Unverständlich zischten debattierende Stimmen. Der benommene Ritter brauchte ein paar Augenblicke, bis ihm klar wurde, daß er es war, um den die Stimmen stritten. Er wünschte, seine Augen wurden ihm gehorchen, damit er sehen konnte, wer da so um sein Wohlergehen besorgt war.
Eine weitere, ihm irgendwie bekannte Stimme schaltete sich zornerfüllt ein. »Warum zögert ihr?«
»Er trägt das Zeichen.«
»Und weiter, Skularis?«
Die in der Frage enthaltene Beleidigung brachte den mit dem Namen Skularis zum Fauchen. »Es kann etwas nicht stimmen, wenn ein Ritter von Solamnia so ein Zeichen trägt.«
Eine weitere Stimme, die dem Quaken eines großen Ochsenfrosches glich, warf ein: »Er wollte es nicht begreifen, Nachtmeister! Der da auf dem Boden ist mehr einer von uns als er.«
Der erste Sprecher, der Nachtmeister, versuchte es wieder zu erklären: »Wir haben Agenten unter ihnen. Und zwar einflußreiche.« Der andere Sprecher quakte zustimmend. Huma bewegte sich leicht. Sie glaubten anscheinend, daß er irgendein wichtiges Zeichen trug. Alles, was er im Moment fühlte, war eine brennende Stirn.
»Mir ist bewußt, was das Zeichen bedeutet«, sagte die vertraute Stimme – wo hatte er sie nur schon gehört? »Mir ist auch bewußt, daß es ihn nicht umbringen wird, wie ich anfangs gedacht hatte. Ausgezeichnet. Er hat Informationen, die ich brauche. Sein Leben ist mir wichtig.«
»Was sollen wir dann machen? Wir können ihm nichts antun, denn einer der Unsrigen hat ihm ein Schutzzeichen verliehen.«
Der anscheinende Außenseiter knurrte, und Humas Sinne erwachten, als er den Laut erkannte. Nur Schreckenswölfe machten solche Geräusche.
Jemand mußte seine Bewegung bemerkt haben, denn eine Hand ergriff seinen Kopf und drehte ihn von links nach rechts. Sie steckte in einem vermoderten Handschuh; er stank so abscheulich, daß Huma instinktiv davor zurückzuckte. Derjenige, den er für den Nachtmeister hielt, kicherte ekelerregend.
»Er ist keiner von uns, aber einer von uns hat versucht, ihn zu beschützen. Es wird immer interessanter.«
»Was sollen wir tun?« fragte der Quaker.
»Ihr müßt ihn verstecken, ihr verfaulten Kadaver!« knurrte der Außenseiter. »Versteckt ihn, bis meine Diener mit euch Kontakt aufnehmen können! Hat die Pest nicht nur eure Körper, sondern auch euer Hirn befallen?«
Endlich waren Humas Augen bereit, sich zu öffnen, wenn auch nur für einen Spalt.
Zwei Gestalten, die großen Haufen muffiger, stinkender Kleider ähnelten, unterhielten sich im Stehen mit einem – Schreckenswolf. Niemand anders. Humas umnebelter Verstand brauchte eine Weile, bis er erkannte, daß Galan Drakos den untoten Diener von seiner weit entfernten Zitadelle aus als Auge, Ohr und Stimme in Ergod benutzte.
Daß sie immer noch irgendwo in den Ruinen waren, konnte er nur raten. Das bißchen, das er sehen konnte, bestätigte seine Vermutung, denn der Raum war voller Schutt, und ein Teil der Decke fehlte. Huma wußte weder, wie lange er bewußtlos gewesen war, noch, wie weit sie ihn geschleppt hatten.
