»Hast du nichts zu sagen?« fragte Rennard. »Wir haben Zeit. Hier schläft alles. Die Wände sind dick. Sie werden unsere Schwerter nicht hören. Ja. Ich denke, wir haben Zeit.«
»Im Namen Paladins, Rennard. Warum!« Huma konnte beinahe das Gesicht erkennen, trotz der Kapuze und der Dunkelheit. Er konnte die Bitterkeit fast fühlen, als Rennard begann.
»Als ich mit Pest im Sterben lag, flehte ich zu Paladin, zu Mishakal, zu allen Göttern des Hauses, mich zu erlösen. Sie taten nichts. Ich siechte dahin, war am Verwesen. Heute erschreckt mein Gesicht viele Leute; es hätte sie noch mehr entsetzt, wenn sie es damals gesehen hätten. Ich hatte mir nämlich die Rote Pest zugezogen.«
Die Rote Pest. Von allen Seuchen, die über die Jahre ausgebrochen waren, war die Rote Pest die schlimmste gewesen. Die Ritterschaft war gezwungen gewesen, ganze Dörfer niederzubrennen, weil nicht einmal die größten Heiler die Krankheit unter Kontrolle halten konnten. Die Opfer siechten dahin, doch jeder Tag war eine Qual, und viele brachten sich um, lange bevor die Krankheit das tat. Der Name stammte von der Röte der Haut, die entstand, wenn die Krankheit das Opfer von innen heraus verbrannte. Es war etwas Fürchterliches, von dem man nur im Flüsterton redete.
»Als ich dann sicher war, daß diese Qualen mich schließlich umbringen würden, bekam ich Besuch – nicht von den Göttern, zu denen ich gebetet hatte, sondern von dem einen Gott, der bereit war, mir den Schmerz zu nehmen – zu einem hohen Preis.« Die Spitze der Klinge hob sich wieder. »Morgion. Nur ihn kümmerten meine Gebete, obwohl ich ihn nie angefleht hatte. Er war bereit, meinen Schmerz zu stillen, mich zu heilen, wenn ich ihm folgen würde. Es war keine schwere Entscheidung, Huma. Ich habe sofort erleichtert eingeschlagen.«
Huma betete, daß etwas passieren würde – Fürst Oswal konnte sich regen, Ritter konnten kommen, um die Ursache der Dunkelheit zu erforschen, irgend etwas –, aber alles blieb ruhig. Wie lange hatte Rennard das geplant? Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet?
Huma hörte mehr, wie die Klinge kam, als daß er sie sah. Der andere Ritter bewegte sich wie geübt in der Finsternis. Doch Huma gelang es wieder und wieder, jeden Hieb abzuwehren, obwohl er wußte, daß Rennard im Zweikampf angeblich jedem überlegen war. Besonders wenn er einem Huma gegenüber stand, der auch noch mit sich selbst kämpfte.
Dann ließ Rennard ebenso plötzlich ab, wie er angegriffen hatte. Er lachte leise. »Sehr gut. Ganz der Vater.«
»Mein Vater?«
Sie hatten sich beim Kampf weiter von den Türen entfernt und standen jetzt da, wo die Kleriker bei ihren Zeremonien standen. Rennard zog die Kapuze zurück, und selbst in der Dunkelheit konnte Huma die blasse, zernarbte Haut sehen. »Vater. Oh, ja. Darum habe ich dich beschützt, weißt du. Das Zeichen von Morgion ist selbst auf einer arglosen Person ein Zeichen, daß demjenigen von keinem Diener Morgions ein Leid geschehen darf.«
Huma erinnerte sich an die Worte der Kultanhänger in den Ruinen. Sie hatten das Zeichen gesehen und darüber gestritten. Skularis hatte den Grund dafür nicht gewußt.
»Was bin ich doch für ein sentimentaler Trottel«, fuhr Rennard fort, »daß ich die Meinen bewahren wollte.«
Die Meinen? Entsetzt schüttelte Huma den Kopf.
