«
»Und wenn? Was ist dir lieber - ein Enwor, wie es jetzt ist, eine sterbende Welt, die in unzählige kleine Reiche zerfallen ist, Länder, in denen die Menschen entweder verhungern oder sich gegenseitig umbringen, oder ein Enwor, in dem Frieden herrscht. Ich will Macht, ja. Aber was ist dagegen zu sagen? Ich würde dieser Welt den Frieden bringen. Frieden und Wohlstand. Glaubst du nicht, daß der Preis, den ich dafür verlange, angemessen erscheint?«
Ihr Götter, dachte Skar entsetzt, sie glaubt, was sie sagt! »Und selbst«, fuhr Vela fort, »wenn es so wäre, wie du glaubst, selbst wenn ich die machthungrige Bestie wäre, die du in mir siehst - Enwor ist groß. Zu groß, als daß die Spanne, die ich noch zu leben habe, ausreichen würde, diese ganze Welt zu erobern und zu unterdrücken. Du kannst es drehen wie du willst: Ich werde mehr Nutzen als Schaden bringen. Denke daran, was du auf dem Weg hierher gesehen hast. Mit der Macht, die ich - die wir beide haben, Skar! -, können wir Enwor den Frieden bringen. Wir können die Quorrl in ihre Berge zurückjagen und all die kleinlichen Kriege und Grenzstreitigkeiten beenden.«
»Wie?« unterbrach Skar sie hart. »Indem wir die Welt verbrennen, so wie es die Herren Tuans taten?«
Vela schüttelte ungeduldig den Kopf. »Was geschah, wird sich nie mehr wiederholen können«, sagte sie überzeugt. »Du kennst die Geschichte der Alten nicht, Skar, nicht so gut wie ich. Tuan und Combat verbrannten nicht unter dem Zorn der Götter. Die Alten selbst waren es, die die Gewalten der Schöpfung heraufbeschworen, aber sie wurden ihrer nicht mehr Herr. Es war ein Krieg, geführt mit unvorstellbaren Waffen, aber er wird sich nie wiederholen können.«
»Natürlich nicht«, sagte Skar. »Wie auch, wenn es außer dir niemanden gäbe, der die Macht der Alten hätte. Und sollte es irgend jemand doch versuchen, dann verbrennen wir sein Land und seine Städte, bevor er zur Gefahr werden kann, nicht? So einfach ist das. Und warum auch nicht?« fuhr er mit beißendem Spott fort. »Immerhin schneidet man einen Krankheitsherd auch heraus, bevor er den ganzen Körper vergiften kann. Was macht es da für einen Unterschied, daß der Krankheitsherd eine Stadt ist und die Keime Menschen sind?«
»Es macht keinen Unterschied«, sagte Vela kalt. »Ich rede hier über den Fortbestand der menschlichen Rasse, Skar. Nicht über eine Stadt oder ein Volk.«
»Und nur das zählt.« Skars Stimme vibrierte vor ohnmächtigem Zorn. »Du bist im falschen Körper zur Welt gekommen, Vela. Du hättest eine Ameise werden sollen.«
»Beleidige mich ruhig, wenn es dich erleichtert«, sagte Vela. »Du weißt sehr gut, worüber ich spreche.«
O ja, dachte Skar. Und gerade das erschreckt mich.
»Und was willst du nun wirklich von mir?« fragte er. »Meine Hilfe?«
Vela strich sich mit einer unbewußten Geste eine Haarsträhne aus der Stirn. Im düsteren Licht der Höhle sah sie plötzlich um Jahre jünger aus. »Ja«, sagte sie. »Es würde schon reichen, wenn ich dich in meiner Nähe hielte, und ich könnte es, glaube mir. Ich könnte dich zu einer Puppe machen, wenn ich das wollte. Du hast die Männer gesehen, die mir dienen? Was mit ihnen geschah, kann auch dir geschehen, Satai. Aber ich werde es nur tun, wenn du mich dazu zwingst. Überlege dir deine Entscheidung gut. Tantor hat die Wahrheit gesprochen, als er sagte, daß ich deine Hilfe nicht brauche.«
Skar fuhr unmerklich zusammen. Ein dünnes, grausames Lächeln erschien auf Velas Lippen. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte sie. »Aber urteile nicht vorschnell über Tantor. Er hat nicht in meinem Auftrag gehandelt. Er war nur dumm. So dumm, zu glauben, daß ich seine lächerliche Verschwörung nicht durchschauen würde. Er hat mir sogar einen Gefallen getan. Überlege dir, ob du an meiner Seite die Welt regieren oder lieber zu einer hirnlosen Marionette werden willst.«
»Die Welt regieren ...« Skar lachte, aber es klang nicht halb so überheblich, wie er beabsichtigt hatte. »Du bist nicht der erste Mensch, der davon träumt, Vela. Aber ich habe noch von keinem gehört, dem es gelungen ist.«
»Ich werde jetzt nicht mit dir streiten, Skar«, antwortet Vela kühl. »Ich gebe dir drei Tage Zeit, deine Entscheidung zu bedenken. Vorher werde ich ein Nein nicht akzeptieren.«
»Was geschieht mit Gowenna?« fragte Skar.
Vela hob die Schultern. »Sei unbesorgt. Meine Leute geben ihr alles, was sie braucht. Wenn du die richtige Wahl triffst, Skar, wird sie weiterleben. Und wer weiß - wenn ich mit dir zufrieden bin, dann gebe ich ihr vielleicht sogar eines Tages ihr hübsches Puppengesicht wieder.«
Skars Hände zuckten. Hilf mir! dachte er. Gib mir Kraft, diese Bestie in Menschengestalt zu vernichten!
Aber die Stimme seines Dunklen Bruder schwieg.