Huma trat aus dem Zelt, um sich zum ersten Mal das Lager anzusehen. Ihre genaue Position kannte er nicht, doch er bemerkte, daß der Kommandostab wieder weitergezogen war, und zwar offenbar näher an die Grenze. So nah bei Ergod war das Land gleichmäßiger mit Bäumen bewachsen – mit gesunden Bäumen. Aus unerfindlichen Gründen hatten die Oger die Gegend vor den Bergen nicht allzu sehr verwüstet. Das konnte kaum an der Schönheit des Landes liegen; soweit man wußte, waren die Oger an Schönheit nicht besonders interessiert. In manchen Gegenden gab es richtigen Wald – große, uralte Bäume, die sich vielleicht an friedlichere Zeiten erinnerten, vielleicht sogar einst die ersten Elfen gesehen hatten.
Huma schätzte, daß zwei- bis dreihundert Ritter in dem Gebiet lagerten. Die hier stationierten Männer waren aus der Leibwache Fürst Oswals, verwundeten Rittern in verschiedenen Stadien der Genesung, ein paar Ansässigen, die der Ritterschaft mit ihrer Ortskenntnis zur Seite standen, und sogar ein paar Zauberern, welche die Kleriker verstärkten, zusammengewürfelt. Die Zauberer und Kleriker hielten sich so weit wie möglich voneinander entfernt. Zauberer fürchteten die meisten Kleriker als religiöse Eiferer, während die Kleriker zwar toleranter waren, aber dennoch der Unabhängigkeit der Zauberkundigen mißtrauten, die sich mehr auf Macht als auf den rechten Glauben konzentrierten.
Niemand traute den Zauberern richtig. Deshalb durften sie auch keine Waffen tragen. So waren sie zumindest in einer Hinsicht verwundbar.
»Wie geht es dir heute?«
Humas Gesicht leuchtete kurz auf, dann setzte er rasch eine Miene ernster Tapferkeit auf. Gwyneth kam mit einem Eimer in der Hand auf ihn zu. Trotz bester Vorsätze mußte Huma lächeln.
»Ich habe dieses Zelt mehr als satt und bin überglücklich, die Welt zu sehen, selbst wenn es nur das Lager ist.«
Sie lachte fröhlich, um dann plötzlich ernst zu werden. »Wirst du bald abreisen?«
Er nickte gefaßt. Rennard war mehrfach da gewesen, um ihn zu besuchen. Huma wußte, daß er Fürst Oswal über sein Befinden Bericht erstattete. Wenn Huma mit einer gewissen Selbstachtung vor den Obersten Kommandanten treten wollte, mußte er so schnell wie möglich genesen.
Der Wind wurde kräftiger und blies Gwyneth ein paar lange, dicke Locken ins Gesicht. Sie strich das Haar zurück und schien etwas sagen zu wollen, als eine wohlbekannte Gestalt auftauchte, die von zwei Rittern des Schwertes eskortiert wurde.
»Huma!«
Kaz kam angelaufen und versuchte, seinen einzigen, wahren Freund unter den Menschen mit einer Umarmung zu begrüßen, die Huma mit drei oder vier gebrochenen Rippen ins Zelt zurückgeschickt hätte. Es gelang Huma, dem Minotaurus auszuweichen, weshalb er nur eine Prellung von Kaz freudigem Schulterklopfen davontrug. Es war vier Tage her, daß Huma Kaz gesehen hatte. Da Fürst Oswals Vertrauen zu dem Minotaurus wuchs, wurde dessen Rat immer wichtiger. Die Ritterschaft kämpfte schon seit Jahren gegen die Oger, wußte jedoch sehr wenig über sie. Kaz aber, der unter dem Joch seiner Vettern aufgewachsen war, wußte nur zu gut Bescheid.
»Gwyneth«, sagte Huma, dem die Frau einfiel, doch er drehte sich zu spät um. Sie war verschwunden.