»Du gleichst so sehr meinem Bruder, Huma. Durak hieß er, Durak, Fürst von Eldor, einem Land, das bald überrannt wurde, nachdem er und ich uns der Ritterschaft angeschlossen hatten. Außer ein paar armseligen Ruinen ist von Eldor heute nichts mehr übrig. Was soll’s. Im Gegensatz zu Baxtrey, wo Oswal und Trake gemeinsam herrschen, hätte ich nichts geerbt. Als ältester Sohn erbte dein Vater.«
»Hör auf!« Huma hieb gewaltsam auf den Mann ein, der alles verraten hatte, woran er glaubte. Ein Mann, der einst sein Freund gewesen war.
Rennard verteidigte sich mit Leichtigkeit. Nach einigen Minuten ließen sie wieder voneinander ab.
»Ich gehörte schon längst zu Morgion, als unser Vater uns als Knappen nach Burg Vingaard schickte. Von Anfang an habe ich versucht, Durak zu schützen. Er gehörte schließlich zur Familie. Die anderen Gefolgsleute Morgions hätten das vielleicht nicht verstanden, darum pflanzte ich ihm dasselbe unsichtbare Zeichen ein, das dich vor ihnen beschützt. Es sollte nutzlos bleiben. Dein Vater fiel in der Schlacht, als er ein Jahr Ritter war. Er blieb mit einer Handvoll Getreuer zurück, um einen Paß durch die Berge im Osten von Hylo zu halten, den einzigen Paß, durch den die Armeen der Königin von hinten angreifen konnten. Wir anderen ritten weiter, um die Hauptarmee zu warnen. Ich konnte nichts machen. Ironie des Schicksals, nicht wahr? In diesem letzten Moment wollte ich ihm die Wahrheit über mich sagen, aber das durfte ich natürlich nicht. Damals wußte ich nicht, daß er Frau und Sohn zurückließ.«
Huma bebte. Ein Teil von ihm wollte unbedingt die Geschichte hören; ein anderer Teil schrak davor zurück.
»Frag Fürst Oswal irgendwann mal nach Durak – wenn du ihn auf der anderen Seite triffst!« Rennard griff an und erwischte den gepeinigten Ritter in einem Moment der Unaufmerksamkeit. Sie rangen miteinander. Huma merkte, daß er in ein Gesicht starrte, das vom Wahnsinn verzerrt war. Verschwunden war die gefühllose Fassade, über die er sich immer gewundert hatte, hinter der Rennard seinen Verrat verborgen hatte. Es gelang Huma, den anderen Ritter wegzustoßen.
»Wie war noch ihr Name, Neffe? Karina? Ich habe sie nur einmal gesehen, Jahre später, als ich endlich das Dorf fand, das er vor seinem Tod immer aufgesucht hatte. Sie war eine schöne Frau – weizenblondes Haar, elfisches Gesicht, schlank –, eine Frau voller Leben. Ich wollte ihr den Hof machen, bis ich dich sah – ganz Durak, obwohl du noch ein Junge warst. Da wußte ich, daß sie mich durchschauen würde. Warum hatte ich Idiot an etwas anderes als an mein Versprechen gegenüber meinem wahren Herrn gedacht?« Rennards Schwert sauste durch die Luft auf Huma herab. Der junge Ritter rollte sich zur Seite und landete auf den Knien.
»Du hast sie umgebracht, nicht wahr?« Humas Stimme war kalt und tonlos, als er die Tage der tödlichen Krankheit seiner Mutter wieder vor sich sah, die scheinbar aus dem Nichts gekommen war.
»Du solltest mir dankbar sein. Ich dachte nur an dich. Ich wollte dich zu dem Ritter machen, der Durak gewesen war. Ich dachte, ich könnte dir die Wahrheit vorenthalten.«
»Der Traum. Ich hatte einen Traum über deinen verruchten Gott.«
»Ich dachte, ich könnte dich auf meine Seite ziehen, dich zu einem Kameraden machen und uns das hier ersparen.«
»Beim Platindrachen, was geht hier vor?«
Beide Gegner blieben wie angewurzelt stehen, als Licht in den Raum strömte. Bennett stand in der Tür, flankiert von zwei seiner Gefährten vom Orden des Schwertes. Ein rascher Blick zeigte, daß Rennard seinen Fehler erkannt hatte. Bennett mußte sich aus eigenem Antrieb hingelegt oder sich abgesondert haben, und Rennard war es nicht gelungen, ihn ebenso zu bezaubern wie all die arglosen anderen.
