Die nächsten beiden Tage waren die Hölle. Sie waren wenige Meilen auf ihrer eigenen Spur zurückgeritten und dann nach Nordwesten abgewichen, in großem Bogen die Spur Velas und ihres Drachen umgehend, dorthin, wo hinter dem undurchdringlichen Blätterdach Coshs die letzten Ausläufer der Schattenberge und der Winter auf sie warteten. Die Sonne war über den Himmel gewandert und untergegangen, doch sie waren weitergeritten, nicht sehr schnell, aber stetig und ohne die kleinste Rast, die Nacht hindurch und bis weit in den nächsten Morgen hinein. Erst als die Sonne schon fast wieder im Zenit gestanden hatte, hatten sie eine kurze Rast eingelegt; nicht einmal eine Stunde, um die Pferde zu tränken und ihren verspannten Muskeln ein wenig Bewegung zu gönnen. Danach waren sie weitergezogen. Skar erinnerte sich an den zweiten Tag ihres Rittes nur undeutlich. Er war ein paarmal vor Erschöpfung im Sattel eingeschlafen und schließlich in eine Art Dämmerzustand irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein verfallen; starr, die Linke um den Zügel und die Rechte um den Sattelknauf gekrallt, unfähig, eines von beiden loszulassen. Irgendwann war wieder die Sonne untergegangen, und spät in der Nacht hatten sie eine weitere Rast eingelegt. Er hatte geschlafen und war nach wenigen Stunden so steif und verkrampft erwacht, daß El-tra ihn halb auf den Rücken seines Pferdes heben mußte, als sie weiterritten.
Als die Sonne das nächste Mal aufging, erreichten sie den Besh. Der gewaltige, mehr als eine Meile breite Fluß, den Skar kannte, war hier oben nur ein kaum knietiefes, träge dahinfließendes Rinnsal voller Schlamm und zerborstener Eisschollen, nicht einmal zweihundert Fuß breit und mit kränklichem Schilf und Wasserpflanzen durchsetzt. Vom Wasser stieg ein eisiger, unsichtbarer Hauch zu ihnen empor, und der Winter begrüßte sie mit beißender Kälte, als sie den Schutz des Waldes verließen und Richtung auf die Berge nahmen. Der Weg wurde steiniger, und mit jeder Meile wichen der Wald und der Sumpf ein Stück weiter vom Flußufer zurück, bis sie nicht mehr als ein dünner, dunkelgrüner Streifen zu ihrer Rechten waren, der schließlich hinter den ersten Felszacken des Vorgebirges verschwand. Es gab keinen festen, markierten Weg, nicht einmal so etwas wie einen Trampelpfad; nur Schnee und Steine und glitzerndes Eis, unter dem sich oftmals tückisch lockeres Geröll oder Spalten verbargen, die jäh und warnungslos vor ihnen aufklafften. Irgendwie kamen sie aber doch voran, schlängelten sich an Felsen und geröllübersäten Überhängen vorbei und drangen tiefer in das Gebirge ein. Die beißende Kälte vertrieb Skars Müdigkeit für eine Weile, aber in ihrem Gefolge kamen Erschöpfung und Schmerzen und schließlich doch auch wieder Müdigkeit, schlimmer als zuvor.
Als sie das Kastell endlich erreichten, hätte Skar beinahe nicht einmal bemerkt, daß sie ein künstliches Bauwerk vor sich hatten. Es war eine Ruine, wie El-tra gesagt haue: grau und gewaltig wie die Felsen, die es umgaben, mit Mauern, die wie zerborstene Reihen grobknochiger Fäuste aus dem Stein geschlagen waren, ein Bauwerk, das Gewalt ausstrahlte wie die Berge Kälte und Tod, von einem längst vergangenen Baumeister so perfekt in seine Umgebung eingepaßt, als wäre es gewachsen, nicht gemacht. Wie ein gewaltiges sterbendes Tier lag es zwischen den senkrechten Felswänden des Massivs eingebettet, zerstört und geschleift, aber noch immer gigantisch, ein Monstrum mit hundert Fuß hohen Mauern, die zinnenbewehrt und bizarr wie schwarze Hände nach den tiefhängenden Wolken zu krallen schienen. Es hätte El-tras Erklärung nicht bedurft, um Skar zu sagen, daß es die Sumpfleute gewesen waren, die dieses Bauwerk errichtet hatten.