Der Minotaurus war aufmerksamer, als seine Erscheinung vermuten ließ. »Komme ich ungelegen? Entschuldige bitte, wenn ich gestört habe.«
Huma winkte ab. »Ich sollte mich bei dir entschuldigen. Schön, dich zu sehen, Kaz.«
»Ich hatte keine Ahnung, daß deine Leute so viele Fragen stellen können – wieder und wieder! Sie haben alles aus mir herausgequetscht und wollen immer noch mehr.«
»Sie sind mit ihrem Latein am Ende, Kaz. Wir wollen endlich – « Huma brach ab, als eine große Gestalt in roten Roben und roter Kapuze ohne jeden Gruß an ihnen vorbeilief. Das Gesicht war hager und knochig, und der Mann erinnerte Huma an einen schrecklichen Ausbilder, den er in seiner Knappenzeit gehabt hatte.
Die Augen des Minotaurus folgten der rotgewandeten Figur. »Die Zauberer sind äußerst nervös. Ich kann ihre Angst riechen. Manchmal wird mir schlecht davon.«
Huma merkte, daß seine linke Seite kräftiger war als die rechte. Noch war er nicht gänzlich wiederhergestellt. »Was macht ihnen angst?«
»Das Unbekannte. Sie sind es ja gewöhnt, mit ihren Gegenspielern in den schwarzen Roben fertig zu werden, aber es geht das Gerücht, daß Galan Drakos auch die anderen Abtrünnigen losgelassen hat. Hast du einen Teil des Zaubererkampfes gesehen?«
»Wer hat das nicht? Er hat schließlich fast den ganzen Himmel verdeckt.«
»Als wir ankamen, gab es ein Dutzend mächtiger Magier auf unserer Seite. Vier von ihnen kamen um, und ein weiterer wird Körper und Geist vielleicht nie wieder richtig unter Kontrolle bekommen. Weißt du, wie viele Gegner sie hatten?«
»Wie viele?«
»Drei.«
»Drei?« Der Ritter schüttelte den Kopf. »Sie müssen wirklich mächtig gewesen sein, aber woher wissen die Magier, daß es keine Schwarzen Roben waren?«
Kaz lächelte wissend. »Zwei waren Schwarze Roben, heißt es. Der Überlebende, der entkam, war keine. Seine Kräfte waren zu chaotisch für einen, der in einem der drei Orden ausgebildet wurde. Ein Abtrünniger. Mehr wollten sie nicht sagen.«
Huma mußte an Magus denken, der mit seiner Gestalt und seinem angenehmen Äußeren eher an einen Königshof gepaßt hätte als in die feuchtkalten, abgeschiedenen Türme der Zauberkundigen. Schon vor seiner Zaubererprüfung war Humas Kindheitsgefährte ein Außenseiter gewesen. Von den Fähigkeiten her hatte er seine Lehrer längst überflügelt. Magus hatte immer herumexperimentiert, selbst wenn er dabei sein Leben aufs Spiel setzte. Doch zeitweise hatte er davon geredet, seine Ausbildung abzubrechen.
Kaz wurde gerufen und verabschiedete sich maulend. Huma kehrte ins Zelt zurück und verschlief den größten Teil des Tages. Rennard kam vorbei, um Huma mitzuteilen, daß der junge Ritter morgen zur Wache eingeteilt war, ob voll wiederhergestellt oder nicht. Huma hätte sich beschweren können, doch er war glücklich über diese neue Chance, sich zu bewähren.
Gwyneth kam ebenfalls vorbei, doch das Gespräch war kurz und nichtssagend. Sie schien etwas sagen zu wollen, doch was es auch war, es blieb unausgesprochen. Dann sah er sie vorläufig nicht mehr wieder.