»Rennard? Huma?« Was für Fehler er auch haben mochte, der Sohn des alten Großmeisters war nicht schwer von Begriff. Er nahm die Szene wahr, erblickte den zerrissenen Kapuzenmantel über Rennards Rüstung und wußte, zu welcher Seite der Ritter gehörte.
Bennett zückte sein Schwert und richtete es auf den Verräter. »Er gehört mir!«
»Wie schnell doch das bißchen Würde den erbärmlichen Gefühlen weicht«, stellte Rennard trocken fest. Ohne ein weiteres Wort führte er einen wilden Hieb in Humas Richtung – der auswich – und sprang über die Tempelbänke.
»Er kann nirgends hin!« Bennetts Ähnlichkeit mit einem Raubvogel war jetzt noch deutlicher. Seine Augen waren weit aufgerissen und brannten schrecklich, doch sie nahmen jede Bewegung wahr, sahen jeden Winkel. Seine Bewegungen waren fließend und genau bemessen. Bennett war ein Habicht, der sich gleich auf seine Beute stürzen würde. Jetzt trieb er Rennard in die Enge.
Doch Rennard trat in die Schatten der Wand – und schlüpfte hindurch. Huma war vor den anderen an der Wand und betastete den Platz. Er glaubte nicht, daß Rennard durch Zauberei entkommen war wie einst Magus. Nein, da könnte – ja! Humas Finger fanden eine kleine Kerbe, und die Wand ging plötzlich auf, um ihn aufzunehmen. Hinter sich konnte er Bennett nach den anderen beiden rufen hören, dann schloß die Wand sich wieder. Huma hatte keine Zeit, auf sie zu warten.
Wo wollte Rennard hin?
Die schnellen Schritte des älteren Kriegers waren kaum noch zu hören. Sie führten nach oben. Was hoffte Rennard dort zu finden?
Es war keine alte Geheimtreppe, wie Huma zunächst gedacht hatte, denn auf seinem Weg zum nächsten Stock kam er an zwei Fenstern vorbei. Die Treppe endete an einer Falltür in der Decke. Vorsichtig griff er hoch und stieß sie auf. In der anderen Hand hielt er sein Schwert stoßbereit. Wind und Regen strömten ihm entgegen.
Der erwartete Angriff fand nicht statt.
Schritte hinter ihm erinnerten ihn an Bennett und seine zwei Gefährten. Huma wollte nicht, daß sie Rennard stellten. Das war seine Sache. Langsam kletterte Huma hinaus in den Regen.
Das Dach war leer. Es gab kein Versteck, nichts, wohin man fliehen konnte. Der Ritter ging zum nächsten Dachrand und sah hinunter. Unten begannen sich Ritter zu versammeln; Bennett hatte Alarm geschlagen.
Der erste von Bennetts Begleitern zog sich aufs Dach. »Wo ist er? Hast du ihn erwischt?«
Huma schüttelte den Kopf. Wo war Rennard? Die eben Angekommenen untersuchten gleichfalls das Dach, konnten jedoch keine Spur finden. Rennard war einfach verschwunden.
Bennett weigerte sich, das zu glauben. Die Ritter durchsuchten alle umstehenden Gebäude und, nachdem das nichts ergeben hatte, auch den Rest der Burg. Rennards Habseligkeiten wurden untersucht, doch sie gaben kaum Hinweise.
Die Kleriker waren zu Fürst Oswal geeilt, sobald sie von dem Anschlag erfahren hatten. Zu ihrem Erstaunen schien er auf dem Wege der Besserung zu sein. Wie einer der Kleriker Huma, Bennett und den anderen Anwesenden erklärte, wehrte sich Fürst Oswals Körper gegen die Wirkung der Dosis, die Rennard ihm zuvor verabreicht hatte – darum hatte der Mörder ihm eine weitere Dosis verpassen wollen, bevor sich der Oberste Kommandant erholte.
Als die Ritter ausschwärmten, einige, um weiter nach dem Verräter zu suchen, andere zu ihren jeweiligen Aufgaben, spürte Huma eine Hand auf seiner Schulter. Er zuckte zusammen, denn sein erster Gedanke war, daß Rennard gekommen war, um ihn endgültig zu erledigen. Die Gestalt hinter ihm sprach:
»Ich bin’s, Bennett.«
Huma drehte sich langsam um, und die beiden sahen sich an. Oswals Neffe schien eine Menge Gefühle gleichzeitig zu bekämpfen, denn auf seinem Gesicht zeichnete sich Scham, Zorn und Verwirrung ab. Schließlich streckte er die Hand aus.