Der Weg schlängelte sich in zahllosen, scheinbar willkürlichen Kehren und Windungen am Fuß der zerbrochenen Mauer entlang. Es gab ein Tor, einen gewaltigen, bogenförmigen Durchgang, der einmal breit genug gewesen war, eine Armee hindurchzulassen, jetzt jedoch von heruntergestürzten Steinen und Schutt und Schnee bis auf einen schmalen Weg verschüttet war. Dahinter lauerten Dunkelheit und wogendes Grau. Langsam und hintereinander ritten sie hindurch, auch die Männer Coshs jetzt sichtlich erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Es bereitete Skar ein kurzes, kindisches Gefühl der Befriedigung, zu sehen, daß sich auch einige von ihnen nur mehr mit Mühe im Sattel hielten.
Er war der letzte, der durch den halb verschütteten Eingang ritt. Der Innenhof der Festung war klein, kleiner, als er erwartet hatte - ein langgestrecktes Trapez von hundert mal dreißig Fuß, übersät mit zerborstenen Steinen, Schutt und Unrat. Die gewaltigen Mauern hatten den Schnee ferngehalten, nur hier und da gewahrte Skar kleine, weiße Nester glitzernder Kälte, und aus den Ritzen und Spalten der Wände wucherte kärgliches Unkraut; graue Pflanzen, die sich in Farbe und Wuchs der Feindseligkeit ihrer Umgebung angepaßt zu haben schienen. Es gab nur ein einziges, ungeheuer massiges Gebäude, einen Würfel aus Fels, direkt aus der Wand herausgehauen und mit einer Krone von Zinnen und nach außen gekrümmten Steinkrallen versehen.
Skars Erschöpfung machte noch einmal für einen kurzen Moment einem Aufwallen von Trotz Platz, als er aus dem Sattel stieg und mit mühsamen, schwankenden Schritten über den Festungshof ging. Sein Blick tastete an der Mauer entlang. Ihre Krone war geborsten, und die herunterstürzenden Steine hatten, zusammen mit dem Staub und Unrat von Jahrhunderten, eine schräge, bis zur Hälfte ihrer Höhe reichende Rampe gebildet. Aber der verbliebene Rest war noch immer hoch, hoch genug, um ihn auch gegen einen zahlenmäßig weit überlegenen Gegner halten zu können. Es gab nur einen einzigen schmalen und fast senkrecht in der Höhe führenden Aufstieg, und der Wehrgang, von dem noch Bruchstücke an der Innenseite der Mauer stehengeblieben waren, war so angelegt, daß er auch zum Innenhof hin Schutz bot, als hätten seine Erbauer damit gerechnet, daß ein Feind das Tor stürmen und in den Hof eindringen könne.
Eine perfekte Falle.
Und trotzdem wußte Skar, daß es nicht funktionieren würde. Das Geräusch von Schritten drang in seine Gedanken. Er wandte sich um und erkannte El-tra, der ihm gefolgt war und jetzt stehenblieb. Der Sumpfmann ging langsam, schleppend und vornübergebeugt wie ein alter Mann. Seine Gestalt schien zu flackern. »Du solltest hineingehen und dich ausruhen, Bruder«, murmelte der Sumpfmann. Selbst seine Stimme klang flach, kraftlos. »Du wirst morgen all deine Kräfte brauchen.«
Skar rang sich mit Mühe ein Lächeln ab. »Ihr nicht?«
»Es ist noch Zeit«, erwiderte El-tra. »Die Soldaten können nicht vor Sonnenaufgang hier sein. Der Weg, den sie nahmen, war weiter als der, den wir gekommen sind. Und anstrengender. Sie werden so erschöpft sein wie wir.«
Skar antwortete nicht gleich. Vor seinem geistigen Augen entstand das Bild eines drei Meter hohen, stachelbewehrten Hornkolosses mit Äxten statt Händen und der Kraft eines Bantas. »Wir werden Wachen aufstellen müssen«, sagte er matt. Er wankte. Jetzt, nachdem er aus dem Sattel war und die Anspannung allmählich von ihm abzufallen begann, schlug die Erschöpfung mit aller Kraft zu. »Und die Spuren beseitigen.«
El-tra machte eine Geste zum Himmel. »Er wird schneien, sobald die Sonne untergegangen ist. Niemand wird merken, daß wir hier sind. Nicht, bevor es zu spät ist.«
Skar hätte El-tras Optimismus gerne geteilt, aber er konnte es nicht. Vela war kein normaler Gegner.
»Und was, wenn sie nicht hierherkommt?« fragte er. »Wenn sie weiterzieht und versucht, einen anderen Weg durch die Berge zu finden?«
»Es gibt keinen«, sagte El-tra. »So wenig, wie es ein Zurück gibt. Sie wird kommen, Skar.«
Ja, dachte Skar dumpf. Und sei es nur, weil sie weiß, daß wir auf sie warten. Aber das sprach er nicht laut aus.