An dem Tag, als Huma die erste Aufgabe seit seiner Verwundung übernehmen sollte, brach im Lager hektische Betriebsamkeit aus. Ritterkolonnen ritten am Hauptquartier vorbei, das in einem geräumigen Zelt mit dem Eisvogelbanner untergebracht war und ständig von einer Abordnung Ritter der Rose bewacht wurde. Hier planten Fürst Oswal und seine Offiziere ihre Strategie. Huma konnte den Grund für all die Unruhe nur erraten. Gerüchte schwirrten durch die Luft, daß die Ostgrenze in den Bergen gefallen sei und daß die Oger jetzt auf Burg Vingaard zu marschierten. Ein anderes Gerücht warnte, daß in einem der Orte, wo die Ritter Station gemacht hatten, die Pest ausgebrochen sei. Huma nahm die Gerüchte als das, was sie waren – dennoch war er besorgt.
Als Rennard auftauchte, half Huma gerade den Klerikern, indem er heißes und kaltes Wasser schleppte und Essen brachte. Es war nicht viel, aber immerhin etwas. Außerdem bewahrte es Humas Gedanken davor, sich unangenehmeren Dingen zuzuwenden.
Huma nahm Haltung an, als der andere Ritter erschien. Diese Geste hätte Rennard um ein Haar mit eben abgekochtem Wasser überschüttet, weil die Eimer hin und her schaukelten. Die starren Züge zuckten, doch Huma war nicht klar, ob das nun Ärger oder Belustigung bedeutete.
»Ich sehe, daß du bereit bist, zu deinen Pflichten als Ritter zurückzukehren«, sagte Rennard ernst.
Die harte Arbeit hatte Huma kräftig ins Schwitzen gebracht, und der Schweiß lief von seiner Stirn herunter. Sein Gesicht war schmutzig und seine Kleider voller Flecken. Er wagte nicht zu sprechen, weil er nicht wußte, was er sagen sollte, darum nickte er bloß.
Rennard verschränkte die Arme. »Du hast heute nacht das Kommando über die Wache. Fürst Oswal meint, du bist dieser Verantwortung gewachsen.« Er musterte Humas Gestalt ohne erkennbare Regung.
Es war schon fast dunkel. Huma schluckte. »Darf ich mich vorher noch waschen und umziehen?«
»Unbedingt. Ich habe die Wachen bereits ausgesucht. Wenn du fertig bist, kommst du zu mir.« Rennard nahm die Arme herunter und ging. Salutieren war bei ihm noch nie nötig gewesen.
Außerdem war Salutieren schwierig, wenn man in jeder Hand einen Eimer hatte.
Huma hatte befürchtet, daß einige Ritter seiner Ernennung zum Hauptmann der Wache widersprechen würden. Das war nicht der Fall. Die Wache bestand aus Rittern, die ihren Hauptmann entweder nicht kannten oder zu neu waren, um von Bennett und seinen Freunden beeinflußt zu sein. Das hieß nicht, daß sie grüne, unerprobte Ritter waren. Kein Knappe, der in die Ränge der Ritterschaft aufstieg, war unerprobt. Um der Sicherheit willen wurden ein paar Veteranen untergemischt, doch diese Männer waren Fürst Oswal treu ergeben und würden Menschen nach ihren Verdiensten, nicht nach der Herkunft beurteilen.
Ein solcher Veteran nahm Haltung an, als Huma an ihm vorbeiging. Huma war nicht ganz wohl dabei, Männern Befehle zu erteilen, die doppelt so alt und zehnmal so erfahren waren wie er, doch er wußte, daß bis auf die Befehlshaber jeder Ritter hin und wieder Wache schieben mußte. Dennoch fühlte Huma ein nervöses Zittern, als er den Bericht des älteren Postens abnahm, und atmete erst wieder auf, als er zum nächsten unterwegs war. Es war unbedeutend, ob dieser Mann weniger erfahren war als der andere; die Befehlsgewalt war es, die Huma ängstigte. Wenn etwas schief ging, würde er die Verantwortung tragen.
Der Umkreis des Lagers führte ihn bis an den Waldrand, und Huma beobachtete dieses Gebiet mit einer gewissen Zurückhaltung. Da draußen konnte sich alles verstecken, und man konnte sich unschwer Augen und schattenhafte, huschende Gestalten vorstellen, wohin man auch sah.