»Danke für alles, was du getan hast.«
Aus Unsicherheit, wie er reagieren sollte, nahm Huma einfach die Hand und drückte sie. »Es ist mir nicht gelungen, den Mörder deines Vaters zu erwischen.«
Bennett zwang sein Gesicht zu einer unbeweglichen Miene. Huma wußte, daß der andere Ritter sehr befangen war. »Du hast ihn entlarvt. Du hast meinen Onkel gerettet. Sogar – sogar den gemeinen Verräter aufgehalten, was ich nie geschafft hätte.«
Der Ritter mit dem Habichtgesicht salutierte rasch, um dann zu verschwinden. Huma sah ihm nach, und ein leises Lächeln spielte um seine Lippen, bevor auch er sich umdrehte und ging, um vielleicht eine Spur von Rennard zu entdecken.
Es überraschte niemanden, daß zwei Tage später Fürst Oswal der neue Großmeister wurde. Er hatte sich vor dieser Entscheidung isoliert und nur mit den Ratsmitgliedern gesprochen. Jede mögliche Gegnerschaft seitens Bennett war verschwunden; statt dessen ersuchte der Neffe des neuen Großmeisters darum, in den Orden der Rose aufsteigen zu dürfen. Mit aller Wahrscheinlichkeit würde er zugelassen werden. Es war auch wahrscheinlich, daß er schon bald selbst die Abzeichen des Obersten Kommandanten tragen würde.
Huma kämpfte die zwei Tage darum, vorgelassen zu werden. Als ihm schließlich eine Audienz mit Fürst Oswal gewährt wurde, zitterte Huma sichtlich. Für ihn war der Großmeister jemand, der fast so verehrungswürdig war wie Paladin, denn er war schließlich die lebende Verkörperung aller Bestrebungen des Triumvirats.
Als Huma demütig so da kniete, drang ein seltsames Geräusch in seine Ohren, und er wagte es aufzublicken. Flankiert von einer eindrucksvollen Ehrengarde aus Veteranen der drei Orden saß der Großmeister lachend auf seinem Thron.
»Steh auf, Huma. Du brauchst mir deine Aufwartung nicht zu machen. Nicht jetzt.«
Huma erhob sich und kam näher. »Großmeister – «
Ein Seufzer. »Wenn du schon förmlich sein mußt, dann sag Fürst Oswal. Ich bin nicht so eingebildet wie mein Bruder – noch nicht.«
»Fürst Oswal, bevor ich anfange, erzählt mir von Durak von Eldor.«
»Durak? Ich kannte zwei oder drei dieses Namens. Eldor… Ich weiß nicht – «
»Bitte. Ihr wißt, wen ich meine. Rennards Bruder. Mein – Vater.«
Der neue Großmeister starrte ihn mit offenem Mund an. »Vater? Durak? Dann ist Rennard – «
»Mein Onkel.« Huma zwang sich, das bittere Wort auszusprechen.
