5

Hatte die Verwüstung von oben schon schrecklich ausgesehen, so erwies sie sich auf den zweiten Blick als noch schlimmer. Jetzt konnte Huma sehen, mit welcher Gründlichkeit der Tod durch diese Region gefegt war. Kyre, eine einstmals von Menschen überquellende Stadt an der Grenze zu Ergod, existierte nicht mehr. Die Felder waren verbrannt. Die Leichen lagen wie kaputte Spielzeuge herum. Die meisten Gebäude waren bloß noch Ruinen, wenn überhaupt. Als die Patrouille um die Ostmauern der Stadt – oder die Überreste davon – ritt, schlug ihnen Verwesungsgeruch entgegen. Huma betete darum, nicht die Beherrschung zu verlieren, und es befriedigte ihn nicht, daß auch mehreren anderen Rittern übel wurde. Rennard ritt scheinbar ungerührt weiter.

Am Ende des Tages waren Pferde und Rüstungen völlig verdreckt. Als ihnen klar wurde, daß sie die Hauptstreitmacht erst Stunden später erreichen würden, und weil sie die unsicheren Wege vor sich kannten, ließ Rennard an einer Stelle aus festgestampfter Erde, die einst als Landstraße gedient hatte, haltmachen. Hinter ihnen konnten sie Rauchkringel sehen, die von Kyre aufstiegen. Die Feuer waren schon lange erloschen, doch der Rauch weigerte sich zu sterben, als wolle er die Ritter an ihr Versagen erinnern.

Die Nacht verlief ohne Zwischenfall. Kaz versuchte zu seinem Eid zu stehen, indem er die ganze Nacht über den jungen Ritter wachte, bis sowohl Rennard als auch Huma darauf bestanden, daß der erschöpfte Minotaurus selbst eine Runde schlief.

Beim ersten Tageslicht ritten sie weiter, Huma und Kaz wieder neben dem Anführer der Patrouille. Huma versuchte, Rennard in ein Gespräch zu ziehen, doch der andere Ritter war so schweigsam wie immer. Er würde sprechen, wenn er es für nötig hielt, sonst nicht.

Gegen Mittag näherten sie sich dem äußeren Rand der Südflanke. Die Schlacht war zu einem Nebeneinander von kleinen Scharmützeln abgeebbt, weil beide Seiten die andere auf ihre Schwächen testete. Die Patrouille hatte Glück gehabt. Wären sie zu einer anderen Tageszeit eingetroffen, so wären die Ritter vielleicht in einen solchen Kampf hineingeritten.

Das Lager der Südflanke war südöstlich der Ruinen der Stadt gelegen. Rennard zügelte sein Pferd. Vor der Patrouille lag ein großes Zelt, das von Rittern des Schwerts umstellt war. Der blasse Ritter stieg nicht ab. Statt dessen rief er den Hauptmann der Wache zu sich. Beim Anblick von Rennard erblaßte der Betreffende und salutierte.

Das totengleiche Gesicht starrte auf ihn herab. »Wer hat hier das Kommando?«

»Fürst Kilian. Du wirst ihn jedoch nicht hier antreffen. Er ist zu den Männern gegangen, um ihnen Mut zu machen.« Der wachhabende Offizier klang, als hätte er wenig Vertrauen in diesen Versuch.

Rennard nickte. »Vielleicht kannst du uns helfen. Wo finden wir Fürst Oswals Hauptquartier? Als meine Patrouille aufbrach, war es hier in der Nähe.«

Unter Rennards kaltem Blick informierte ihn die Wache, daß der Generalstab einen vollen Tagesmarsch weitergezogen war, diesmal nach Nordosten. Der immer sardonische Kaz brummelte etwas davon, seinen eigenen Schwanz zu jagen, doch ein strenger Blick von Huma brachte ihn zum Schweigen. Unverzüglich brach die Gruppe wieder auf.