Es war schon nach Mitternacht, als er auf die unbesetzte Position stieß.
Das ansteigende Gelände verbarg die Stelle vor seinem Blick, bis er fast oben war. Huma stand einen Moment da, gelähmt von dieser Entdeckung. Er hätte die Aufgabe, die Posten abzugeben, einem anderen übertragen können, doch da es sein erstes Kommando war, hatte er es selber tun wollen. Er mußte Hilfe herbeirufen oder zurückrennen und Fürst Oswal und die anderen warnen, doch er wußte, daß beide Möglichkeiten zu viel Zeit kosten und den – oder das – warnen würden, der da draußen war.
Mit blankem Schwert stapfte Huma in den dunklen Wald. Im Prinzip wußte er, daß er sich Ärger einhandeln konnte, doch wie hypnotisiert ließ er sich in den Wald hineinziehen. Er konnte nichts sehen, doch er fühlte die Macht, die sich hier versteckte. Hilflos drang er tiefer in den Wald ein, jetzt konnte er nicht mehr anders. Den ursprünglichen Anlaß hatte er vergessen, bis darauf, daß er den oder das finden mußte, der hier lauerte.
Ein Schatten lief neben Huma her, rote, aber blicklose Augen nahmen ihn wahr. Ein weiterer Schatten verfolgte den Ritter auf der anderen Seite. Huma sah nichts und hörte nichts – und hätte es auch im Vollbesitz seiner Kräfte nicht getan. Es kostete große Willenskraft, die Nachttiere zu sehen, wenn sie durch die Wälder strichen.
Ein flackerndes Muster glitzernder Lichter tanzte vor dem in Bann geschlagenen Ritter. Die meisten Lichter flatterten bei seiner Ankunft davon, doch zwei blieben, starrten ihn an. Huma stolperte auf sie zu, ohne die stille Gestalt in ihrer Rüstung zu bemerken, über die er fast gestolpert wäre. Die leuchtenden Kreise lockten, und ein dunkler Schatten schien sich über ihnen zu materialisieren.
Zum ersten Mal brach eine Stimme die Stille. Es war kaum mehr als ein Zeichen, doch es forderte Humas gesamte Aufmerksamkeit.
»Tapferer Ritter. So sicher mit deinen kleinen Spielzeugen.«
Die Gestalt bewegte sich etwas zur Seite. Humas Augen folgten ihr gehorsam. Der Schatten schien seinen Fang zu begutachten. »Ob du wohl der Richtige bist?«
Eine ledrige Hand streckte sich aus, um Huma ans Kinn zu fassen. Sein Kopf wurde nach rechts und links gedreht, wobei die Augen des Ritters nie die des anderen losließen. »Jaaa. Drakos wird zufrieden sein – sogar der Kriegsherr wird zufrieden sein. Das kann kein Zufall sein. Er hat seine Hand im Spiel gehabt, um seinen eigenen Hals zu retten.« Die Augen und die Hand glitten hinunter zu Humas Schwert. »Das brauchst du nicht mehr.«
Ein Leuchten weit hinter der Schattengestalt zog Humas Blick plötzlich von ihr ab. Der andere, völlig mit seinem Fang beschäftigt, übersah das seltsame Licht. Irgend jemand kommentierte den Vorgang jedoch. Da war ein kehliges Knurren, und der Verwesungsgestank wurde stärker.
Der Blick des Wesens kehrte schnell zum Gesicht des Gefangenen zurück.
Zwei Augenpaare trafen sich. Huma war nicht mehr bezaubert.
Der Ritter reagierte instinktiv. Mit ganzer Kraft, von Schreck und Furcht angespornt, trieb er sein Schwert nach vorn. Der Körper der dunklen Figur zeigte kaum Widerstand. Wilde Klauen zerkratzten Huma das Gesicht, doch das kümmerte ihn nicht. Er versuchte nur, seine Waffe so tief wie möglich zu treiben. Plötzlich stieß er auf Widerstand, auch wenn der schattenhafte Gegner nicht fiel. Das Kratzen jedoch hörte auf. Die Figur erschauerte noch zweimal. Dann war sie still.