»Paladin!« Fürst Oswals Stimme war nur noch ein Flüsterton. »Huma, das tut mir wirklich leid.«
»Sir. Mein Vater?«
Der Großmeister wischte sich etwas aus dem Auge. »Es tut mir leid, Huma. Ich wünschte, ich könnte dir alles erzählen, aber ich kann mich nicht an viel erinnern. Durak war ein guter Ritter, wenn auch etwas übereifrig. Er kämpfte hervorragend, ein geborener Krieger, der neue Waffen so leicht erlernte, wie ich ein Messer nehme. Ich weiß noch, daß er viel Zeit im Westen verbrachte, aber mir war nie klar, daß er dort eine Familie hatte. Ich erinnere mich jedoch daran«, sagte Oswal, wobei er sich übers Kinn strich, »daß er uns etwas zurief, als wir ihn und die anderen am Paß zurückließen. Jetzt verstehe ich, was er meinte. Als er sagte ›Paß auf sie auf‹, dachte ich, er meinte die Männer. Wie dumm! Er meinte seine Familie, und nur Rennard wußte das.«
Der Großmeister wußte darüber hinaus wenig zu erzählen, was Huma enttäuschte, obwohl er es nicht zeigte. Es war Oswal, der die lastende Stille brach, indem er sagte: »Du hast meine Erlaubnis, nach Ergod zu deinen Bergen aufzubrechen. Wie viele Ritter sollen dich begleiten?«
»Keiner.«
»Keiner?« Der Großmeister lehnte sich nach vorn. »Wie du selbst erwähnt hast, geht es um eine Sache von äußerster Tragweite. Ich will, daß du erfolgreich bist. Paladin hat geruht, uns diese Chance zu geben, und ich werde dich keinen unnötigen Risiken aussetzen.«
»Was Paladin will, kann nur ich allein erfüllen«, entgegnete Huma. »Das weiß ich jetzt. Ich kann es nicht erklären. Ich fühle einfach, daß es so ist.«
Oswal lehnte sich seufzend zurück. »Du sprichst mit tiefer Überzeugung. Mein Kopf sagt, daß du einen Fehler machst, aber mein Herz hört dir zu. Ich glaube, ich werde in dieser Sache meinem Herzen folgen, denn dort beginnt der Glaube.«
»Danke, mein Fürst.«
Fürst Oswal stand auf. Huma folgte seinem Beispiel. Der Großmeister legte Huma die Hände auf die Schultern. »Ganz gleich, woher du stammst und wer deine Eltern waren: Ich werde dich immer als meinen Sohn ansehen.«
Sie umarmten einander kurz, bis Oswal losließ. »Geh. Raus, bevor ich noch sentimentaler werde, als ich schon bin.«
Es waren nur wenige Ritter im Hof, als Huma fortritt. So hatte er es sich gewünscht. Es würde die Abreise zumindest für ihn leichter machen. Ein Teil von ihm kam sich vor, als würde er davonlaufen. Er hätte in Burg Vingaard bleiben sollen, bis Rennard gefunden und bestraft war. Doch Huma wollte nicht mehr an der Hetzjagd nach dem flüchtigen Ritter teilhaben. Er hatte Rennard viel zu lange gekannt, um ihre Freundschaft einfach zu vergessen.
Eine Gestalt nahm er auf der Mauer wahr. Bennett stand hinter den Zinnen und ließ seinen Blick schweifen. Der Neffe des Großmeisters suchte immer noch nach dem Mörder seines Vaters. Die Durchsuchung von Rennards Sachen hatte alte Pläne der Burg zutage gefördert, die man längst verloren geglaubt hatte. Sie zeigten auch zwei Gänge im Tempel, von denen nicht einmal die Kleriker gewußt hatten.
Der strenge Bennett wendete seinen Blick von den Ländereien um Vingaard ab und entdeckte Huma. Er nickte langsam, dann drehte er sich wieder um. Das war alles.
Humas Weg führte ihn durch ein weiteres, halbverfallenes Dorf. Er war eine Stunde geritten. Zweimal hatte Huma Ritterpatrouillen getroffen und hatte beiden erzählt, daß in Burg Vingaard vergeblich nach dem verräterischen Rennard gesucht wurde.
Die Bewohner dieses speziellen Dorfes sahen den einsamen Ritter mit anderen Augen an als in den Dörfern davor. In jeder ihrer Bewegungen lag Spannung und große Angst, als ob sie erwarteten, daß die Drachenkönigin jeden Moment persönlich vom Himmel herabstürzen würde. Langsam begannen sie Huma und sein Pferd einzukreisen.
Das Streitroß verlangsamte nervös seinen Schritt und schnaubte, als es die möglichen Feinde anstarrte. Huma straffte die Zügel, um das Tier wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er wollte nicht das Blut unschuldiger Bauern an den Händen haben.
Bald konnte das Pferd nicht mehr weiter, so eng hatte die kleine Menge es umschlossen. Huma begann die ängstlich gestammelten Fragen zu verstehen, die sich um die Ereignisse in der Burg drehten.
Eine schmierige, knochige Hand berührte sein rechtes Bein. Eine belegte Stimme fragte: »Ist es wahr? Hat man den Großmeister umgebracht? Sind wir nicht mehr sicher?«
»Ich habe gehört, daß der Rat sich ergeben will!« rief eine Stimme, die der Ritter nicht zuordnen konnte.