Die Gegend im Nordosten hatte erheblich weniger gelitten als das hinter ihnen liegende Land. Schon eine Stunde nach Aufbruch kamen die ersten lebenden Bäume in Sicht. Während die Minuten verstrichen, belebten mehr und mehr Bäume die Landschaft. Die meisten waren kurz und stämmig, doch es waren Bäume! Die Stimmung heiterte sich ein wenig auf.

Nicht ein einziges Mal während ihres Ritts verloren sie die beiden ungeheuren Armeen aus den Augen, die zwischen den Bäumen und Hügeln ihre Stellungen wechselten. Im Norden lagen die Bergketten, welche die Grenze zwischen Solamnia und dem alten Ergod markierten. Zu ihnen gehörten diverse, bis zu den Wolken ragende Gipfel, in denen ein großes Volk furchtbarer Oger zu Hause war. Wer sich in diese Bergregionen wagte, riskierte Leib und Leben.

Humas Gedanken schweiften ab. Was würde Fürst Oswal sagen, wenn Huma ihm gegenübertrat? Es hatte schon immer Reibereien zwischen dem Obersten Kommandanten und dem Großmeister gegeben, und Fürst Trake war von der Entscheidung seines Bruders, den jungen Huma zu protegieren, nicht besonders begeistert gewesen. Eine solche Entscheidung konnte sich katastrophal für Fürst Oswal auswirken. In seiner Stellung würde er viel an Einfluß und Macht verlieren, wenn Huma als Ritter versagte. Ohne Frage war die Ritterschaft, die sich so mit ihrem Einsatz für das Gute brüstete, auch eine politische Organisation. Nicht daß Huma das etwas ausmachte. Er fragte sich eher, was aus dem Heer werden würde, wenn ein anderer als der Oberste Kommandant sie lenkte. Fürst Oswal war der genialste General der Ritterschaft.

Rennard rief ihm etwas zu und zeigte nach Westen. Alle Augen folgten seinem Zeichen. Der wolkenverhangene Himmel wurde innerhalb von Sekunden pechschwarz. Die Ritter sahen die Finsternis herannahen wie einen Schwarm Heuschrecken, der in ein Weizenfeld einfällt, und ihnen war klar, was sich da abspielte: Hexerei der übelsten Sorte. Die Untertanen der Königin waren wieder einmal am Werk und versuchten, die Verteidigungslinien zu durchbrechen.

Rennard zügelte sein Pferd. Durch das geschlossene Visier musterte er die anderen. Er starrte Huma und Kaz an. »Wird der Minotaurus für uns kämpfen, wenn du ihn darum fragst, Huma?«

Kaz schnaubte laut. »Frag mich selbst, du Ghul!«

Der bleiche Ritter ließ die Beleidigung an sich vorbeistreichen wie den scharfen Wind, der ihm ins Gesicht blies. »Wirst du für uns kämpfen?«

Huma fühlte, wie Rennards Augen sich in die seinen bohrten. »Es ist deine Entscheidung, Kaz.«

Über das Stiergesicht glitt ein wildes, zähnefletschendes Grinsen. »Dann kämpfe ich, und zwar gerne, weil es mir Gelegenheit gibt, meine Muskeln zu bewegen. Außerdem gelte ich bei meinen Leuten als Ausgestoßener, seit ich mich entschieden habe, den Oger zu zerquetschen und davonzulaufen. Sie werden mich sofort töten, wenn sie mich kriegen. Bei euch habe ich wenigstens noch die Chance zu beweisen, daß meine Ehre etwas wert ist.«

»Dann wollen wir unseren Brüdern zur Seite stehen.« Mit diesen Worten spornte Rennard sein Pferd an. Jemand brüllte einen Schlachtruf. Huma biß die Zähne in der Hoffnung zusammen, daß man seine Grimasse als wilde Entschlossenheit deuten würde und nicht als Versuch, die Gefühle zu ersticken, die seinen Körper zu zerreißen drohten.