Von der Anstrengung erschöpft fiel Huma auf die Knie.
Wesen der Finsternis trotteten einen Augenblick zu ihm herüber, zögerten dann aber, als fühlten sie etwas Unerwartetes. Huma hob den Kopf und erhaschte einen Blick auf etwas Blasses, entfernt Wolfsartiges. Dann war es fort.
Huma wußte nicht, wie lange er hier verweilt hatte. Ganz allmählich bemerkte er die leisen Schritte von jemandem, der in seine Richtung ging. Sie kamen aus den Tiefen des Waldes. Huma erhob sich, wenn auch etwas schwankend. Er erkannte, daß er sich noch nicht völlig erholt hatte.
»Hier, laß mich dir helfen.« Die Stimme war stark, und die Hände, die Huma hielten, kraftvoll. Während der Ritter tief Luft holte, betrachtete der Neuankömmling die Überreste seines Angreifers, lachte und sagte: »Gut gemacht. Du hast ihn an den Baumstamm genagelt. Ein beeindruckendes Zeichen deiner Stärke und wohlverdient, was den da angeht.«
»Wer –?«
»Spar dir deinen Atem fürs Laufen. Du bist tiefer in den Wald geraten, als du glaubst.«
Beim Gehen wagte Huma es, einen argwöhnischen Blick auf den anderen zu werfen. Er war groß, dieser Fremde, und trug extravagante, gut gearbeitete Kleider. Elegante, goldene Locken verliehen ihm das Aussehen eines majestätischen Löwen. Die Miene des Fremden war schwerer zu erkennen, doch Huma schien er gut auszusehen, fast schön zu sein. Jemand, der an den Königshöfen zu Hause war, vielleicht mit reichen, jungen Mädchen flirtete. Es lag etwas Vertrautes in diesem Gesicht. Etwas, das er seit Jahren nicht gesehen hatte…
»Magus!« Huma blökte den Namen vor Schreck laut heraus.
Sie blieben stehen. Der andere ließ ihn los. Sie starrten einander an, und der Ritter bemerkte, daß der andere von innen zu leuchten schien.
»Huma. Schön, dich zu sehen, selbst unter diesen Umständen. Ich hatte mich gefragt, wie lange ich dich im Dunkeln lassen sollte – wenn du mir den Ausdruck verzeihst.«
»Du lebst!« Huma war nie ganz sicher gewesen, was nach jener Prüfung im Turm geschehen war. »Du lebst!« wiederholte er verwundert.
Magus’ Gesicht war jetzt selbst in der Finsternis zu sehen. Sein Mund verzog sich zu einem reumütigen Lächeln. »Ja. Tut mir leid.«
Das Lächeln auf Humas Gesicht fiel in sich zusammen. »Tut dir leid? Warum sollte es dir leid tun?«
»Glaubst du, ich bin rein zufällig hier, Huma? Ich hoffe nicht. Meinetwegen bist du in Gefahr geraten.«
»Das verstehe ich nicht.« Der Gedanke an die Gefahr ließ Huma nach seinem Schwert greifen. Als seine Hand nur Luft vorfand, erinnerte er sich, was aus seiner Waffe geworden war. Er drehte sich um. »Mein Schwert! Ich muß umkehren – «
»Nein!« Die Stimme des Zauberers war befehlend. »Wir sollten keinen Moment länger als nötig allein hier draußen bleiben. Kehr zurück, wenn du tapfere Männer im Rücken hast. Die Schreckenswölfe könnten geflohen sein, aber ich kann mich auch täuschen. Weiß Gott, es wäre nicht das erste Mal.«
Magus drängte ihn weiter in Richtung Lager, und Huma erkannte, daß das als einziges Sinn machte. Er wollte jedoch ein paar Antworten.