Dann erhob der bedrohlichere der beiden zerlumpten Angreifer einen Arm und zeigte mit dem Zeigefinger seiner knochigen, vernarbten Hand auf den Boten des Abtrünnigen. »Sei auf der Hut, Zauberer. Jetzt hast du ihren Segen, doch wenn man sie enttäuscht, ist sie eine launische Herrin. Du solltest höflicher zu denen sein, die du brauchst.«
Die blasse Gestalt des Schreckenswolfes kochte vor kaum bezähmbarer Wut, als Drakos seine Gefühle durch seinen Diener fließen ließ. Der kleinere der beiden Kapuzenmänner schlurfte rückwärts, die fleckigen Hände ängstlich erhoben.
Der andere, der Nachtmeister, mußte gelächelt haben, denn sein Tonfall war voller Spott. »Deine Kräfte sind furchtbar für die Furchtsamen, aber nicht für den, der unter Morgions Schutz steht.«
Morgion! Huma war kaum fähig, den Schreck zu beherrschen, der durch seinen angespannten Körper zuckte. Er war Gefangener der Anhänger von Morgion, des Gottes der Krankheit und der Verwesung!
»Es ist reine Zeitverschwendung«, murmelte Drakos.
»Allerdings. Nun gut, Zauberer. Meine Brüder werden den da für deine Lakaien aufbewahren, aber nur weil das mit den Zielen des Meisters übereinstimmt. Nicht, weil ich deine Macht fürchte.«
»Natürlich nicht.«
»Aber das Zeichen – «, sagte der Quaker.
»Es gibt Zeiten, Bruder, wo wir alle Opfer bringen müssen um des größeren Ruhmes Morgions willen.«
»Und der Königin natürlich.«
»Und der Königin. Schade. Ich wüßte immer noch gern, was das Zeichen soll.« Skularis legte Huma die Hand auf die Stirn.
Huma bäumte sich vor Schreck auf. Es kam ihm vor, als würde etwas in seine Seele eindringen. Er krümmte sich, doch er konnte der klauenartigen Hand nicht entkommen.
Ganz plötzlich war er nicht länger in den Ruinen. Ein Kaleidoskop von Geräuschen und Bildern umgab ihn. Huma empfand keine Angst mehr. Ein Teil von ihm wußte, daß dieser Zustand nur seinen Verstand betraf, auch wenn er nicht erklären konnte, warum ihn das beruhigte. Huma vermeinte, Pferdehufe zu hören, die in die Schlacht rannten, das Scheppern von Rüstungen, Schlachtrufe, das Klirren von Stahl auf Stahl. Ihm kam eine Vision von drei Reitern. Jeder trug ein Symbol der Ritterschaft: die Krone, das Schwert und die Rose. Alle hatten ihr Visier heruntergeklappt, doch Huma wußte, daß die zwei im Hintergrund nur die Zwillingsgötter Habbakuk und Kiri-Jolit sein konnten. Zwei vom solamnischen Triumvirat – weshalb derjenige vor ihnen…
Furchtbar plötzlich wurde Huma aus der Vision gerissen und in die Wirklichkeit zurückgeholt. Wäre er nicht geknebelt gewesen, so hätte er aufgeschrien, denn die knochige, von der Krankheit gezeichnete Hand zuckte von ihm weg, wobei sie ganze Fleischstreifen mitzureißen schien. Undeutlich konnte Huma sehen, daß die beiden verhüllten Gestalten auf ihn herabstarrten.
»Ich konnte seinen Verstand nicht durchdringen. Er ist durch reine Willenskraft geschützt. Faszinierend.«
»Und das Zeichen?«
»Nicht mehr da. Es war zu schwach. Er hängt zu sehr an der Schmerzverlängerung, die die Dummen Leben nennen. Er ist keiner von uns – könnte nie zu uns gehören.«
Von hinten meldete sich wieder Drakos’ Stimme aus dem Maul des Schreckenswolfs: »Dann gibt es kein Zögern mehr.«
»Nein. Er gehört dir, sobald deine Diener eintreffen.« Der Kleriker schnippte mit den Fingern. Humas Augen konnten gerade jetzt endlich wieder sehen. Aus der Finsternis tauchten Kapuzengestalten auf, von Krankheit gezeichnete Ghule wie die Toten eines Schlachtfelds, die wiederauferstanden waren.