Die Finsternis kroch heran, als wollte sie die Ritter erdrücken.


Sie hätten ebensogut mitten in einer mondlosen Nacht kämpfen können. Die Rufe der Verwundeten und Sterbenden und die blutrünstigen Schreie der Krieger beider Seiten gellten über das Schlachtfeld. Riesige, dunkle Silhouetten fegten durch die Luft. Manchmal trafen sie die Gestalten am Boden, doch selten mit voller Kraft. Der Drachenterror war noch nicht entfesselt. Am Boden herrschte ein zu großes Chaos; zu leicht hätten die Drachen ihre eigenen Verbündeten verschlingen können.

Gleißende Blitze der Macht warfen ihren Schein auf einen Teil des Gemetzels. Die weißen und roten Zauberkundigen maßen sich mit den schwarzen. Die Sorge, zuviel ihrer Weisheit zu verraten, verhinderte den Sieg der Roten und Weißen Roben, Leichtsinn den der Schwarzen Roben. Dennoch hatte der Kampf der Magier Auswirkungen. Die Dunkelheit, die so rasch aufgekommen war, schritt nicht weiter voran, sondern zog sich sogar ein wenig zurück. Die Schwarzen Roben konnten nicht gleichzeitig ihre Kollegen attackieren und die Stärke der tödlichen Wolke aufrechterhalten.

Plötzlich war der Himmel mit mehr Drachen gefüllt, als irgend jemand sich hätte vorstellen können. Langsam und geräuschlos hatten sie sich gesammelt. Als die Finsternis wich, brachen sie aus der Wolkendecke. Zahlenmäßig waren sie denen, die für die Ritter kämpften, weit überlegen. Rote, schwarze, grüne, blaue – der Himmel bot eine große Auswahl an Farben.

Obwohl sie in der Minderheit waren, warfen sich die Drachen des Lichts ihnen entgegen. Doch sie waren nicht genug. Den Kindern der Drachenkönigin gelang es rasch, die Reihen der Ritter zu dezimieren. Ihr eigentliches Ziel lag allerdings jenseits davon. Sie überfluteten die Hügel, wodurch sie die Oger und andere erdgebundene Verbündete beschützten, die genau jetzt in größeren Mengen aus den Bergen herabströmten.

Die bereits von allen Seiten von viel zu vielen Gegnern bedrängten Ritter sahen erleichtert die neue Gruppe kommen. Mit erhobenen Schwertern und angelegten Lanzen nahm Rennards Gruppe Sturmstellung ein. Die über ihnen tobenden Drachen ließen sie kalt. Die Reihen würden standhalten.

Huma war unter denen ohne Lanze, doch er wußte, daß sein Schwert schon rechtzeitig einen Gegner finden würde. Die Oger waren wild darauf, das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden, und drängten vor. Die erste Welle hatte genau in dem Moment zugeschlagen, als Huma und seine Gefährten den Kampfplatz erreichten. Der Hügel verlangsamte die Streitrösser. Huma sah einen Mann zu Boden gehen, weil sein Pferd stolperte. Mehrere andere strauchelten. Dann waren sie mitten im Zentrum des Ogeransturms.

Überall um ihn herum blitzte Metall auf, und alles schrie aus vollem Halse. Huma wehrte verzweifelt jede Waffe ab, die sich gegen ihn richtete, und streckte einige Oger nieder, ohne es wirklich wahrzunehmen. Ein breites, flaches Ogergesicht glotzte ihn an; es war behaart und grausig, mit scharfen Zähnen wie denen des Minotaurus und rotgeränderten Augen. Der Atem des Ogers stank. Huma versetzte dem Angreifer einen harten Tritt.

Wildes Gelächter gellte in Humas Ohren. Zwischen den Kämpfenden schwang Kaz, der Hüne, seine Axt wie ein Rachegott des Chaos und des Todes. Jeder Hieb fand ein Opfer. Blutgier verzerrte das Gesicht der riesenhaften Kreatur. Dann verlor Huma Kaz aus den Augen, weil weitere Oger dem jungen Ritter ans Leben wollten.