»Was war das da hinten? Was hast du vorhin gemeint?«
Ein Teil der Pracht seines alten Freundes schien sich in Luft aufzulösen. Magus war plötzlich ein älterer Mann als Huma, obwohl beide im selben Alter waren. Der Zauberer sah dem Ritter nicht in die Augen. »Ich glaube, du solltest lieber eine von den Roten Roben im Lager fragen. Die dürften dir die offizielle Version geben.«
»Steckst du in Schwierigkeiten?«
»Schwierigkeiten, aus denen ich dich auf jeden Fall heraushalten will. Es war dumm von mir, auch nur in Erwägung zu ziehen, zu dir zu kommen.«
Der Schein heruntergebrannter Feuer war der erste Hinweis auf die Nähe des Lagers. Huma hörte den Lärm hastender Männer. Jemand hatte das Fehlen der beiden Ritter bemerkt – einer davon kein geringerer als der Hauptmann der Wache.
Magus hörte das Gerenne ebenfalls. Er blieb abrupt stehen. »Was du auch über mich hörst, Huma, ich habe mich nicht verändert.« Der Magier faßte seinem besten Freund an die Schultern.
»Glaub mir! Wenn die Prüfung irgend etwas bewirkt hat, dann hat sie das bewirkt!«
Der Glanz, der den Zauberkundigen umgeben hatte, verblaßte plötzlich, und Huma bemerkte die Angst auf dem Gesicht seines Freundes. Nicht nur Angst um sich selbst, sondern auch um ihn.
»Horch.« Jetzt bedeckten die Schatten das Gesicht des Zauberers und verliehen ihm einen unirdischen Ausdruck. »Diese Wesen werden dich nicht länger belästigen. Ich bin es, den ihre Herren suchen. Sie haben sie mir nachgeschickt, als sie erfuhren, daß ich weg war.«
Fröstelnd stellte Huma fest: »Du fliehst vor den Kreaturen der Drachenkönigin.«
Ein trockener Zweig knackte. Beide Männer erstarrten. Huma sah sich im Wald um, konnte jedoch nichts erkennen. Magus beugte sich vor und flüsterte: »Ich muß gehen. Du kennst mich, Huma. Du weißt, wozu ich fähig bin. Glaube daran. Wenn die Dinge eine Wendung zum Guten oder zum Bösen nehmen, werde ich mich mit dir in Verbindung setzen.«
Große, dunkle Umrisse erschienen zwischen den Bäumen. Magus funkelte sie an und eilte davon. Huma machte den Mund auf, um zu sprechen, merkte dann jedoch, daß das gefährlich und dumm wäre. Er betete, daß Magus recht damit gehabt hatte, Humas Schwert an dem Baum zu lassen, wo es jene Mißgeburt an den Stamm genagelt hatte.
Unter Aufbietung seines gesamten Mutes nahm Huma seinen Weg zum Lager wieder auf und betete beim Gehen, daß er als erstes einem Ritter und nicht einem Wesen aus dem Alptraum eines Zauberers begegnen würde.
Glücklicherweise traf er die Suchenden nur Minuten von der Stelle entfernt, wo der Posten verschwunden war. Huma fühlte sich schuldig, den unglückseligen Posten vergessen zu haben, einen, der noch unerfahrener war als er. Es gab jedoch nichts, was Huma für den Mann tun konnte, und er wußte, daß er sich eher um das sorgen sollte, was noch außerhalb des Lagers lauern konnte, und was das bedeuten konnte. Wenn der Feind so weit hinter die Linien vorgedrungen war…
Rennard nahm seine Meldung ab, offenbar nicht allzu überrascht, daß ausgerechnet Huma in Schwierigkeiten geraten war. Die Nachricht von dem Angreifer, der nur ein Magier gewesen sein konnte, machte ihm zu schaffen, auch wenn seine Miene keine Regung zeigte. Mit einem Suchtrupp kehrten Huma und Rennard zu dem Platz zurück, an den Huma geführt worden war. Die leblose Gestalt des Postens zeigte keine Kampfspuren, ganz als wäre der arme Mann einfach tot umgefallen. Rennard spuckte aus und verfluchte in einem nie dagewesenen Gefühlsausbruch alle Magier dieser Welt. Huma schrumpfte zusammen. Er hatte nichts von Magus erwähnt, auch wenn es dem Kodex und dem Maßstab zuwiderlief. Wie ehrenhaft war ein Ritter, der log?