»Bringt ihn in die Katakomben. Bindet ihn an den Altar.«
»Kein Opfer!«
Nicht einmal Huma konnte übersehen, wie der Kleriker die Lippen hochzog. »Keine Bange, Köter. Er wird heil und lebendig bleiben. Wird interessant sein zu sehen, ob du mehr Glück hast als ich.«
Drakos hatte keine Erwiderung parat, oder zumindest übermittelte der Schreckenswolf keine Botschaft. Huma wehrte sich, doch seine Fesseln gaben nicht nach. Vier der Kapuzenwesen packten ihn grob und hoben ihn hoch. Ihr Gestank war überwältigend.
Er hatte gehofft, eine Vorstellung davon zu bekommen, wo sie sich befanden und wo sie hingingen, doch seine Sicht wurde durch den mottenzerfressenen Ärmel des einen Trägers versperrt. Er nahm an, daß sie noch immer ziemlich nah bei dem Gebäude waren, wo er mit ganzer Dummheit in die Falle getappt war. Huma wußte ein paar Dinge über die Gefolgschaft Morgions. Sie hielten ihre Vorhaben und ihre Mitgliedschaft streng geheim. Daß sie ihn in die Katakomben brachten, hieß, daß sie unter Kargod lebten, eine beängstigende Enthüllung. Kein Wunder, daß man vom Ursprung der Pest keine Spur fand. Er lag nicht in oder bei der Stadt, sondern darunter.
Ein Windstoß wehte etwas von dem Gestank davon. Huma vermutete, daß sie aus einem der Ruinenhäuser in die Nacht hinaus getreten waren. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit zu entkommen, weil er fürchtete, daß er aus den Katakomben kaum allein fliehen konnte. Aber er war gefesselt und geknebelt, und seine Lage schien hoffnungslos.
Die Gruppe war ein Stückchen von dem Gebäude entfernt, als Huma etwas hörte, was dem Heulen eines Nachtvogels glich. Die zerlumpten Gestalten kamen abrupt zum Stehen, als sie mit Verzögerung erkannten, was Huma sofort begriffen hatte.
Es zischte laut, als etwas durch die Luft geflogen kam. Einer von Humas Trägern ging mit einem Pfeil in der Brust zu Boden. Der Ritter hatte eine Sekunde Zeit, sich darauf einzustellen, daß die anderen ihn loslassen würden und er mit dem Gesicht nach oben hinfallen würde.
Dann war die Hölle los, denn gleißendes Licht nahm den Kapuzenmännern jede Möglichkeit, sich zu verstecken. Gut gezielte Pfeile streckten zwei weitere Kultanhänger nieder, bevor die anderen die Fassung zurückgewannen. Der mit dem Namen Skularis rannte aus Humas Blickfeld. Er opferte die Ehre des Befehlshabers der Sicherheit der Flucht. Es war jedoch eine kurze Flucht, denn nicht einer, sondern drei Pfeile trafen ihn in den Rücken. Der Nachtmeister wackelte wie eine verrückte Marionette und brach dann zusammen.
Gestalten in Rüstungen sprangen jetzt hervor, während das Licht schwächer wurde. Von den vermummten Schurken – es waren über ein Dutzend gewesen, wie Huma entsetzt feststellte – waren nur noch vier übrig. Sie hatten keine richtigen Waffen, und die ersten Soldaten, die sich auf sie stürzten, machten den Fehler, sich in Sicherheit zu wiegen. Dieser Fehler wurde offenkundig, als einer der finsteren Kleriker einen kleinen Beutel hervorzog und ihn auf den nächsten Soldaten schleuderte. Huma hörte den Schrei des Mannes und die entsetzten Rufe der anderen, als sich innerhalb von Sekunden an seinem Körper die verheerenden Zeichen der Pest zeigten.