Eine Axt traf Humas Bein. Nur sein eigener Hieb bewahrte ihn vor dem Verlust seiner Gliedmaßen, der hatte zuerst und endgültig getroffen. Der Gegner war bereits tot gewesen, während er noch zurückgeschlagen hatte. Der Schock brachte Huma jedoch kurzfristig ins Taumeln. Fast hätte er sein Schwert fallen lassen und wäre an Ort und Stelle niedergemetzelt worden, wenn Rennard nicht gewesen wäre. Der große Ritter mähte sich in gleichmäßigem Tempo seinen Weg durch den Feind. Die Oger versuchten, dieser Kampfmaschine auszuweichen, doch Rennard verfolgte sie. Huma starrte ihm nur noch nach. In diesem Moment schien es kaum einen Unterschied zwischen dem Ritter und dem Minotaurus zu geben.

Selbst so reichte der Einsatz nicht aus, und es sah so aus, als würden die Ritter in die Flucht geschlagen. Dann schlossen sich weitere riesige Gestalten dem Kampf an – diesmal für die solamnische Seite. Verstärkung war eingetroffen. Humas Begeisterung währte allerdings nur kurz. Ein neuer Oger stürzte sich auf ihn.

So unvermittelt, wie sie aufgezogen war, verschwand die höllische Finsternis. Der Widerstand der Zauberkundigen der Königin ließ nach. Die Ritter warfen sich mit neuer Hoffnung nach vorn. Huma sah den Boden aufplatzen und erschauerte innerlich, als zahllose feindliche Krieger hoch in die Luft geworfen wurden, um Sekunden später herunterzukrachen.

»Huma!« Die Stimme gehörte Rennard und schien ihn warnen zu wollen. Huma drehte sich zu der Stimme um, als plötzlich ein Schatten vor ihm emporwuchs. Jemand rang mit ihm. Es gelang Huma, seine Klinge zwischen sich und den Gegner zu schieben und sie dem anderen in den Hals zu stoßen.

In der Dunkelheit wendete Huma sein Pferd, um seine Kameraden nach Gehör zu suchen. Das wurde ihm zum Verhängnis, denn etwas Schweres kam durch die Nacht geflogen und traf ihn hart an der Rückseite des Helms.

Er sackte nach vorn und rutschte vom Pferd.


Huma hatte nicht gewußt, daß die Todesbotin so schön und so liebevoll sein würde. Sie griff nach vorn und tupfte den Schweiß von seiner Stirn. Dann hob sie seinen Kopf etwas an, damit er einen Schluck Wasser trinken konnte.

Das Wasser brachte ihn wieder zur Besinnung, so daß er erkannte, daß er nicht tot war. Das Gesicht über ihm war nicht der Tod, sondern gehörte einer schönen, jungen Frau mit weißen – nein, silbernen – Haaren. Ihr Haar faszinierte ihn so sehr, daß er die Hand heben wollte, um es zu berühren. Zu seiner Überraschung genügte der Schmerz dieser einfachen Bewegung, damit er wieder sein Bewußtsein verlor.»Wachst du überhaupt noch mal auf?«

Die knurrige, aber besorgte Stimme durchbrach Humas Dämmern. Seine Augen öffneten sich blinzelnd, dann verschlossen sie sich wieder fest vor dem Licht.

»Das bißchen Licht dürfte dich nicht umbringen, nachdem Oger und Drachen das nicht geschafft haben.«

Huma wagte einen neuerlichen Versuch, diesmal langsamer. Ein winziges bißchen Licht sickerte durch seine Augenlider.

Er öffnete die Augen ein wenig mehr und begann, um sich herum Formen wahrzunehmen. Die wichtigste davon war das häßliche Gesicht des Minotaurus.