Dieser Ausruf verstärkte die Besorgnis der Dorfbewohner. Sie drängten noch näher heran, ohne auf die Gefahr zu achten, die die Hufe des trainierten Streitrosses für sie darstellten. Huma versuchte, sie wegzuscheuchen.
»Beiseite! Laßt mich durch! Sonst wird das Pferd euch noch verletzen!«
»Er flieht!« keifte dieselbe Stimme. »Die Ritter sind verloren!«
»Wir sind alle verloren!« heulte eine alte Frau. Sie wurde ohnmächtig und verlor sich zwischen den drängenden Körpern.
»Ihr könnt uns nicht im Stich lassen!«
»Du versuchst, deine eigene Haut zu retten!«
»Zurück!« Zornige und verwirrte Gesichter zogen an Huma vorbei. Hände griffen nach ihm. Das Pferd keilte aus und bäumte sich auf. Diejenigen vor seinem Pferd kamen wieder zur Vernunft und wollten weglaufen. Doch die hinter ihnen drängten weiter vor.
Ein älterer Mann fiel hin. Es gelang dem Ritter, sein Pferd zu beruhigen. Dann versuchte er, sich einen Weg zu bahnen, damit er dem Alten helfen konnte.
»Er hat uns alle verraten! Er hat den Alten niedergestreckt! Ergreift ihn!«
Hagere, zerlumpte Gestalten stürzten sich auf Huma. Er zog sein Schwert und bedrohte sie damit. Die Dörfler wichen zurück, waren jedoch nicht bereit aufzugeben. Schließlich befürchteten sie, daß die Ritter von Solamnia sie der Drachenkönigin überließen.
Diesmal konnte Huma den Aufrührer ausmachen, der etwas abseits stand und wie ein einfacher Bauer gekleidet war. Der Mann versuchte gar nicht erst, davonzurennen, als er bemerkte, daß er entdeckt war. Statt dessen zog er sein Breitschwert und enthüllte erneut das Gesicht des Bösen.
Huma lenkte sein Pferd durch die Menge, trieb die Menschen mit dem Schwert zurück und dankte Paladin, daß es noch niemand gewagt hatte zuzuschlagen. Weniger als sechs Fuß vor der Gestalt zügelte er sein Pferd.
»Bennett vermutet dich immer noch in der Burg.«
Rennard lächelte kurz. »Da war ich auch bis zur offiziellen Ernennung von Fürst Oswal. Dann kam ich her, um ihnen die Nachricht zu bringen.«
Huma sprang vom Pferd, ohne die Augen von seinem Onkel zu wenden oder sein Schwert zu ziehen. »Um Furcht in ihre Herzen zu säen, meinst du wohl. Um ihr Vertrauen zu brechen, damit wir uns selbst bekämpfen.«
»Das ist – meine Aufgabe. Aber nicht nur hier. In allen Dörfern dieser Gegend. Ich habe seit gestern nicht geruht.«
»Sie haben deine Geheimgänge doch noch gefunden.«
»Ich weiß. Ich habe die Karten absichtlich zurückgelassen. Ich brauchte sie nicht mehr.«
»Das ist Wahnsinn, Onkel.«
»Onkel. Ich dachte nie, daß du dieses Wort einmal aussprechen würdest. Ja, es ist Wahnsinn. Die ganze Welt ist wahnsinnig. Ich versuche, dagegen zu arbeiten.« Rennard zeigte auf die Dorfbewohner und redete so leise, daß sie ihn nicht verstehen konnten. »Die Angst wird sich ausbreiten. In ihrer Verzweiflung werden sie zur Burg marschieren, und die Ritterschaft wird gezwungen sein, sie davonzujagen, was zumindest ein paar Menschenleben kosten wird. Die großartigen Ritter von Solamnia werden sowohl traurige Berühmtheit erlangen, als auch einen schrecklichen Schlag gegen ihre Moral erleiden. Ich muß dir das nicht weiter ausmalen.«
»Du hast das alles geplant.«
»Natürlich. Ich hätte den gesamten Rat umbringen können, aber das hätte die Ritterschaft nur noch mehr zusammengeschweißt. Deshalb habe ich die umliegenden Gebiete bereist und in Verkleidung den Pöbel aufgehetzt.« Rennard richtete sich auf. »Meine letzte Pflicht bist du, Huma. Ich wußte, daß du diesen Weg wählen würdest. Ich kann dir nicht erlauben, in diese Höhle zurückzukehren. Vielleicht ist es Irrsinn deinerseits, aber das glaube ich nicht. Ich darf es nicht riskieren, einen Fehler zu machen.«
Mit einem Schwung hob er sein Schwert. Huma wehrte den Schlag ab. Die Dorfbewohner wichen zurück, als die beiden Ritter kämpften, doch die abscheulich erwartungsvollen Blicke der Menschen verrieten Huma, daß sie darauf warteten, einen der Ritter sterben zu sehen. So vollständig waren sie Rennards Geschöpfe geworden.