Eine bekannte Gestalt kam zu ihm und bückte sich, um seine Fesseln zu lösen. »Was bin ich für ein Narr! Ich hätte es wissen müssen…«
Die Bogenschützen setzten ihre Arbeit fort. Bis Avontal Humas Fesseln gelöst hatte, lag der letzte der gefährlichen Kleriker tot da.
»Der Schreckenswolf. Habt ihr ihn erwischt?«
»Schreckenswolf?« Besorgt suchte Avontals Blick das Gebiet ab. »Ich habe ihn nicht gesehen!«
»Mein Schwert!« Humas Waffe lag halb unter einem der Kultanhänger begraben. Ohne zu überlegen, riß er es heraus. Er dachte nur an das vierbeinige Ungeheuer, das man aufhalten mußte. Auf irgendeine unwahrscheinliche Weise war die Kreatur entkommen. Huma wollte nicht, daß der Schreckenswolf ihn noch einmal aufspürte und seinem Meister Humas Aufenthaltsort und Vorhaben verriet.
Er hörte, wie Lord Avontal ihm hinterherrief, doch er achtete nicht darauf. Dieses Untier mußte vernichtet werden.
Das Getrappel rennender Füße machte ihn hellwach. Er folgte dem Geräusch so schnell wie möglich, wobei er oft nur knapp zahlreichen Löchern und Haufen ausweichen konnte, die ihm bei einem Fehltritt zum Verhängnis werden würden. Er dachte nicht an die Gefahren.
Huma sprang über die Reste einer Steinmauer. Die Schäden waren nicht direkt von der Pest verursacht; die wahnwitzigen Unruhen und das Abbrennen der verseuchten Häuser hatten das erledigt.
Er kam auf einem Schutthaufen zum Stehen. Plötzlich rutschte sein Fuß unter ihm weg, und er kippte nach hinten. Mit allergrößter Anstrengung gelang es ihm, sein Schwert festzuhalten. Der gestrauchelte Fuß war umgeknickt, und er biß vor Schmerz die Zähne zusammen.
Als er erschöpft dalag, tauchte die grauenhafte Fratze vor seinem Gesicht auf. Lange, gelbe Reißzähne schwebten über seinem Hals, und eine blutrote Zunge hechelte aus den kräftigen Kiefern. Aus den Augen leuchtete der Tod. Die Vorderläufe des Schreckenswolfes drückten fest auf Humas Brust.
»Lieber würde ich dem Zauberer seine liebste Marionette nehmen!« Die Kiefer schlossen sich um den Hals des Ritters.
Huma stieß seine Klinge fest in den Schreckenswolf. Die Klinge traf nur in die Seite, so daß der Stich wenig ernsten Schaden anrichtete, doch er warf das Biest von seiner Brust.
Der Schreckenswolf überschlug sich einmal und landete auf den Füßen. Die blutroten Augen leuchteten wild, und das Wesen fletschte haßerfüllt die Zähne. Huma erhob sein Schwert.
Plötzlich ging die Kreatur in Flammen auf. Von einem Augenblick auf den anderen stand es nicht mehr sprungbereit da, sondern wurde zum Feuerball. Huma sah verblüfft zu. Dann bemerkte er eine Gestalt, die aus den Ruinen eines einst großen Wirtshauses trat.
»Magus!«
Der Zauberer legte schnell einen Finger an die Lippen, um zu zeigen, daß sie leise sein mußten. Er war dünner und hatte viel von seiner Pracht eingebüßt. Der einst strahlendgoldene Glanz seiner Haare war einem armseligen Braun gewichen, und sie waren auch viel kürzer. Waren sie verbrannt? Magus trug auch etwas, worin Huma ihn seit den Anfangstagen seiner Ausbildung nicht mehr gesehen hatte – die karmesinrote Robe.
»Komm! Ich habe einen Verwirrungszauber über Fürst Avontals Leute gelegt, trotzdem werden sie bald heraushaben, welchen Weg du wirklich genommen hast!«
»Aber – « Huma wußte, daß es Wahnsinn war, seinem alten Freund wieder zu folgen, doch die einst so fest geschmiedeten Bande waren heute noch genauso stark.