»Kaz?« Seine Stimme erschreckte ihn; es war kaum ein Krächzen.

»Gut geraten.«

Huma betrachtete seine Umgebung. Er befand sich in einem Zelt, das für Verwundete reserviert war. Die meisten anderen Feldbetten waren leer, und auf den paar besetzten lagen fest schlafende Gestalten – vielleicht nicht einmal mehr schlafend. Er erschauerte. Das brachte den Schmerz zurück.

»Was ist mit mir passiert?«

Das Tiergesicht brachte ein beinahe menschliches Grinsen zustande. Kaz gab ein tiefes Lachen von sich. »Was ist dir nicht passiert? Zuerst hast du genau in die stumpfe Seite einer Axt gesehen – keine Sorge, sie hat nur die eine Seite deines Kopfes gestreift. Du bist ausgerutscht, gestürzt und hast dich um ein Haar zu Tode trampeln lassen. Die gute Nachricht ist, daß du die ganze Zeit bewußtlos warst. Es ist ein Wunder, daß deine Knochen alle heil sind, Freund Huma. Blaue Flecken hast du allerdings genug.«

»Mir tut alles weh.«

»Das sollte es auch. Sag mal, bist du immer so unvorsichtig?«

Huma lächelte, doch das Lächeln erwies sich – wie alles andere – als schmerzhaft.

»Ist er wach?«

Schnell drehte er den Kopf der sanften Stimme zu, wobei er allen Schmerz vergaß, und erblickte die Vision aus seinen Träumen. Das silberne Haar floß von ihrem Kopf. Sie trug ein ähnliches Gewand wie die Heiler der Mishakal, doch ihren zarten, elfenbeinfarbenen Hals zierte kein Medaillon. Das Gewand verbarg ihre weiblichen Formen kaum, und Huma zwang sich zum Wegsehen, bevor es ihm peinlich wurde.

»Wach, lebendig und anscheinend mit weniger Schmerzen, als er dachte.« Der Minotaurus stand auf. »Ich überlasse dich den Händen dieser Heilerin, Huma. Während du dich ausgeruht hast, hat man mir die Aufgabe übertragen, die Strategien meiner einstigen Herren so gut wie möglich zu durchschauen.«

»Sie lassen dich im Lager frei herumlaufen?« Wenn das stimmte, war es eine erstaunliche Geste seitens der Ritter.

Kaz schnaubte verächtlich. »Nur solange ich von zwei bewaffneten Aufpassern begleitet bin. Sie haben es mir abgeschlagen, dich privat zu besuchen.«

»Du tust uns unrecht, Kaz.«

Der Tiermensch schüttelte seinen furchterregenden Kopf. »Nein. Vielleicht tu’ ich dir und ein paar anderen unrecht, aber nicht der Ritterschaft.«

Kaz marschierte ohne weiteren Kommentar hinaus. Huma sah ihm nach. Die beleidigenden Worte hatten ihn getroffen. Verdiente die Ritterschaft wirklich solche Verachtung?

»Du pflegst interessante Gesellschaft.«

Huma wendete seine Aufmerksamkeit wieder der Frau zu. »Was?«

Sie lächelte, und dieses Lächeln überwältigte ihn. Ihre Lippen waren voll und rot, und darüber saßen eine kecke Nase und zwei mandelförmige Augen. Die Farbe ihrer Augen war wie das Sonnenlicht, das Gegenstück zu ihrer glänzenden Mähne. Insgesamt sah sie nicht richtig menschlich aus, und Huma vermutete, daß viel von ihrer Schönheit von elfischen Vorfahren stammte.

»Wenn du dann fertig bist…«, sagte sie, offensichtlich amüsiert.

Er merkte, daß er sie völlig hingerissen angegafft hatte. Sein Gesicht lief rot an, und Huma begann, intensiv die Decke zu mustern.