Der hagere Ritter holte aus und gab sich damit eine Blöße. Rennards rasche Reaktion ließ ihn einen Teil des Hiebes abfangen, aber dennoch traf ihn Humas Klinge und riß ein tiefes Loch in die Kleider des Verräters. Das Schwert prallte jedoch von einer festen Oberfläche unter Rennards Tunika ab. Über sein Gesicht huschte kurz ein wissendes Lächeln. Unter dem Rock trug er noch immer seine Rüstung.
Ihre Klingen trafen wieder und wieder aufeinander, während sie sich durch das regennasse Dorf kämpften. Die Menschenmauer um sie herum bog und drehte sich, doch sie gab keine Lücke frei. Huma fragte sich, was mit ihm geschehen würde, wenn er Rennard besiegte. Die Dörfler konnten durchaus über ihn herfallen.
»Sehr gut!« zischte Rennard. »Ich habe dich gut trainiert!«
»Gut genug.« Huma sagte nichts weiter. Er wußte, daß er jedes bißchen Kraft brauchte, weil Rennard seinen ganzen Wahnsinn auslebte und mit beängstigender Wildheit focht.
Als Rennards Schwert an Humas Hals vorbeifuhr, rutschte dieser im Matsch aus. Der Verräter stürzte ebenfalls, so daß Huma ihn am Bein erwischen konnte. Rennard schrie nicht auf, obwohl sein Bein fast augenblicklich blutüberströmt war. Er hinkte von Huma fort.
Wieder wandten sie sich einander zu. Huma war am Rande der Erschöpfung, während Rennard durch die schreckliche Wunde an seinem rechten Bein geschwächt wurde. Humas Klinge hatte knapp die Sehnen und Muskeln verpaßt, was Rennard sein Bein gekostet hätte.
»Gib auf, Rennard. Du bekommst einen fairen Prozeß, das schwöre ich.«
Der blasse Ritter wirkte mitgenommener als sonst. »Das glaube ich nicht. Ein Verräter wie ich, der einen Großmeister und fast noch den nächsten getötet hat, kann von der Ritterschaft kaum Gerechtigkeit erwarten.«
Huma wußte, daß seine Kraft zurückkommen würde, je länger sie redeten, während Rennard immer mehr Blut verlor. Schon jetzt fiel es ihm schwer, stehenzubleiben.
»Komm, Neffe. Laß es uns zu Ende bringen.« Mit erstaunlicher Energie griff Rennard Huma an und attackierte ihn immer wieder. Huma hielt stand und ging dann allmählich zum Gegenangriff über. Rennards Gesicht verschwamm, denn alles geschah fast automatisch, und die Lehrstunden – ironischerweise Rennards Stunden – ermöglichten es Huma, jeden einzelnen Hieb abzufangen.
Ein Ausfall durchbrach Rennards Verteidigung. Huma erwischte ihn am Schwertarm, so daß der Verräter fast seine Waffe fallen gelassen hätte, als der verletzte Arm einen Augenblick unkontrolliert zuckte. Er konnte sich nicht verteidigen, und Humas Klinge stand direkt vor seinem Gesicht.
Beide waren schlammverkrustet. Rennard hatte den Wahnsinn abgeschüttelt, der von ihm Besitz ergriffen hatte, und schien jetzt zu merken, daß er verloren hatte. Huma war besser als er; Rennards Augen verrieten diese Erkenntnis, obwohl sein Gesicht keine Regung verriet. Alles, was Rennard jetzt noch konnte, war, den tödlichen Schlag abzuwehren.