»Komm!« wiederholte Magus drängend.
Huma folgte ihm.
Sie rannten mit erstaunlicher Geschwindigkeit durch die Stadt und kamen irgendwann auf der gegenüberliegenden Seite an den Südrand. Dort warteten zwei Pferde. Magus bedeutete dem Ritter, daß das stärkere für ihn war. Erst als sie längst losgeritten waren, redete Magus.
»Wir müssen eine Weile schnell reiten. Es gibt einen solamnischen Außenposten, an dem wir vorbei müssen.«
»Außenposten?« Da Huma die Gegend südlich von Solamnia wenig vertraut war, war diese Nachricht ein Schock für ihn. Ritter von Solamnia! In Ergod!
»Warst du das, der das Licht gezaubert hat?«
»Ja«, antwortete Magus. »Ich erkläre es dir morgen früh, wenn ich sicher bin, daß wir den Verfolgungstrupp abgeschüttelt haben, den der Ergodianer zweifellos inzwischen losgeschickt hat!«
Huma bremste sein Pferd ab. »Warum rennen wir vor Fürst Avontal davon?«
Die Augen des Zauberers blitzten. »Bist du blind? Glaubst du etwa, der Ergodianer hilft dir aus Herzensgüte?«
Huma zwang sich, nicht zurückzufauchen: Ja, ihm war der Mann vertrauenswürdig erschienen. Was war daran falsch?
»Du hast ihm erzählt, daß es etwas in den Bergen gibt, nicht wahr? Du hast ihm von dem Pfad erzählt!«
»Du spinnst, Magus. Ich weiß nichts von irgendeinem Pfad.«
Magus verzog das Gesicht, und Huma merkte, daß der Zauberer sich verplappert hatte. Der Magier riß sich jedoch zusammen und sagte: »Du hast ihm gesagt, daß in den Bergen im Südwesten etwas ist, das den Sieg über Takhisis bringen könnte. Er ist zuallererst mal ein Edelmann aus Ergod, Huma. Der ergodianische Adel ist für seine Bereitschaft bekannt, alles zu tun, was dem Zuwachs an Prestige und Macht dient. Überleg doch, was du ihm erzählt hast. Was für ein Schatz für ihn, wenn er das seinem Kaiser bringen könnte! Überleg doch, wie der Kaiser den Mann belohnen würde, dem es gelänge, Ansalon nach so langer Zeit den Frieden zu bringen. Ein ergodianischer Edelmann würde für etwas so Wertvolles wie das, was wir suchen, töten.«
Die Worte – oder vielleicht war es der Tonfall – wirkten wie hypnotisierend. Huma sagte sich immer wieder, daß Fürst Avontal ein guter Mann war. Aber würde seine Loyalität nicht eher seinem Kaiser gelten als einem umherziehenden Ritter? Er hatte Huma sicheres Geleit versprochen, aber nur wenn der Ritter erst mit ihm reisen würde. Huma schüttelte den Wahnsinn aus seinem Kopf. Er war sich nicht mehr darüber im klaren, was richtig oder falsch war. Er wollte nur noch diesen Berg finden, zu dem er gerade unterwegs war. Es schien unsinnig zu sein, jetzt wieder umzukehren.
Das bittere Lächeln, das über das abgekämpfte Gesicht des Magiers glitt, entging ihm.
Unter Magus’ Führung folgten sie einer verzwickten Route durch die Ebenen und Wälder südwestlich von Kargod.
Kurz vor der Morgendämmerung machten die beiden ernstlich halt. Magus entdeckte einen kleinen, weitgehend versteckt liegenden See, wo sie ihre Pferde zum Weiden anbanden. Der Zauberer legte sich kurz darauf schlafen, wiederum, ohne etwas zu erklären. Huma lehnte sich gegen einen Baum und starrte auf den stillen See hinaus. Er grübelte über den abtrünnigen Zauberer, der Huma jetzt genauso verfolgte wie Magus. Drakos.