»Ich bitte um Vergebung. Ich wollte Euch nicht beleidigen, meine Dame«, sagte er, wobei er noch röter wurde, weil er ins Stottern geriet.

Ihre Mundwinkel zogen sich noch weiter auseinander. »Ich habe nie behauptet, daß ich beleidigt wäre.« Sie nahm ein feuchtes Tuch aus einer Schale neben ihm und begann, ihm den Kopf abzuwischen. »Ich bin außerdem keine ›Dame‹. Gwyneth reicht völlig. So heiße ich nämlich.«

Er wagte es, ihr Lächeln zu erwidern. »Mein Name ist Huma.«

Sie nickte. »Ja, ich weiß. Der Minotaurus und der Ritter, der dich gebracht hat, haben deinen Namen beide mehrmals gesagt. Ich habe vorher noch nie einen Minotaurus gesehen.«

»Kaz ist ein Freund.« Huma beschloß, es dabei zu belassen. Er hatte nicht genug Kraft für weitere Erklärungen. Ihm kam ein Gedanke. »Du sagtest, ein Ritter. Weißt du, welcher?«

»Wie könnte ich das vergessen.« Ein Schauer durchrann Gwyneth. »Er war wie die Gestalt und Stimme eines Toten. Ich habe aber auch eine Art Trauer in ihm gespürt.«

Huma hatte nie gehört, daß man Rennard auf diese Weise beschrieben hatte, doch er wußte, daß der blasse Ritter ihn irgendwie vom Schlachtfeld hierher gebracht hatte.

»Geht es dir besser?«

Der Schmerz schien jetzt nachgelassen zu haben. »Ja. Habe ich dieses Wunder dir zu verdanken?«

Sie wurde rot. »Nein, ich helfe den Heilern nur.«

Huma versuchte, sich aufzurichten, gab aber auf, weil er noch zu schwach war. Er verzog das Gesicht vor Schmerzen. Gwyneth sah ihn an, wie man ein unartiges Kind ansieht.

»Versuch das nicht noch mal.«

»Das könnte ich wohl auch nicht. Hat mich kein Kleriker geheilt?«

»Es gibt nur wenig hier im Lager. Du wirst mit dem bißchen Hilfe zufrieden sein müssen, die sie dir geben konnten. Selbst Heiler haben ihre Grenzen.« Obwohl sie noch immer lächelte, verriet Gwyneths Tonfall, daß sie fand, daß die Kleriker sich verausgabten.

»Wo sind wir?«

»In den westlichen Wäldern von Solamnia. Du warst einen ganzen Tagesritt lang bewußtlos. Wir sind ungefähr so weit von der Front entfernt.«

»Haben wir gesiegt?« Huma konnte nicht glauben, daß die Reihen gehalten hatten.

»Keiner hat gesiegt. Es war so wie immer. Ohne deine Gruppe wären die Oger vielleicht durchgebrochen. Zum Glück haben sie es wieder nicht geschafft.« Sie hielt gedankenverloren inne und wechselte dann das Thema. »Genug von dem Geschwätz über den Krieg. Möchtest du etwas essen? Du hast mindestens zwei Tage lang nichts zu dir genommen.«

Huma nickte. Allerdings war er schwer enttäuscht, als Gwyneth eine kreideweiße Pampe zu rühren begann. Dann schaute sie auf, sah seinen Gesichtsausdruck und lächelte aufmunternd. Sie hob den Löffel aus der Schüssel und lehnte sich vor, um Huma damit zu füttern. Er funkelte das Zeug an.

»Es ist nicht so schlecht, wie es aussieht, Huma. Probier mal.« Obwohl er sich wie ein Kind vorkam, öffnete er vorsichtig den Mund. Es stimmte, stellte er fest; der Brei schmeckte besser, als er befürchtet hatte. Er zwang sich, weiter zu essen, eher, um in ihren Augen nicht als Idiot dazustehen, denn aus Hunger. Als der letzte Rest verschwunden war, war Huma ziemlich erleichtert.