Wieder durchbrach Huma die Deckung seines Onkels, und plötzlich schwankte Rennard auf zwei stark blutenden Beinen.
Er sank auf die Knie.
Das löste den Bann. Huma sah auf Rennard hinunter, dessen Lebenssaft sich mit dem Dreck vermischte. Abscheu zeichnete sich auf Humas Gesicht ab.
»Es ist aus, Rennard. Ich werde dich nicht töten. Das würde dir nicht helfen.«
Rennard versuchte aufzustehen. Auf einem Knie wartete er, das Schwert auf Schulterhöhe verteidigungsbereit erhoben.
»Ich werde nicht zurückkehren, Huma. Ich werde nicht die Farce eines Prozesses über mich ergehen lassen.«
Huma senkte sein Schwert. »Laß mich dir helfen. Du warst schließlich ein guter Ritter. Einer der besten.«
Das Lachen, das Rennard zur Antwort gab, wurde zu einem würgenden Husten. Der Kultanhänger wäre um ein Haar vornüber gekippt. »Begreifst du es nicht? Ich bin nie ein Ritter gewesen! Seit jenem Tag liegt mein Leben in den Händen eines anderen Gottes, und selbst den habe ich enttäuscht. Schau mich an!« Rennard lächelte schwach, und Huma bemerkte zu seinem Entsetzen, daß die bleiche Haut seines einstigen Gefährten allmählich scharlachrot wurde. »Die Belohnung für mein Versagen. Ich bin nie wirklich geheilt worden. Ich habe nur immer für einen weiteren Tag gelebt.«
»Rennard. Es wird eine Patrouille vorbeikommen. Sie können einen Kleriker holen.«
»Kein Kleriker wird mich anrühren.«
Welchen Zauber oder Alptraum der ehemalige Ritter auch über den Ort gelegt hatte, jetzt war er verflogen, denn die Menschen kreischten und schrien bei diesem Anblick der schlimmsten Form der Pest. Innerhalb von Sekunden standen die beiden Ritter alleine da.
»Rennard – «
Dem anderen Ritter fiel mittlerweile sogar das Sprechen schwer. Die Pest fraß sich durch seinen Körper.
»Komm mir nicht zu nahe, Huma. Sie wird durch Berührung weitergegeben.« Rennard lächelte. »Wenn es zu Ende ist, wird nichts mehr übrig sein. Sie können von Glück sagen, wenn sie mehr als meine Hülle finden.«
Wo war eine Patrouille? Gequält suchte Huma den Horizont ab.
»Was es auch wert ist, Neffe«, stammelte die sterbende Gestalt, »ich hoffe, du findest, was du suchst. Vielleicht gibt es noch eine Chance.«
Da! Huma entdeckte Reiter in der Ferne. Sie waren jedoch zu langsam. Viel zu langsam.
»Huma…«
Der junge Ritter sah hinunter. Rennards Gesicht verzog sich „vor Schmerz. »Bete zu Paladin, Rennard! Es kommt eine Patrouille. Wenn ich ihnen erkläre – «
»Es gibt nichts zu erklären, außer daß sie meinen Körper an Ort und Stelle verbrennen müssen.« Rennard richtete sich auf und umklammerte mit beiden Händen das Heft seines Breitschwerts, um es besser halten zu können.
Mit einer Geschwindigkeit, die seinen Zustand Lügen strafte, zog sich Rennard die Klinge durch den Hals.
»Nein!« Nur das Bewußtsein, daß er sich mit der Pest anstecken würde, bewahrte Huma davor, der zerlumpten Gestalt das Schwert zu entreißen. Es war zu spät. Kein Kleriker konnte eine solche Wunde rechtzeitig verbinden.
Rennards schlaffe Hand ließ das Schwert fallen, das im Schlamm versank. Rennards lebloser Körper brach darüber zusammen. Huma ließ seine eigene Waffe fallen und sank auf die Knie.
»Nein.« Seine Stimme war nur mehr ein Flüstern. Huma legte sich die Hände vors Gesicht und ließ seinen Gefühlen freien Lauf. In der Ferne hörte er das Getrappel vieler Pferde. Dann war alles still.