Der Schreckenswolf war nur noch ein Aschehäufchen, so daß Galan Drakos zumindest gegenwärtig keinen Spion besaß und Huma und Magus gegenüber blind war. Da der Krieg ihn so sehr in Anspruch nahm, war der abtrünnige Zauberkundige gezwungen gewesen, sich allzusehr auf seine Spione zu verlassen. Huma vermutete, daß Drakos mindestens so viel über die Sache wußte, hinter der Magus her war, wie er selbst, vielleicht sogar mehr. Irgendwo, irgendwann würde es andere Spione geben – und Huma zweifelte nicht daran, daß Galan Drakos sich früher oder später von seinen sonstigen Aufgaben abwenden würde, um sowohl seinen Feinden als auch ihrer Mission persönlich ein Ende zu bereiten.
Huma nahm einen kleinen Kieselstein und warf ihn in die Mitte des Sees – nur um Zeuge zu werden, wie er zu ihm zurückgeflogen kam. Huma versuchte aufzustehen, doch seine Beine versagten. Wo war er diesmal reingeraten, fragte er sich verärgert.
Unerwartet tauchte ein Frauenkopf am Rande des Sees auf. Obwohl sie etwas grünlich war, war sie sehr hübsch. Die Augen waren schmale Schlitze, als wäre die Frau gerade erst aufgewacht. Sie hatte eine kleine Stupsnase und große, volle Lippen. Als sie aus dem Wasser stieg, sah Huma, daß sie schlank und langbeinig war, obwohl sie so klein war, daß sie ihm nicht einmal bis zu den Schultern reichte. Ihr einziges Kleidungsstück, ein dünner Umhang, klebte klatschnaß an ihr und betonte jede Rundung ihres Körpers. Eine Nymphe. Er hatte Geschichten über diese Wesen gehört. Sie stammten angeblich aus dem Zeitalter der Träume, aus dem es keine schriftlichen Überlieferungen gab. Ob sie eine eigene Rasse darstellten, war umstritten. Man bekam sie nur sehr selten zu Gesicht.
»Hallo, Menschlein.« Ihre Stimme war melodiös wie die eines kleinen Waldvogels. Sie lächelte, und Huma wurde rot. Doch trotz ihrer Schönheit drängte sich ein anderes weibliches Wesen, Gwyneth, in seine Gedanken. Es gelang ihm aufzustehen.
»Hallo.« Er brauchte etwas Zeit, um den Mut zu einer Erwiderung aufzubringen. Die Nymphe beunruhigte ihn ebensosehr, wie sie ihn anzog. Diese Wesen waren der Legende nach nicht nur verspielt, sondern auch tödlich. Viele Männer waren schon in den Untergang gelockt worden, wenn man den alten Erzählungen Glauben schenken wollte. Humas Hand strich über seinen Schwertknauf. Ihr Volk war magisch, und trotz seiner Freundschaft zu Magus teilte Huma in gewisser Hinsicht das Mißtrauen der Ritterschaft gegen Zauberei.
Huma sah neben sich herunter und stellte überrascht fest, daß Magus immer noch schlief. Huma hatte den Verdacht, daß sein Schlaf nicht länger natürlich war, und erschauerte.
Die Nymphe stieß ein überraschtes Lachen aus. »Ich dachte, du wärst jemand anders«, sagte sie. »Du gefällst mir aber auch.«
»Oh?« Er gab sich größte Mühe, beiläufig zu klingen, obwohl sein Herz und seine Gedanken sich überschlugen.
»Warum hast du mich für jemand anderen gehalten?« Wenn andere den See besuchten, wollte Huma nicht lange hierbleiben. Falls sie der Nymphe ähnelten, würde Huma wohl keine Chance haben, wenn es zu einer Auseinandersetzung käme. Seine Hand umfaßte unwillkürlich den Griff seiner Waffe.