Aber Magus war sein Freund.
Bei klarem Verstand betrachtet, erwies sich der Angreifer als nur allzu real. Rennard zog das Schwert aus dem Baum und ließ den Körper des Zauberers herunter. Zu seiner eigenen Überraschung griff Huma selbst hinunter und zog ihm die Kapuze vom Gesicht. Selbst im Dunkeln war das Gesicht abstoßend. Nur Rennard schien von dem Bösen, das darauf geschrieben stand, unbeeindruckt.
Der Magier mochte ein Mensch gewesen sein, doch er glich eher einem Reptil. Seine Haut war dunkel und schuppig und glitzerte im Fackellicht. Die Augen waren schmale Schlitze, die Nase kaum vorhanden. Huma bemerkte Zähne, die die des Minotaurus in den Schatten gestellt hätten. Mehr als ein Ritter rief Paladin an.
Der Tote steckte in einer dicken, groben Robe aus braunem Tuch. Rennard betastete sie, um sie dann loszulassen, als wäre sie eine Viper. »Er trägt nicht das Schwarz der Drachenkönigin.« Er zeigte auf zwei Ritter. »Bringt das hier ins Lager zurück. Ich will wissen, was die Zauberkundigen zu sagen haben. Die anderen: ausschwärmen. Überzeugt euch davon, daß er keine Überraschungen zurückgelassen hat. Huma, du bleibst bei mir.«
Sie sahen die anderen gehen, dann fuhr Rennard herum und blitzte Huma so zornig an, daß der bloße Anblick des sonst ungerührten Gesichts den jungen Ritter zurückweichen ließ.
»Wer war der andere?«
»Es gab keinen anderen.«
»Es gab einen.« Kälte folgte diesen Worten. »Ich weiß es. Ich sehe keinen Grund, warum du versuchen solltest, die Anwesenheit eines Zauberers zu vertuschen, außer – « Er starrte Huma direkt in die Augen. Huma erwiderte den Blick und kämpfte dagegen an. Zu seiner Überraschung war es Rennard, der zum Wegsehen gezwungen war.
Es war ein schaler Triumph. »Eindeutig. Bei so viel Anstrengung kann ich mir nur einen vorstellen, den du schützen würdest – aber was macht Magus hier draußen?«
»Ich habe nicht – « Huma fehlten die Worte. Woher wußte Rennard überhaupt von seinem Jugendfreund?
»Du bist ein Dummkopf, Huma. Ein tapferer, fähiger Ritter, aber du hast zu viel Menschlichkeit in dir, zu viel Vertrauen zu anderen. Ausgerechnet ein Zauberer. Zauberern kann man nicht trauen. Sie werden sich immer gegen dich wenden. Sie sind Verräter.«
Trotz seines Respekts vor Rennard reckte Huma sich bei dieser Beleidigung. »Magus ist nichts dergleichen. Wir sind zusammen aufgewachsen. Er würde nicht das verraten, woran er geglaubt hat.«
Rennard schüttelte betrübt den Kopf. »Du wirst erst begreifen, wenn es zu spät ist.« Dann ließ Rennard das Thema fallen, weil alles gesagt war. »Komm. Wir kehren lieber zum Lager zurück. Ich glaube, das ist etwas, wovon Fürst Oswal erfahren sollte.«
Der blasse Krieger gab Huma sein Schwert zurück. Ohne sich davon zu überzeugen, daß Huma ihm folgte, ging Rennard los. Huma lief ihm nach, wobei er sich fragte, was der andere Ritter melden würde und was Huma selbst sagen würde, wenn er genau wußte, daß einer seiner Zuhörer bereits wußte, daß er gelogen hatte.
Was würden der Kodex und der Maßstab fordern?