Auch Gwyneth wirkte erleichtert, als sie die Schüssel wegstellte. »Es tut mir leid, daß ich dich allein lassen muß, aber ich habe noch andere Pflichten. Ich werde von Zeit zu Zeit nach dir sehen, das verspreche ich.«

Er streckte ihr die Hand hin. »Danke nochmals.«

Sie zögerte, und Huma ließ betreten die Hand fallen. Weitere Verlegenheiten blieben ihnen erspart, weil Rennard im Zelteingang auftauchte. Gwyneth sammelte ihre Sachen zusammen und huschte aus dem Zelt. Humas Augen folgten ihr, dann richteten sie sich auf den Ritter.

»Der Minotaurus sagte, du seist wach und hättest dich erholt. Ich war froh, das zu hören.« Rennards unbewegte Stimme klang, als würde er eine Proviantliste vorlesen, doch Huma glaubte seinen Worten. Wie Gwyneth wußte er, daß hinter Rennards ewiger Maske der Gleichgültigkeit noch etwas anderes steckte.

Rennards Visier war hochgeklappt. Huma hatte jetzt keine Schwierigkeiten, in das Gesicht zu sehen, von dem sich so viele abwandten. Rennards Anwesenheit hier war bemerkenswert. Nur wenige andere Ritter machten sich genug aus Huma, um ihn zu besuchen.

Rennard kniete neben ihm. »Du darfst nicht unaufmerksam sein, Huma. Das ist dein einziger Fehler.«

»Das, und eins auf den Kopf zu bekommen.«

Die dünnen Lippen schürzten sich einen Moment zu einem leichten Lächeln. »Ja. Auch da mußt du einen Riegel vorschieben. Könnte unangenehm werden.«

Hätte er es nicht besser gewußt, dann hätte Huma die Feststellung ernst genommen. »Was ist los? Gwyneth – «

»Die junge Frau?«

Huma wurde rot. »Ja – sie sagte, daß wir wieder ein Patt haben.«

Rennard seufzte und setzte seinen Helm ab. Dadurch kam sein eisfarbenes Haar zum Vorschein, das ihm am Kopf klebte. Rennard war einer der wenigen Ritter, die einen langen, dicken Schnurrbart nicht schätzten, sondern lieber glattrasiert gingen. Er war auch einer der wenigen, die ihr Haar kurz geschnitten trugen. Niemand stellte diese Entscheidungen in Frage; Rennard war Rennard.

»Im Moment sieht es so aus. Bennett behauptet, das sei ein Zeichen für unseren Sieg. Er wiederholt immer wieder, daß der große Ansturm von Krynus zusammengebrochen ist. Seit deinem Kampf mit ihm ist Krynus nicht mehr gesehen worden. Bennett hat sich sogar dazu verstiegen, dich auf seine Weise zu rühmen.«

»Mich zu rühmen?«

»Ich zitiere: Teilweise dank des erstaunlichen Glücks von dem da ist der Kriegsherr Krynus vielleicht tot oder zumindest außer Gefecht gesetzt.«

Huma drehte sich zur Seite. Bennett hatte recht. Er hatte Glück gehabt. Ein wahrer Ritter hätte die Gelegenheit besser genutzt und sich von der Vernichtung des Kriegsherrn überzeugt.

»Ich weiß, was du denkst, Huma. Laß es. Du bist ebenso ein Ritter wie dieser Bennett und seine Schoßhündchen. Mehr als das. Du hast nicht den Blick für die Tatsachen verloren.« Rennard verfiel in ein unangenehmes Schweigen, als Huma sich wieder zu ihm umdrehte.

»Wann werden sie mich aufstehen lassen?«

»Wenn du soweit bist, nicht eher. Es warten mehr als genug Leute auf dich, wenn du gesund bist.«

»Fürst Oswal – läßt er mir etwas ausrichten?« Huma zitterte etwas beklommen. Der ältere Ritter war wie der Vater, den Huma nie gekannt hatte.