»Du siehst aus wie Buoron. Das ganze Metall. Er kommt mich immer besuchen. Möchtest du mein Haus sehen?«
Huma wich nervös zurück. Ihr Zuhause lag wahrscheinlich am Grunde des Sees. Wenn sie beschloß… »Nein, danke«, antwortete er eilig. »Ich möchte mich nicht aufdrängen.«
Sie schmollte. »Du redest sogar wie Buoron.«
»Hast du ihn erwartet?« Huma musterte rasch das Seeufer, wobei er praktisch damit rechnete, jeden Moment eine schwerbewaffnete Gestalt durch die Büsche brechen zu sehen.
Die Nymphe ging am Ufer entlang. Huma kümmerte sich um Magus, doch der schlief immer noch.
»Er wird nicht aufwachen, bevor ich es zulasse. Ich mag ihn nicht.«
Der Ritter runzelte die Stirn. »Du kennst auch ihn?«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung auf den Zauberer. »Nicht ihn. Sein Bild.«
»Woher?« Huma wurde aus dem Geschöpf nicht schlau. Sie wirkte zerbrechlich, doch ihre Macht war stark genug, Magus problemlos in die Falle zu locken. Vielleicht wäre das nicht möglich gewesen, wenn dieser nicht so erschöpft gewesen wäre, aber es zeugte dennoch von beachtlichen Fähigkeiten.
»Ich sehe es in meinem Spiegel. Er zeigt mir, was andere träumen. Es ist so langweilig hier draußen. Ich vermisse die Höhlenbauer.«
»Höhlenbauer?«
»Die, die in der Erde graben, du Dummerjan. Du weißt schon, komische kleine Männer.«
Zwerge. Man konnte verrückt werden, wenn man versuchte, alles zu begreifen, was die Nymphe sagte.
Sie stand jetzt dicht neben ihm, wobei sie ganz unschuldig gerade nah genug kam, um ihn zu verunsichern. »Bist du sicher, daß du mein Haus nicht sehen willst? Ich werde dich nicht ertrinken lassen, solange du nicht langweilig wirst.«
Das war die eigentliche Falle. Wie viele Männer waren dieser Schönheit erlegen und ihr in die Tiefe gefolgt, um dann in einer Seehöhle gefangen zu sitzen? Instinktiv murmelte er ein Gebet zu Paladin.
Die Nymphe ging beiseite. »Ich wünschte, du würdest das lassen!«
Auch wenn sie nicht eigentlich böse war, war sie kein Geschöpf Paladins oder Gileans. Deshalb konnten echte Gebete zu einem der beiden sie ärgern oder sogar vertreiben.
Huma wollte sich gerade entschuldigen, als er ganz in der Nähe ein schweres Pferd durch die Büsche stapfen hörte. Er versuchte, sich zu erheben und sein Schwert zu nehmen.
»Ach, da kommt Buoron. Ich hoffe, ihr beide kämpft miteinander. Ich habe jahrhundertelang keinen guten Kampf mehr gesehen.«
Pferd und Reiter durchbrachen das Blattwerk und standen auf dem schmalen Uferstreifen, der den kleinen See umgab. Der Körper des Mannes war größtenteils von seinem Mantel verhüllt, doch Huma konnte darunter eine Rüstung schimmern sehen. Zuerst bemerkte der Neuankömmling sie nicht. Als er es dann doch tat, starrte er Huma mit offenem Mund an. Der Mantel glitt auseinander, so daß Huma den ersten richtigen Blick auf die Rüstung werfen konnte. Huma schaute von der Rüstung in das Gesicht und wieder zur Rüstung. Magus’ Bemerkung von einem Außenposten irgendwo im südlichen Ergod fiel ihm ein. Einem solamnischen Außenposten.
Die Nymphe lächelte bezaubernd. »Siehst du, warum ich dich mit Buoron verwechselt habe? Ihr tragt sogar die gleiche Rüstung.«
Das stimmte. Buoron war ein Ritter der Krone.