Rennard stand auf und setzte den Helm wieder auf. Er nickte. »Der Oberste Kommandant wünscht dir die denkbar beste und schnellste Genesung. Er sagt, er hat noch immer allergrößtes Vertrauen in deine Fähigkeiten.«

So drückte der Oberste Kommandant aus, wie stolz er auf Huma war. Das war seltener Balsam für das Selbstvertrauen des jungen Ritters.

»Schlaf gut, Huma. Ich werde dich besuchen, wenn ich wieder Zeit habe.«

Rennard ging und überließ Huma seinen Gedanken. Und der fragte sich, ob er wirklich jemals ein solcher Ritter sein würde wie Bennett, Fürst Oswal oder Rennard. Er dachte an den Kriegsherrn Krynus und überlegte, ob diese finstere Gestalt sich wohl persönlich an einer so unwichtigen Person wie Huma rächen wollte.

Von außen stieß etwas leise an die Zeltwand. Kein Pferd, eher ein Hund. Ein leichter Gestank drang ihm in die Nase. Er hörte etwas an der Wand kratzen, als wollte es ihre Dicke testen. Das Licht des grauen Tages gestattete Huma nur einen vagen Blick auf das Etwas.

Ein Kleriker der Mishakal betrat das Zelt, um den Zustand der Verwundeten zu kontrollieren. Der Abdruck der Gestalt auf der anderen Seite der Zeltwand huschte davon, trotz der abrupten Bewegung fast lautlos. Der Gestank verzog sich schnell.

»Kleriker?«

Allein die Gegenwart des alten Klerikers tat Huma gut. Der Mann war klein und etwas rundlich. Er konnte nicht mehr als zwei Dutzend Haare auf dem ganzen Kopf haben.

»Ich bin Broderin. Kann ich dir helfen?«

Huma dachte sorgfältig nach, bevor er sprach. »Sind – gibt es Wölfe in der Nähe des Lagers? Wölfe oder große Hunde?«

Broderin zuckte zusammen, als würde er ein großes Untier erwarten, das durch die Zeltplanen hereinsprang. Dann faßte er sich wieder. »Wölfe? Hunde? Vielleicht gibt es ein paar Hunde, aber nicht hier in der Nähe. Was Wölfe angeht…« Der Kleriker lachte nervös. »Ein Wolf zwischen Paladins Rittern? Das glaube ich nicht. Es gibt keine Wölfe außer denen auf der anderen Seite des Feldes, mein Sohn. Bedauerlicherweise sind die meisten von ihnen intelligent. Warum fragst du?«

»Ich dachte, ich hätte einen gesehen.«

Das schien den alten Mann wieder in Schrecken zu versetzen. Obwohl seine Stimme eher gelassen klang, schossen seine Augen hin und her, als ob er überall Wölfe sähe. »Du mußt dich getäuscht haben, mein Sohn, oder vielleicht leidest du auf Grund deiner Wunden an Wahnvorstellungen. Ja, das muß es sein.«

»Bist du sicher?« Es hatte sehr echt ausgesehen.

»Ich werde jemanden nachsehen lassen. Vielleicht ein streunender Hund, der irgendwo weggelaufen ist. So was ist immer möglich.« Der Kleriker drehte sich zu einem anderen Verwundeten um, womit der ihm bedeutete, daß das Gespräch zu Ende war, was ihn anbelangte. Huma beobachtete ihn noch einen Moment und schloß dann die Augen.

Sein Schlaf war erholsam und ohne Unterbrechungen, bis auf einen kurzen Traum, in dem ihn ein blasses Wesen durch einen endlosen Wald hetzte. Sein Jäger war immer gerade eben außer Sichtweite, dennoch fast hinter ihm.

Wie bei den meisten Träumen und Alpträumen konnte er sich beim Aufwachen nicht mehr daran erinnern.

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